99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich wichtige Produktionen aus der nun hundertjährigen Hörspielgeschichte vorstellen und übergreifende Zusammenhänge klären.

Wer sich weiter in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage Quellenangaben, detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

Höhere Komik …

… nebst etwas Theorie dazu

Der Anteil der Komödien an der gesamten Hörspielproduktion ist seit langer Zeit bei Weitem nicht mehr so hoch wie Mitte der zwanziger Jahre. Dennoch bildet das Genre bis heute einen beträchtlichen Anteil des unterhaltenden Segments der Produktion. Ein rares Gut sind Hörspiel-Komödien von hoher Qualität – ganz in Entsprechung zu literarischen Vorbildern wie etwa «Minna von Barnhelm», «Der zerbrochene Krug» oder «Der Hauptmann von Köpenick». Der Fokus dieses Artikels liegt auf «höherer», das heisst sublimer Komik, die sich von der Art schwankhafter Lachkomödien deutlich unterscheidet und sich oft nur situativ und im Charakter einzelner Figuren, gelegentlich auch heute noch im glücklichen Ausgang der Handlung äussert. Seit Frisch und Dürrenmatt ist aber Letzteres nicht mehr selbstverständlich.

Die verwirrende Viel­falt der Formen macht an dieser Stelle einige Vorüberle­gungen zur Theorie von Komik und Komö­die erforderlich. Die Komödie bewegt sich nach der Darstellung von Walter Hinck seit Ari­stophanes «auf einem Grat, zu dessen einer Seite das Gebiet der Satire und zu dessen anderer Seite das der Utopie liegt.»1 Der Begriff «Satire» wird hier nicht als literarischer Gattungsbegriff, sondern als Bezeich­nung für eine «künstlerische Methode der kritischen Erfassung von Wirk­lichkeit»2 verwendet, die in diversen Gattungen, vornehmlich aber in der Komödie auf­tritt. Hinck greift auf Schillers Bestimmung zurück, wo­nach in der Satire «die Wirk­lichkeit als Mangel dem Ideal als der höch­sten Realität gegenübergestellt» wird.3 Ersetzt man Schillers Begriff des Ideals durch jenen der Utopie, so wird das Verhältnis wechsel­seiti­ger Bedingung evident, in welchem Satire und Utopie zueinander stehen. Auch in Urs Widmers Begriffs­paar des «Normalen» und der «Sehnsucht» drückt sich dieses Ver­hältnis aus.4 Mittel der Satire können prinzipiell alle For­men des Komischen, also etwa Charakter- und Situationskomik, Witz, Ironie, Groteske, Par­odie und andere mehr, sein.5

Komödienkomik beruht auf der «lächerlichen Ver­fehlung einer Norm». Diese kann Teil eines beste­henden sozialen Systems oder eines nicht-existieren­den, utopischen Systems sein.6 Es wäre also als Erstes zu prüfen, wel­che dieser beiden Möglichkeiten ein Hörspiel zur Erzie­lung komischer Wir­kungen nutzt. Die besondere Schwie­rigkeit der «utopischen Komödie» besteht darin, dass in ihr zugleich transzendierende Normen gesetzt und verletzt werden. In einem solchen Fall müsste geklärt werden, in welchem Mass die Utopie als Ganzes durch die sati­ri­schen Intentionen in Frage gestellt wird. Dies entscheidet sich vor allem in der Art des Aus­gangs. Der Komö­dien­schluss ist es, «der gegen alle satirischen Widerstände das Utopische ret­tet.»7 Das Happy-End fand, obwohl seit einiger Zeit in Verruf gera­ten, neuerdings einen Verfechter in Ernst Bloch, der das «Prinzip Hoff­nung» zu seiner Rechtfertigung heranzog. In Opposition zum faulen Opti­mismus, wie er sich etwa in der Boulevardkomödie im obligaten Finale der Hochzeiten äussern kann, beharrt Bloch auf der im menschlichen Glückstrieb angelegten Hoffnung auf das gute Ende, die nach seiner Überzeugung «alle­mal ein Motor der Geschichte» war.8 Hinck zeigt in seinem Essay «Vom Ausgang der Komödie», wie die Chan­cen für den glücklichen Schluss sich im Lauf der letzten Jahrhunderte kontinuierlich ver­schlech­tert haben. Am Ende der Entwicklung steht die Drama­turgie Dürrenmatts, die für den Verlauf der Komödien­handlung die «schlimmstmögliche Wendung» for­dert.9 Dies gilt auch für seine Hörspiele.

Nicht jede Art von Komik ist für satirische Wirkungen geeignet. Satire zielt auf Kritik und Veränderung ab. Sie ist auf sublimierte Weise aggres­siv und kämpfe­risch. Ihrer unversöhn­lichen Intention steht die «ausglei­chen­de, ver­söhnliche Tendenz des Hu­mors» entgegen10, der es nach Max Frisch «auf der Bühne besonders schwer» hat: «der Humor ist intim, und die Bühne ist das Ge­genteil der Intimität.»11 Anders verhält es sich mit der «inneren Bühne» des Worthörspiels, deren Intimität dem Humor durchaus zur Entfaltung verhelfen kann. Satire und Humor sind die bei­den Pole, in deren Span­nungs­feld sich seit jeher die Komödie bewegt. Von der Art der Komö­dienkomik hängt ab, bis zu welchem Grad Satire und Utopie, die immer im Verbund miteinander auf­treten, sich behaupten können oder behindert bzw. zunichte gemacht werden. In den Artikeln, die der Hörspiel-Komödie gewidmet sind, wäre also nach Funktion und Wirkung der Komik im Ver­lauf der Komödien­hand­lung zu fra­gen.12

Eine «gute Fee» auf Besuch in Lampers

Im Auftrag der Abteilung «Dramatik» entstand «D’Helena vo Lampers. Eine Komödie in berndeut­scher Um­gangsspra­che» (1983) von Beat Ram­seyer. Wie in Jörg Schneiders Kasperlespiel «König Meier de Tuusigscht» (1974) spielt in diesem Hörspiel nebst der Hauptfi­gur ein Kol­lektiv, hier eine Dorfge­meinschaft, eine wichtige Rolle. Mit Walter Eschlers Hörspiel «Der Salpetersieder u sy widerspenstigi Frou» (1966) ist es durch die Hauptfigur, eine in gewissem Sinne «widerspen­stige» junge Frau, verbunden, deren Bedeutung in diesem Fall durch den Titel unterstrichen wird. Von diesen beiden Pro­duk­tio­nen unterschei­det sich Ramseyers Komödie durch einen starken utopischen Grundzug, welcher dem «Prinzip Hoffnung» verpflichtet ist. Komik resultiert hier wesent­lich daraus, dass die Lamperser Bürger sich nur zum Schein solida­risch verhalten und damit eine Norm verfehlen, die kon­ven­tio­nel­les Denken transzendiert und von der Hauptperson Helena ge­setzt wird.

Beat Ramseyer (*1946), Autor der Hörspiel-Komödie «D’Helena vo Lampers»
(Foto: dftg 2008)

Das Spiel beginnt mit der Einfahrt des Zuges auf dem Bahnhof von Lampers – eine äusserliche Gemeinsamkeit mit dem «Besuch der alten Dame» in Güllen. Der Ortsname erinnert eher an Jammers, das mittelländische, durchschnittlich schweizerische Städtchen, wo Otto F. Walters Romane spielen. Helena, die neue Servier­tochter, steigt aus und wird von Susanne, der Wirtin des «Schtärne», abgeholt. Schon während des ersten Gesprächs auf der Fahrt zum Wirtshaus erhält Helena den gutgemeinten Rat, sich vor den Lam­persern am besten von Anfang an in Acht zu nehmen. Helena wird von den Gästen sofort angenommen und bewirkt mit ihrem heiteren, freundlichen Wesen sogar, dass der Umsatz merklich ansteigt. Aus einem Streit des Wirtsehepaars wird aber klar, dass auch diese erfreuliche Wendung den finan­ziellen Ruin nicht abwenden kann: Der bis anhin schlechte Geschäftsgang hat Schulden auflaufen lassen, die nur durch die Ablösung der zweiten Hypothek im Wert von Fr. 50’000.– getilgt werden können. Die Beziehung zwischen den Ehepartnern wird nebst diesen Sorgen durch Eifersucht bela­stet, da Susanne sich gerne zu einem Gläschen mit Karl, dem Chorleiter, genannt «Carusokäru», zusammensetzt. Die übrigen Einwohner des Dorfes sind im Spiel haupt­sächlich durch die Mitglieder des gemischten Chores ver­treten, die in akustisch ergiebigen Szenen beim Proben und beim jeweils anschlies­sen­den Kegeln vor­gestellt werden. Dass der «Schtärne» abgerissen werden soll, da der Wirt die Forde­rungen der Bank nicht erfüllen kann, schlägt unter ihnen wie eine Bombe ein. Auf den Schock folgt eine erste Reaktion: «Wenn dr Schtärne verschwindet, geit das üs au öppis a, ganz Lampers, quasi.» (S.13) Aus den Reihen des gemischten Cho­res bildet sich ein Krisenstab «pro Sternen», der alsbald seine Aktivitäten aufnimmt.

Dass Helena das Problem nicht wie die Lokalgrössen «in globo» (S.14) betrachtet, sondern im ersten Moment an einzelne wie Tobias, das Dorforiginal, denkt, die mit dem «Schtärne» ein für sie besonders wichtiges Stück Geborgenheit verlie­ren würden, wirft ein Schlaglicht auf den Charakter der jungen Frau. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich am liebsten mit Daniel, dem elfjähri­gen blinden Sohn von Franz, dem Präsidenten des gemischten Chors und Be­sitzer des Dorfladens. Sie schafft es spielend, das Selbstvertrauen des Jungen, der von seiner Umgebung zu wenig Anre­gung erhält, zu stärken und ihm sogar seine Angst vor dem Wasser zu nehmen. Von ihm ver­nimmt sie, dass die Leute im Laden über ihr angebliches Verhältnis mit Karl, dem Chordiri­gen­ten, tratschen, und antwortet ihm:

«Weisch Dani, i cha scho uf mi säuber uufpasse, und was d Lüüt rede, isch mir gliich. Uf z Greed söu me nid goo, das isch gfährlecher aus d Scheume und het scho meh Lüüt uf em Gwüsse aus d Pescht!» (S.37)

Als Helena gegenüber Karl äus­sert, sie nehme sich des Jungen einfach gern an, meint dieser: «Uf das chunnts nid aa, z Lampers, was me gärn macht.» (S.28) 

Unterdessen hat das Komitee zur Rettung des «Sternen» erste Schritte unter­nommen. Vor­schläge zur Überreichung einer Petition an die Bank sowie zur Einschaltung des Heimat­schutzes werden erwogen, erweisen sich aber als untauglich. Das Dorf als Ganzes soll bei der Hilfsaktion einbezogen wer­den. Karl äussert scherzhaft den Vorschlag, man könnte Helena, die sich schon als Servier­toch­ter als «ä Guldvogu für e Schtärne» (S.31) erwiesen hat, «ver­steigern». Die Idee wird weiterverfolgt, und man wird sich einig, die «gute Fee von Lampers» (S.26) mitsamt einem Sessel auf einer Balkenwaage mit Fünflibern aufwiegen zu lassen. Ein richtiges Volksfest mit Festhalle, Lunapark, Schiessbuden und allen möglichen Vereinsveranstal­tungen soll dem Anlass das nötige Gewicht verleihen. Für die Organisation stellt sich Franz zur Verfügung, der es sogar fertigbringt, das Fernse­hen für die Sache zu interessieren. Otto, der Gemeindepräsi­dent, erwirkt das Einverständnis des Gemeinderats. Die Lamperser stehen plötz­lich zusam­men wie ein Mann und entwickeln einen Feuer­eifer, zumal seit publik wurde, dass eine Fernsehübertragung stattfinden soll.

Doch es brechen auch Kon­flikte auf, die schon lange unter der Oberfläche geschwelt haben. Susan­ne, die Wirtin, die von Anfang an gegen die «Versteigerung» Stellung bezogen hatte, wendet sich an der letzten Versammlung vor dem Fest massiv gegen das Vor­haben:

«Das ganze Züg isch doch scho lang nümm das, was es eigent­lich hät söue wärde: Ä Rettigsaktion für üs, jede wo so schtosst a däm Chare, gseht doch nume sis Bier, und mir isches z wider, z Deckmän­teli für au das Gschtürm z sii.» (S.49)

Ihr wird per Ord­nungs­antrag das Wort entzogen. Dennoch lässt sich nicht verhindern, dass nun die Diskussion zu einem heiklen Punkt abschweift. Es stellt sich heraus, dass der Gemein­depräsident dem Ladenbesitzer Franz vor zwei Jahren eine Bewil­li­gung zum Verkauf von Bier erteilt hat, obwohl diese bis dato nicht von der Alkoholver­waltung bestä­tigt ist. Auf diese rechtswidrige Konkurrenz führt der Sternenwirt seinen starken Umsatzrück­gang zurück. Ein handfester Streit entsteht des­wegen unter den Mit­glie­dern des Organisations­komitees.

Helena, die bei all diesen Vorbereitungen im Hintergrund steht, serviert am Vortag des Festes Tobias sein Mittagessen. Durch das offene Wirtshaus­fenster sind die Anweisungen des Regis­seurs zu hören, der mit seinem Fern­sehteam die Liveübertragung probt. Tobias vermisst seinen Zweier Roten, doch der Wirt hat verboten, ihm Alkohol auszuschenken. Er war es gewesen, der in einer der Versammlungen den Gemeindepräsiden­ten wegen der «Bier­affäre» angegriffen hatte und von diesem, angeblich wegen Trun­kenheit, aus dem Saal gewiesen wurde. In der fol­genden, der zweitletzten Szene hat der kauzige Einzelgänger seinen ersten verbalen Auftritt im Hörspiel:

«H [Helena]: Hätsch gschiider nüüt gseit, ar Versammlig.
T  [Tobias]:  I säge ar Versammlig, was ig wott, und das isch d Wahrheit.
H: Äbe.
T:  Was äbe?
H: Drum si si äuä so toube worde.
T:  Und du, bisch du ou toube?
H: I bi ömu ke Chue, Tobias!
T:  Wiso losch di de lo verchoufe wi eini?
H: Das verschteisch du äbä nid.
T:  Nei.
H: Mi chouft doch niemer richtig, däm seit me symbolisch.
T:  Mit de Füüfliber?
H: Die si doch für e Schtärne, wo wettsch de du süsch ässe, he?
T:  U de dä wo gwinnt?
H: (ärgerlich) Eh, mit däm tanzeni de haut dr ganz Obe, das isch aues.
T:  Äbe, ä Chuehandu.
H: Tobias!
T:  Meinsch, die gäbi ihri schöne Föifliber für e Schtärne?
H: Dr Schtärne berchunnt se ömu, oder?
T:  Und eine berchunnt di, vor em Fernseh, und aui gsehs. Gisch ihm de ou äs Münt­schi, he?
H: Hör doch uf!
T:  Dr Karuso Kari sig scho i d Schtadt go Füfliber… (wächsle)
H: (wütend) Das isch doch aues blöds, bösartigs Gschwätz!
T:  Äbä.
H: Was?
T:  Jetz wirsch verruckt.
H: Wenn du so wiiterfarsch scho, jo!
T:  D Wahrheit macht d Lüüt verruckt.
H: Du verdräisch d Wahrheit, Tobias.
T:  D Lüüt säge, i sig verdräit.
H: (verzweifelt) Das hani doch gar nie wöue, mit däm Tanze und so…
T:  Aber das isch doch dr Priis… dr erscht Priis, i däm Handu.
H: Ds Fernseh wär jo grad no so gange, jetzt aber mit däm Tanze, das isch… (mer scho nid rächt).
T:  Ä höche Priis, gäu?
H: Was söu i de, Tobias?
T:  Mir e Zwöier Beaujolais gä!
H: Was?
T:  De säge drs, was söusch mache.
H: (lacht amüsiert auf) Du bisch ä Schlaumeier (geht zur Theke, kommt mit einem Glas zurück, schenkt ein)
T:  I bi ä verträite Schlaumeier, proscht Helena!
H: Proscht, Tobias.
T:  (zufrieden) S het aus sii Priis, z Lampers, Helena.»         (S.52 ff) 

In der letzten Szene steht Helena mit Daniel am Bahnhof und verabschie­det sich von ihm. Als Geschenk überreicht sie ihm ein kleines Tonbandge­rät, mit welchem er ihre Kassettenbriefe anhören und eigene Aufnahmen machen kann, um sie ihr zu schicken. In letzter Minute vor Abfahrt des Zuges kommt Tobias gerannt und überreicht Helena ihren Preis: eine Schleife mit der Aufschrift «Miss Lampers». Das Fest wird am folgenden Tag stattfinden. Ausser den beiden weiss niemand von Helenas Abreise.

«D’Helena vo Lampers» unterscheidet sich von den beiden Komödien von Eschler und Schneider inso­fern, als die Handlung kaum mit Pointen aufwartet, die zum spontanen Lachen reizen. Abge­sehen von einigen lockeren Sprüchen, die zur Ambiance der gehobenen Wirts­haus­stimmung gehö­ren, beschränkt sich das Spiel auf die humorvolle Zeichnung einzelner Personen und deren Charak­terzüge. Nebst dem Mutterwitz des Dorforiginals Tobias verleitet vor allem der verletz­bare Künstlerstolz des Amateurmusi­kers «Carusokäru» und dessen ständige Rivalität mit dem Praktiker Franz zum Schmun­zeln. Drollig wirkt auf den aussenstehenden Hörer auch der Enthu­siasmus der Lamper­ser, der sich mit grösster Selbstverständlichkeit in das Korsett von Trak­tanden­liste und Protokoll zwängt und mit einem dem Resultat widersprechenden Ernst ans Werk geht, obwohl alle wissen, dass die wichtigen Beschlüsse jeweils nach der Polizei­stun­de, draus­sen «vor em Schprützehüsli» (S.23) gefasst werden.

Einen grotesken Höhepunkt bildet der Vor­schlag, Helena symbolisch zu verstei­gern,­ und vor allem die Tatsache, dass er fast ein­hellige Zustim­mung findet. Keineswegs komisch sind dagegen die zutage tretenden poli­tischen Machen­schaften sowie die von Helena so kritisierte Neigung der Dorfbewohner zur üblen Nach­rede. Auch über Helena gibt es nichts zu lachen. Sie wird, obwohl sie den Lampersern samt und sonders moralisch überlegen ist, als eine beschei­dene junge Frau dargestellt, die nur durch die Gabe heraussticht, ihre eher durchschnittlichen Fähig­keiten konsequent zum Besten der Mit­menschen zu verwenden. Das Bild einer ande­ren guten «Fee» aus ferner Zeit, der Gilberte de Courgenay, scheint gelegentlich aufzuleuchten, verflüchtigt sich aber sofort, als deutlich wird, wie diese Helena fähig ist, aus eigenem Entschluss und wenn nötig gegen den Willen der Mehrheit zu handeln. Sie gleicht eben doch eher einer Figur der griechischen Sage als einem christlichen Heiligen­bild. Aber auch mit Dürrenmatts alter Dame hat trotz der Bahnhof­szenen am Anfang und am Schluss die «Glücksfee» von Lampers nichts zu tun.13 Dem wider­spricht nebst vielem Anderem die Unauffälligkeit der «jun­gen Dame», die das Dorf besucht. Diese drückt sich strukturell darin aus, dass Hele­nas Stimme in einer grösseren Zahl von Szenen, die ins­gesamt etwa 40 Prozent des Spielumfangs aus­machen, gar nicht präsent ist. An ihrer Be­deu­tung als Hauptperson kommt dennoch kein Zweifel auf.

Im Gegensatz zu «König Meier de Tuusigscht» ist in diesem Hörspiel vor allem der Gang der Handlung und insbesondere deren Ausgang das tragende Element der komischen Wirkung. Was sich aus der Sicht der Lamperser als katastrophales Ende ausneh­men muss, wirkt aus der Perspektive der Zuhörenden, die sich mit Helena identifi­zieren, als glücklicher Ausgang, der desto befreiender wirkt, als eine solche Wendung aufgrund von Helenas schein­bar bedingungsloser Hilfsbereitschaft nicht zu erwarten war. Ein schaden­frohes Lachen über die Geprellten kann niemandem verübelt werden, ist es doch durch Susannes treffende Feststellung gerechtfertigt, der zufolge jeder nur seine eigenen egoistischen Ziele verfolgt. Der Widerspruch par­tikularer­ Interessen konvergiert in dem Hauptwiderspruch, dass Bürger, die gegen die Ansprüche einer als anonyme Macht empfundenen Bank kämpfen, sich einer ebenso anonymen Institution, dem Fern­sehen, ausliefern, um ihr Ziel zu erreichen.14 Doch ist die Satire bloss gestreift, nicht ausge­spielt. Sie verwirklicht sich in der Phantasie der Zuhörenden, die sich die Bestürzung, Empörung und Blamage ausmalen, wenn beim Fest am folgenden Tag die Hauptat­trak­tion ausfällt. Vorbereitet ist dieser Effekt freilich durch subtile Hinweise auf den zwie­spältigen Charakter der Bürger, die es uns ermög­lichen, uns die Reak­tionen vor­zu­stellen.

Im Unterschied zu Eschlers Karlini lässt sich Helena nicht einfach in den «Chomet» und vor den Karren einer Sache spannen, die ihr nicht zusagt. Es bedarf auch keines rebel­li­schen Gebah­rens, um ihren Anspruch auf Selbst­be­stimmung durchzu­setzen. Helena eman­zipiert sich von einem Vorhaben, mit dessen Form sie nicht mehr einverstanden ist, indem sie sich – nicht ganz ohne fremde Beihilfe – Klarheit über ihre Bedürfnisse ver­schafft, einen Entschluss fasst und danach handelt. In diesem unspekta­kulären Akt ver­wirklicht sich der utopische Sinn der Komödie, der das Hör­spiel in klaren Gegensatz zu Eschlers rückwärtsgewandter Utopie wie auch zu Schneiders reiner Satire setzt. Eine weibliche Hauptfigur, die entschieden nein sagt zu einem Unter­nehmen, durch das sie zum Objekt degradiert wird, darf sicher als eine – wenn auch bescheidene – Pro­jektion der Hoffnung gelten. Doch ist dies nur als Ansatz einer Utopie der Emanzipa­tion zu werten, der sich in der Negation des bestehenden Zustan­des erschöpft, ohne einen bes­seren Entwurf, und sei es den eines noch so unvollkom­menen Wol­ken­kuckucks­heim15, vorlegen zu können. Dennoch muss betont werden, dass Beat Ram­seyer mit seiner Stellungnahme zu dieser Frage einen vorgeschobenen Posten bezo­gen hat. Helena markiert einen Anfang. In ihrer Freundlichkeit drückt sich eine mensch­liche Haltung aus, die Frau und Mann umfasst, die dem Ideal der fraterni­té nach­strebt und dieses ein Stück weit verwirklicht. Die Solida­rität Susannes mit ihrer Unterge­benen und in gewissem Sinne sogar Rivalin ist ein konkretes Produkt dieses Strebens. Doch Helena ist bezeichnen­derweise «Serviertochter». Ihre Aufgabe ist es zu bedienen, wäh­rend andere ihre Voten abgeben, Anträge stellen, das Wort erteilen, ergreifen und entziehen, die Diskussion abbre­chen und Beschlüsse fassen.

Helena steht trotz ihrer dienenden Funktion nicht auf der untersten sozia­len Stufe in Ramseyers Spiel. Diese ist dem Dorforiginal Tobias vorbehal­ten, der von den Bürgern nicht nur, wie Susanne, zum Schweigen gebracht, sondern förm­lich aus der Gemeinschaft der Festplaner aus­ge­stossen wird. Das Wirtshaus bedeutet für ihn ein öffentliches Zuhause, was allein Helena anerkennt, die ihm seine Mahlzeiten serviert. Die unprä­ten­tiöse Befrie­digung dieses Grund­bedürf­nisses weist auf seine Vorfahren hin, auf Hans­wurst, Pickelhäring, Stockfisch, Jack Pudding und Jean Potage, die den Hunger nach einfacher Nahrung im Namen führen16 und deren «Unbe­haust­sein – nicht immer freiwillig – zu mehr als nur einer Standes­notwendig­keit wurde: zur Metapher für das menschliche Dasein allgemein, für das ständige Unterwegssein ins Ungewisse, Unvorherseh­bare.»17 Von ihm stammt bezeich­nenderweise der Rat, Helena solle Lam­pers den Rücken kehren und ihr Glück anderswo suchen. Er verdreht angeblich die Wahrheit. Doch wenn Lüge sich als Wahrheit gibt, so wird durch die Verdrehung des wei­sen Narren die tatsäch­liche Wahrheit offenbar. «S het aus sii Priis, z Lampers» (S.54), so lautet seine Erkenntnis18: Letz­ten Endes geht es immer ums Geld. Dass davon auch die Häuser der Behausten abhängen, macht das Spiel deutlich. In Ramsey­ers neuntem Hörspiel «Wos rouch­net, brönnts» (1988), seiner zweiten Lam­per­ser Dorfgeschich­te, bringt einer durch eine faustdicke, offenkundige Lüge ein Geschäft in Schwung, ohne dies zu wollen. Und wieder ist es Tobias, der als einzige aus dem frühe­ren Hörspiel übernommene Figur eine wich­tige Nebenrolle spielt. Eine gute Fee fehlt in dieser Komödie. «Wos rouch­net, brönnts» ist eine bittere Satire auf Geldgier und Verlogenheit.

«Das Wegfahren, die Desertion ist ein Hauptthema, aber nie ist sie als Lösung propagiert worden», schreibt Martin Schaub, der diesem Thema ein ganzes Kapitel in seiner kritischen Wertung des neuen Schweizer Films seit 1963 widmet.19 Auch Ramseyers Helena ist eine sol­che «Deserteurin», die sich den Plänen ihrer Mitbürger entzieht, ohne damit viel ändern zu kön­nen. Dennoch ist ihr Weggehen alles andere als selbst­ver­ständlich. Ihre Schwäche zeigt sich aber deutlich im Vergleich zu einer ihr verwandten Frauengestalt in Hans Peter Treichlers Hörspiel «Tisch vier bis sibe: Personalwieh­nachte» (1987), deren Persön­lichkeit ein solches Aus­brechen erübrigt. Denise Brügger, auch sie eine «Servier­tochter» und Hauptfigur in Treich­lers Spiel, in deren Perspektive das Weihnachtsbankett einer Sportartikelfirma darge­stellt ist, ruht, ohne überheblich zu wirken, so in sich selbst, dass «Ner­vosität und Aggressionen der Gäste […] an ihrer Freund­lichkeit» abpral­len.20 Dies scheint allerdings nur möglich zu sein, indem sie ag­gres­sives Ver­halten – in gemässigter, kontrol­lierter Weise – erwi­dert. Am Schluss bildet sich, während die Männer mit ihren Zigarren den Saal vernebeln, im Foyer eine Gruppe von Frauen – Personal und Gäste –, die sich trotz anfänglicher Ausein­anderset­zun­gen verstehen und «fasch e gschlossni Gsellschaft» bilden, wie der Chef de Service scherz­haft-naiv feststellt, im gleichen Atemzug das Lob weiter­gebend, der «Service segg tipptopp gsy.» (S.60) Denise ist im Unterschied zur Ausbrecherin Helena eine Inte­grations­figur, die zwischen hoffnungslos in ihren Problemen verstrickten Menschen ver­mittelt und sogar den alkoholi­sierten Junior-Chef aus den Fängen seiner blamablen Tisch­rede rettet: fast ein leibhaftiges Christkind, das unbemerkt die Fäden dieser Weih­nachtsfeier in die Hände nimmt. Treichlers «Perso­nalwiehnacht» ist eine positive Utopie, die wei­ter geht als Ramseyers Wirts­hausge­schichte, so weit, dass sie trotz rea­listi­scher Dramaturgie mit den realen sozialen Verhältnissen kaum ver­einbar scheint. Dem Hör­spiel fehlt trotz erhei­ternder Momente die Voraussetzung zur Komödie, weil Denises Sicht Satire nicht zulässt. Das Spiel klingt auch aus, ohne dass irgendeine entschei­dende Wende eingetreten wäre.

* * *

Die in drei Artikeln vorgestellten Hörspiele zeigen drei grundsätzliche Möglichkeiten der Komödie auf: die sati­rische Kritik als reine Negation des Bestehenden und seiner möglichen Perspek­tive in Schneiders «König Meier», die sati­rische Diffamierung und das Scheitern eines utopischen Ansatzes in Esch­lers «Salpeter­sieder» und den teilweisen Erfolg eines utopischen Entwurfs bei gleich­zeitiger Mässigung des satirischen Effekts in Ramseyers «Hele­na».

  1. Hinck, Walter, Einleitung. Die Komödie zwischen Satire und Utopie, in: Grimm, Reinhold / Hinck, Walter, Zwischen Satire und Utopie. Zur Komiktheorie und zur Geschichte der
    europäischen Komödie, FfM. (Suhrkamp) 1982, S.7 ↩︎
  2. ib., S.16 ↩︎
  3. Schiller, Friedrich, Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Werke, Bd.4, FfM. (Insel) 1966, S.313 ↩︎
  4. vgl. Widmer, Urs, «Das Normale und die Sehnsucht», in: Widmer, Urs, Das Normale und die Sehnsucht, Zürich (Diogenes) 1972, S.11 ff ↩︎
  5. vgl. Hinck, a.a.O., S.16 ↩︎
  6. ib., S.8 ↩︎
  7. ib., S.11 f ↩︎
  8. Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung (1959), zit. nach: Hinck, Walter, Vom Aus­gang der Komödie. Exemplarische Lustspiel­schlüsse in der europäi­schen Literatur, in: Grimm/Hinck, 1982, S.127 ↩︎
  9. vgl. Hinck, Walter, Vom Ausgang der Komödie, in: Grimm/Hinck, 1982, S.173 f ↩︎
  10. vgl. Hinck, Walter, Einleitung. Die Komödie zwischen Satire und Utopie, in: Grimm/Hinck, 1982, S.17 ↩︎
  11. Frisch, Max, Nachbemerkungen zu Biedermann und Hotz, in: Frisch, Max, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, 6 Bände, hrsg. von H. Mayer unter Mitwirkung von W. Schmitz, FfM. (Suhrkamp) 1976, S.457 ↩︎
  12. vgl. Hinck, a.a.O., S.17 f ↩︎
  13. vgl. che., Der Besuch der jungen Dame, in: NZZ, 5.11.83 ↩︎
  14. vgl. rri., Die Geschichte einer Dorfwirtschaft. «D’Helena vo Lam­pers», Hörspiel von Beat Ramseyer, in: Der Bund, 8.11.83 ↩︎
  15. vgl. W.Hinck, Einleitung. Die Komödie zwischen Satire und Utopie, in: Grimm/Hinck, 1982, S.7; Aristophanes‘ Komödie «Die Vögel» wird als Modell vorgestellt, das die Entstehung eines utopischen Staates (Wolkenkuckucks­heim) aus einem kritischen, satirischen Motiv und zugleich das Scheitern dieses Zwischenreiches zwischen Him­mel und Erde darstellt, worin sich ein «gegenutopischer Zug» ausdrückt. ↩︎
  16. vgl. Berthold, Margot. Komödiantenfibel. Gaukler. Kasperl. Harlekin, München (Staackmann) 1979, S.61 ↩︎
  17. ib., S.63 ↩︎
  18. Sie ging in den Titel von Beat Ramseyers nächstem Hörspiel «S’het aues si Priis» (1985) ein; es handelt von einem Milchmann, der sich suspekt macht, weil er die Bewohner einer Neubausiedlung jahrelang gratis mit Milch beliefert. ↩︎
  19. Schlappner, Martin / Schaub, Martin, Vergangenheit und Gegenwart des Schweizer Films (1896-1987), Zürich (Schweizerisches Filmzentrum) 1987, S.111 ↩︎
  20. Treichler, Hans Peter, Exposé zum Hörspiel «Personalwiehnacht» (Manuskript­archiv Radio DRS, Studio Zürich) ↩︎

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