99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

«Hochverkehrtes Tublikum»

Dass Kasperle den Weg ins Radioprogramm finden musste, war unvermeidlich. Schon 1924, in der Stunde Null des deutschsprachigen Hörspiels, hatte die Märchentante in Hans Fleschs «Zauberei auf dem Sender» gefordert, dass auch die kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer mit Geschichten beliefert werden sollten. Dass ein Philosoph und Kulturkritiker 1932 Kasperle zu seiner Radio-Debüt verhalf, ist aber doch eher ungewöhnlich. «Radau um Kasperl» von Walter Benjamin war als Kinder-Hörspiel konzipiert, das aber auch Erwachsenen etwas zu bieten hat. Dass diese als Publikum mitgemeint waren, lässt sich unter anderem aus dem abendlichen Sendetermin schliessen.

Der Inhalt von Benjamins Hörstück mit Unterschieden zwischen der Frankfurter Erstinszenierung und der Kölner Version kann auf Wikipedia nachgelesen werden. Die Hauptperson ist ein zotenfreier Kinder-Kasperl, der allerdings seinen Gegenspielern kräftige Watschen austeilen kann, wenn es zu Meinungsverschiedenheiten kommt. Eine radiomässige Besonderheit ist seine teils handfeste Auseinandersetzung mit dem Medium Rundfunk als unterhaltende Belehrung für Kinder und Erwachsene über das (relativ) neue Medium. Die Beschäftigung mit dem Radio als Thema, die 1924 im erwähnten Hörspiel von Hans Flesch und 1926 im Zürcher Sendespiel «Der Fünflampenapparat» noch zeitgemäss war, ist allerdings sechs Jahre später nicht mehr sehr im Trend.

Schon in der ersten Szene begegnet Kasperl dem Rundfunksprecher mit dem sinnigen Namen Maulschmidt, der ihn sogleich ins Studio mitnimmt und den ahnungslosen Possenreisser nach kurzer Einführung vor das Mikrophon stellt. Anstatt wie erwartet das breite Publikum zu unterhalten, benutzt Kasperl aber die Gelegenheit, um seinem Rivalen Seppel in derben Worten seine Meinung zu sagen. Aus diesem Missbrauch wird für die kleinen Zuhörer auf amüsante Weise deutlich, worin sich eine Radiosendung von einem Telefongespräch unterscheidet. In grotesker Abwandlung kann dies aber durchaus als Hinweis auf Bertolt Brechts Forderung gedeutet werden, der Rundfunk müsse sich von einem Distributionsapparat in ein Kommunikationsmedium verwandeln. Damit wären also auch zur Reflexion neigende Erwachsene angesprochen.

Kasperl soll für seinen Fehltritt arretiert und bestraft werden, flieht aber und liefert seinen Verfolgern unter Führung von Maulschmidt eine Verfolgungsjagd, die über mehrere für Kinder attraktive Stationen wie Bahnhof, Jahrmarkt und Zoo schliesslich während einer Taxifahrt abrupt endet: Es kommt zu einem Auto-Unfall. Kasperl erwacht Stunden später zu Hause in seinem Bett aus seiner Ohnmacht und unterhält sich mit seiner Frau Puschl über das Erlebte. Was folgt, ist eine völlig unerwartete, wundersame Wendung mit Happy End, die das Medium Radio erneut charakterisiert: Maulschmidt hat nämlich heimlich ein Mikrophon am Bett des Verunfallten installiert und das ganze Gespräch zwischen den Eheleuten für die Sendung aufgezeichnet – vermutlich mit einer schweren Apparatur auf Wachsplatten. Als Honorar erhält Kasperl 1000 Reichsmark, worüber er und seine Frau hoch erfreut sind. Dieser Schluss zeigt das neue Medium von einer fragwürdigen Seite und kritisiert trotz Kasperles naiver Freude den voyeuristischen Übergriff eines Boulevard-Mediums auf die Privatsphäre. So hatte sich Brecht die Verwandlung der Rundfunkteilnehmer in Lieferanten jedenfalls nicht vorgestellt.

Der im Titel angekündigte «Radau» hat in diesem Hörspiel mindestens zwei Bedeutungen, wie Reinhard Döhl zeigt. Zwischen die Spielszenen waren in der Frankfurter Fassung, in der Benjamin selbst Regie führte, reine Geräusch-Passagen eingefügt, die als «Radau» im Sinne von Geräusch, Lärm, Krach bezeichnet wurden. Damit war die Aufforderung an die zuhörenden Kinder verbunden, dem Sender Rückmeldung über die Art der gehörten Schall-Phänomene zu erstatten. In dieser Anlage vor allem zeigt sich das Bestreben, die Zuhörer als Kommunikationspartner zu organisieren. Primär meint «Radau» aber durchaus Krach im Sinne von Klamauk, Tumult, Aufruhr, der durch Kasperles freche Interventionen ausgelöst wird. Er zeigt sich in dieser Rolle als Erbe einer langen Tradition des «Lustigmachers», der als Mimus schon im antiken Theater auftrat und durch das ganze Mittelalter hindurch als Teufelsdarsteller, Possenreisser, später als Harlekin und Pickelhäring sein Unwesen trieb, bis er in der Aufklärung unter dem Titel «Hanswurst» von der ehrbaren Schauspiel-Bühne vertrieben wurde. An diesen letzten Akt erinnert Kasperles Flucht aus dem Rundfunk-Studio und seine Verfolgung bis zum unverhofft glücklichen Ende ein wenig. Als Subjekt des Programms ist er unerwünscht – als Objekt hingegen darf er bedenkenlos ausgebeutet werden.

Vierzig Jahre später lernen wir bei Jörg Schneider einen zahmen Kasperl in einem reinen Erwachsenen-Hörspiel kennen, der am Schluss verzweifelt mit den Worten abgeht: »Ich cha nümme Herr König. Es gaat nöd! Ich bi zwar na läbig. Aber de Chaschper isch gschtorbe, eifach z’tod gschtorbe! / Schlussdibus! Fidibus! Exitus!« Dabei war er am Anfang des Hörspiels mit dem fast barocken Titel «König Meier de Tuusigscht oder De Undergang vom Tuurteland» (1974)  als virtuoser Wortverdreher und Sprachspieler aufgetreten und hatte die Zuhörenden als «hochverkehrtes Tublikum» (ein «Tubel» ist auf Schweizerdeutsch ein Dummkopf, Trottel, Idiot) und «hochbeschwertes Kudlipum» («Kuddelmuddel» ist ein Durcheinander, Wirrwarr) tituliert. Dazwischen spielt sich eine Polit- und Wirschaftssatire ab, die für Kinderohren weder interessant noch geeignet wäre. Anlass zur Entstehung von Schneiders Chaschperli-Hörspiel war vermutlich eine Neu-Inszenierung von Benjamins «Radau um Kasperl», die kurz zuvor in derselben Reihe «50 Jahre Radio» ausgestrahlt worden war. Jörg Schneiders Stimme war damals schon in allen Kinderzimmern von Chaschperli-Schallplatten und -Cassetten her bestens bekannt und ist in der deutschen Schweiz bis heute unvergessen. Niemand wäre berufener gewesen, ein solches Stück fürs Radio zu verfassen als er.

Chaschperli bezeichnet sich selbst als «Kärlibueb»: Der Ausdruck «Kerl» ist selbsterklärend, in «Bub» verbirgt sich nicht nur der Knabe, der Kasperles kindliches Gemüt andeutet, sondern auch die alte Bedeutung von Gauner, Halunke, Schurke und noch Schlimmeres. Diese Seite seines angestammten Charakters kommt aber überhaupt nicht zum Zug, und auch Radau macht Schneiders Kasperl nicht wirklich. Zu stark ist der Sog des Wirtschaftswunder-Märchens, in das er schon zu Beginn gerät. Eine Zusammenfassung der Handlung kann in meiner detaillierten Analyse von Schneiders Hörspiel nachgelesen werden. Hier beschränke ich mich auf das Nötigste. König Meier, durch seinen Namen schon als bürgernaher Monarch gekennzeichnet, sucht einen trouble-shooter für das einzige Problem in seinem von Prosperität gezeichneten Reich, wo tiefer Friede herrscht und wo es keine Not, keine Sorgen und keine Probleme gibt. Aber der jungen Generation genügt dies nicht mehr. Seiner Tochter ist es langweilig, «stinklangweilig» sogar. Sie hat nur einen Geburtstagswunsch: Sie isst gerne «Rüeblituurte». Mit seinem Marketing-Plan, die Lieblingsspeise der Prinzessin als Mega-Trend zu lancieren, gerät Chaschper immer tiefer in politische und wirtschaftliche Verstrickungen. Es zeigt sich bald, dass er der Herrschaftsdynamik der Erwachsenenwelt nicht gewachsen ist. Die königliche Familie und alle Untertanen sterben schliesslich an Karotin-Vergiftung. Nur zwei Personen überleben, da sie keine Rüeblitorte essen: Chaschper und Krösius Zinsli, Bankdirektor und Usurpator der königlichen Souveränität. Seine Macht ist so absolut, dass er zum Regieren nicht einmal mehr Untertanen braucht. Sein Hofnarr Chaschper hat zu spät erkannt, dass das Spassmachen ohne Publikum keinen Spass macht. Gegen seinen Willen ist er zum Antihelden einer Tragigroteske geworden, die mit seinem Abgang, ganz nach Dürrenmatts Maxime, ihre «schlimmstmögliche Wendung» nimmt. Und wenn er auch gestorben ist, so lebt er heute weiter in der Kinderstube – live in seinem Guckkasten-Miniaturtheater, auf CD-ROM, als Streaming-Angebot und sogar noch in der Radio- und TV-Kinderstunde.

«König Meier de Tuusigscht» ist, abgesehen von Chaschpers Vorrede, rein linear in dramatischen Dialogen aufgebaut, ganz wie ein traditionelles Kasperle-Stück. Trotzdem könnte es nicht als ein solches mit Handpuppen aufgeführt werden. Dem steht zunächst die Überlänge von beinahe anderthalb Stunden entgegen. Vor allem aber ist die Synthese von subtiler Hörspiel- und kantiger Kasperle-Dramaturgie nicht gelungen. Der überzogene Kasperle-Stil, der alle Episoden von Benjamins Stück einheitlich prägt, muss in Schneiders Hörspiel abgemildert und an eine entwickelte Worthörspiel-Dramaturgie angenähert werden. Dieses ist als radikale Gesellschafts-, Wirtschafts- und Polit-Satire konzipiert, die aber aufgrund starker Vereinfachung nicht vollends überzeugt. Damit stirbt nicht nur Kasperle als «lustige Person», sondern auch das Kasperletheater im Hörspiel-Programm des Radios. Es ist kein Zufall, dass bis heute keine weiteren Produktionen dieser Art folgten. Jörg Schneider selbst wandte sich bald nach der Ausstrahlung endgültig auch vom Kinder-Kasperlehörspiel ab, da er sich – trotz Goldener Schallplatte – nicht auf seine Hauptrolle im erstarrten Stil des Genres festlegen lassen wollte.

Solches Hörspiel-Kasperletheater verpasst die Gelegenheit, das uralte Genre mit dramaturgischen und technischen Mitteln des elektronischen Mediums zu beleben. Paul Pörtner hat früh schon etwas in dieser Art versucht, indem er in einer experimentellen Hörspielfassung von Alfred Jarrys absurder Kasperl-Variante »König Ubu« mit Hilfe von elektronischen Filtern und Modulatoren »Stimm-Masken« erzeugte. So ist etwa Ubus Stimme elektronisch verfremdet, wenn er mit seinem Gewissen spricht; dieses antwortet mit seiner natürlichen Stimme. Solche Maskierungseffekte wären mit heutigen technischen Mitteln viel leichter und in grösserer Variation zu erzielen. Man denke etwa an die Stimmverwandlungen in den Ein-Personen-Kurzhörspielen von Lorenz Keller alias Gaudenz Trüeb.


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert