Beobachtungen bei der Produktion einer Kurzhörspiel-Serie
In diesem Artikel möchte ich anhand einiger Impressionen einen Einblick in die Produktion der Kurzhörspiel-Serie «De Bärni Lips gaht uf Tutti» von Hans Peter Treichler vermitteln, die ich am 14.4. und 22.4.1987 im Studio Zürich mitverfolgen durfte. Die damaligen Verhältnisse sind aus heutiger Sicht bereits als historisch zu betrachten, wenigstens in technischer Hinsicht. In Zürich gab es im Studio an der Brunnenhofstrasse, das 1933 in Betrieb genommen und sechs Jahre später schon erweitert worden war, noch ein grosses Hörspielstudio. Man sieht es im Titelbild dieses Weblogs. Im angrenzenden Regieraum standen ein grosses Mischpult und Tonband-Aufzeichnungsgeräte mit Schneidetisch. Die Bänder wurden noch tatsächlich von Cutterinnen geschnitten und die Ausschnitte mit Klebeband montiert. Erst die endgültige Version wurde auch bereits in digitaler Form gespeichert und zum Teil auf CompactDisc via «Radiokiosk» dem Publikum zum Kauf angeboten.
An der Zusammenarbeit zwischen AutorInnen, RegisseurInnen und DarstellerInnen hat sich bis heute wohl weniger verändert. Auch heute wird es in der Regel darum gehen, eine schriftliche Vorlage in ein komplexes akustisches Gebilde umzusetzen, das durch die Kanäle des Radioprogramms verbreitet werden soll: Teamwork der anspruchsvollsten Art von Berufsleuten verschiedener Richtungen. Im Grundsatz geht es dabei immer noch, wie von fortschrittlichen Hörspiel-Pionieren der zwanziger Jahre gefordert, um die höchst anspruchsvolle Synthese von Kunst und Technik. Eine wesentliche Erweiterung hat diese Zusammenarbeit seit 1987 erfahren: Improvisation war damals noch beinahe tabu. Heute sind in Hörspiel-Skripts oft ausgewählte Teile nur vage umschrieben und werden bewusst improvisierend umgesetzt – keineswegs zum Nachteil der betreffenden Produktionen. In diese Richtung arbeiten vor allem auch HörspielmacherInnen der «freien Szene», die dank technischer Vereinfachung der Produktion durch Digitalisierung nicht mehr auf ein professionelles Hörspielstudio angewiesen sind.
Hans Peter Treichler (1941-2019) war einer der produktivsten Schweizer Hörspielautoren von Radio DRS und gehörte wie etwa Gerold Späth und Markus Michel zu dessen «Hausautoren». Schon in seinem zweiten Originalhörspiel, einer Gespenstergeschichte, die er 1977 als Auftragsarbeit zusammen mit seiner Schwester Annemarie Treichler verfasste, ging es ihm ausdrücklich darum, sich vom traditionellen Mundarthörspiel im Gefolge der Heimatschutzbewegung zu emanzipieren. Die Abweichungen der Alltagssprache von der «gepflegten» Mundart, auf welche Treichler grössten Wert legte, – er nennt insbesondere Verschleifungen, Idiosynkrasien, alogische Syntax und Grammatik sowie häufiges Unterbrechen und Ins-Wort-fallen – gehören zu den Eigenheiten des modernen Mundarthörspiels. In seinen «Anmerkungen zur Inszenierung» des genannten Hörspiels betont er, dem Schauspieler sei «immer wieder einzuimpfen, dass jede Zeile so tönen muss, wie er sie draussen auf der Strasse und in der Kneipe zu hören bekäme.» Treichler hat die beschriebene Technik in späteren Arbeiten wieder aufgenommen und weiterentwickelt. Inhaltlich geht es ihm dabei stets darum, Einsichten in psychologische und soziale Zusammenhänge des Alltagslebens zu ermöglichen. «De Bärni Lips gaht uf Tutti» ist ein hervorragendes Beispiel dafür und Mathias Gnädinger ein Darsteller, dem man Treichlers Devise nicht «einzuimpfen» brauchte.
Der Regisseur von Treichlers Kurzhörspiel-Serie war Joseph Scheidegger (1929-2012), der auch als Schauspieler, Filmregisseur, Dramaturg und Drehbuchautor tätig war. Er arbeitete seit Anfang der sechziger Jahre unter anderem für Radio Basel und engagierte sich im Bereich des Hörspiels für junge Autorinnen und Autoren, die Mundart und Umgangssprache als Mittel zur Gestaltung von aktuellen Problemen neu entdeckt hatten. Scheidegger vertrat die Auffassung, solche Produktionen nähmen sich in hochdeutscher Sprache «irgendwie „exotisch“» aus, in der Mundart aber wirke «derselbe Stoff viel dringender und herausfordernder».1 Sein breiter Erfahrungshorizont und seine lange, intensive Erfahrung mit «ModernMundart»-Produktionen prädestinierten ihn geradezu für die Realisierung von Treichlers Kurzhörspielen. Dieses Projekt war seine letzte Arbeit als Hörspielregisseur.
«De Bärni Lips gaht uf Tutti» (1987) wurde 1989 mit dem Basler Hörspielpreis ausgezeichnet. Es ist eine Serie von neun Kurzhörspielen von durchschnittlich vier Minuten Länge, die alle von einer Person gespielt werden: allerdings keine konventionellen Monologe, sondern Dialoge, deren fiktive Konterparts sich nur in den Reaktionen der Hauptperson spiegeln. Diese Rolle, die an den Darsteller höchste Anforderungen stellt, wurde mit Mathias Gnädinger (1941-2015) besetzt, einem hörspiel-erfahrenen Schweizer Schauspieler, der zu den bedeutendsten seiner Zeit überhaupt gezählt werden darf, seit 1996 Träger des Hans-Reinhart-Rings.
Treichlers Serie ist leider bis dato nicht auf play SRF greifbar. Um eine Vorstellung von der besonderen Art seiner Mundart-Texte zu vermitteln, zitiere ich hier den Anfang des zweiten Kurzhörspiels in Form eines Ausschnitts aus dem Originalskript:
Die folgenden Ausführungen basieren auf handschriftlichen Notizen, die ich unmittelbar nach dem Produktionstermin in ein Word-File übertrug. Für diesen Artikel habe ich sie leicht redigiert. Die in Anführungszeichen gesetzten Statements sind wörtliche Äusserungen der Beteiligten, teils von mir in hochdeutsche Form übertragen. Die Beobachtungen vom 14.4.1987 beschränken sich auf vier Probedurchläufe und Aufzeichnungen des zweiten Kurzhörspiels, das vom Regisseur an erste Stelle gerückt wurde, weil es «dem Schauspieler ein breiteres Spektrum» lasse und den Charakter der Hauptperson besser zum Ausdruck bringe. In der vierfachen Wiederholung zeigt sich schon äusserlich, wie intensiv hier an der Interpretation des Textes gearbeitet wurde.
Vorbesprechung der ganzen Serie
Schei (Regisseur Joseph Scheidegger) beabsichtigt, die bereits vorbereitete Background-Ambiance wegzulassen, da ja die Äusserungen der Gesprächspartner von Lips auch ausgespart sind. Geräusche sollen eventuell ganz sparsam eingefügt werden, aber Gnä (Darsteller Mathias Gnädinger) soll nichts «vom Spiel her vorwegnehmen». Gnä fragt, ob realistische Geräuscheffekte beim Sprechen wie Kaffeetrinken, Kuchenessen etc. auch ausgespart werden sollen. Schei bejaht, er will die Produktion ganz aufs Wort reduzieren: «Das han ich eigentli no gern, so sparsam.» Auch das Geräusch beim Ablegen des Telefonhörers fällt weg.
Erste Ansätze zu einer gemeinsamen Gesamtinterpretation schliessen sich an: Lips versteht sich als «Sonnenschein», ist in seinem begrenzten Machtbereich aber pickelhart. Er ist ein notorischer Opportunist, was zum Beispiel in seinem Verhalten gegenüber Krenger (siehe Textausschnitt oben) deutlich wird. Heimlich aspiriert er auf den Posten eines Kollegen, der etwa auf gleicher Stufe steht wie er, aber offenbar der Dienstältere ist. Vieles davon kommt zwischen den Zeilen zum Ausdruck, muss in der Sprechweise mitschwingen.
2. Kurzhörspiel: «Em Bärni Lips sis Erfolgsrezäpt»
1. Mitschnitt
Die Situation der Portierloge wird mit einer realen Fenster-Kulisse imitiert.
Besprechung nach der Probeaufnahme eines Abschnitts: Schei kritisiert vor allem akustische Mängel.
Schei und Gnä arbeiten nun das ganze Kurzhörspiel Satz für Satz miteinander durch. Schei beanstandet, dass der fiktive Gesprächspartner des Portiers noch zu wenig präsent sei, kommentiert Satz für Satz, so dass sich ein Dialog mit dem probenden Schauspieler entwickelt. Schei wünscht generell, das Ganze müsse noch alltäglicher tönen, am Schluss noch ruhiger. Er verlangt akustische Abgrenzung, Konzentration auf einen kleinen Raum, was er durch Löschen der Studiobeleuchtung und Aufstellen einer Ständerlampe betont, die er eigens zu diesem Zweck mitgebracht hat. Gnä, der auf dem Film-Set und auf der Bühne zu Hause ist, schätzt die Andeutung einer Kulisse und eine sinnlich wahrnehmbare visuelle Ambiance offensichtlich. Er agiert tatsächlich wie ein Schauspieler, auch mimisch und gestisch, zieht z.B. den Kopf ein, wenn er den Direktor grüsst, verwirft ärgerlich die Arme, bezieht die Fenster-Kulisse in sein Spiel mit ein wie auf der Bühne, stützt sich auf das Fensterbrett, lehnt sich hinaus etc. Man kennt sich. Joschi weiss, dass Mathis etwas Bühnenluft braucht, um sich in seinem Element zu fühlen. Daraus entsteht ein Sprech-Kunstwerk, das alle Gestik in tönende Sprache umsetzt.
Gnä trägt nun ruhiger vor. – Schei: «Jetz bisch dra! – Guet!»
Schei setzt seine Interpretation fort: Die Unerbittlichkeit der Hauptfigur «liegt darin, dass er immer weitermacht, dass ein anderer gar nicht die Chance hat, dazwischenzukommen.» Aus dem Kommentieren ergibt sich ein gemeinsames Phantasieren über Hintergründe und mögliche Nebenumstände des Stücks, z.B. über Blumers Krankheit, die dieser nicht zuzugeben wagt: «Das ist eine Schwäche, da kann man ihn erwischen.»
Regisseur und Darsteller diskutieren von Gleich zu Gleich nicht nur Inhaltliches, sondern auch das Vorgehen: Schei: «Ich hasse es, dem Schauspieler das Zeug vorzumachen.» Gnä entgegnet darauf: «Wirsch denn scho gseh, wa devo übrigbliibt.»
Krenger wird von Lips ganz bewusst denunziert, kurz nachdem er ihn noch copainhaft behandelt hat. Schei: «Dä [Lips] schaltet um vo einere Farb uf die ander!» Man stellt fest, dass allein der letzte Abschnitt der oben abgebildeten Seite auf engem Raum drei solche «Farben» enthält (copainhaft, jovial gegenüber Krenger – amtlich penibel in seiner Rolle als Portier – ressentimentgeladen, aggressiv in seiner Taxierung von Krenger). – Am Ende der ersten Seite schon zeigt Lips sich selbst als der «Hüüchelsiech», den er auf den anderen projiziert.
Das Lachen des Portiers erscheint Schei noch zuwenig «organisch». Gnä stellt sich aber gar kein ehrliches Lachen vor. Er erzählt von seinem Grossvater, dessen Rollenlachen ihm als Vorlage dient. Schei: «Es [das Lachen] ist ein Stereotyp, aber gekonnt.» Man merkt nach seinem Empfinden die Absicht noch zu sehr, er möchte den Effekt etwas abschwächen. Gnä probt darauf «aus dem Stand» ein halbes Dutzend verschiedene Typen des Lachens – eine eindrückliche Demonstration seines schauspielerischen Könnens!
Schei spricht schliesslich – im Widerspruch zu seiner obigen Aussage (!) – ganze Passagen vor, um anzudeuten, wie er sie haben möchte.
2. Mitschnitt
Schei bei der Besprechung des 1. Mitschnitts: Der Grundton stimmt, aber Jovialität und Biss müssen noch besser herausgearbeitet werden, um erlebbar zu machen, dass Lips «ein ganz aggressiver Siech ist», der dem Typus des NS-Blockwarts entspricht.
Zur Ausbeute des 2. Mitschnitts konstatiert er nüchtern: «Villicht chömmer ’s eint oder ander bruuche!»
3.Mitschnitt
Schei am Schluss des 3. Mitschnitts (nicht allzu begeistert): «Guet – guet – guet». Zwei bis drei Stellen könnten besser sein, der Schluss «isch scho besser. Du spilsch nüme-n-uf Schluss!» Die Sätze, die aus dem Fenster gerufen werden, sind ihm noch zu wenig «organisch».
4.Mitschnitt
Schei ermahnt Gnä, nicht zu «gemütlich» zu spielen. Lips soll klar kommunizieren: «Das isch miin Machtberiich!»
Schei beschliesst, dass der 3. und 4. Mitschnitt für die definitive Version zusammengeschnitten werden.
Erst jetzt, gegen Ende des ersten Aufnahmetermins, stellt sich heraus, dass Gnä vorgängig das ganze zürichdeutsche Manuskript (22 Seiten) von Hans Peter Treichler in seinen Schaffhauser Dialekt transkribiert hat, da er Zürichdeutsch nicht direkt lesen kann!
Abhören und Diskussion nach Abschluss der Aufnahmen am 22.4.87
Teilnehmer: Joseph Scheidegger sowie alle Regisseure von Studio Zürich: Franziskus Abgottspon (Leiter Ressort «Hörspiel» in Zürich), Walter Baumgartner (Leiter Ressort «Feature») und Mario Hindermann
Schei wünscht als neuen Titel/Untertitel: «De Bärni Lips gaht uf Tutti. Hörspiel für eine Person». Er kündigt eine Umstellung der Reihenfolge der neun Kurzhörspiele an. Treichlers Kurzhörspiele erscheinen ihm gewollt boshaft, «fast wie Daumier-Karikaturen». Im Unterschied zu anderen Projekten drohten sie ihm «bei der Produktion nicht unter den Händen zu zerfallen.» Sein Verhältnis dazu wirkt sehr positiv.
Die Würdigung und Kritik der fachlichen Leistung durch die Kollegen entwickelt sich rasch – für mich zunächst unerwartet – zu einer gemeinsamen Interpretation von Treichlers Kurzhörspiel-Serie. Nur so kann die Angemessenheit der Inszenierung beurteilt werden. Die Form folgt dem Sinn. Dieser tritt im Gespräch immer deutlicher hervor:
Lips entlarvt sich selbst auf Schritt und Tritt, indem er sich wiederholt diametral widerspricht. Beispiele: 2. Kurzhörspiel: «Hüüchelsiech!» 6. Kurzhörspiel: «Me cha ja au rede mitenand.» 7. Kurzhörspiel: «Du bringsch doch alls durenand.» 8. Kurzhörspiel: Chaos in der Ordnung 9. Kurzhörspiel: «Das gaht alls hinedure.»
Beim ersten Zuhören, so ergibt die Reaktion der Ersthörer, erscheint Lips aber als «gmögiger» Typ, was vor allem durch die Vortragsweise von Gnä unterstrichen wird. Der Ressortleiter neigt dazu, sich mit ihm zu identifizieren. Es wird befürchtet, dass viele Hörerinnen und Hörer bei diesem ersten Schritt der Identifikation stehen bleiben. Nur wer ein Ohr für Tonfall und Klangfarbe hat, kann die Brüche mühelos erkennen, zum Beispiel im unechten, meckernden Lachen, das Schei allerdings auf ein Minimum reduziert hat. Erschreckend wirkt die Inhumanität vor allem deshalb, weil Lips jede Distanz zu sich selbst fehlt, weil er sich nicht bewusst opportunistisch, heuchlerisch, aggressiv verhält, weil ihm seine Inhumanität quasi unterläuft – und weil dieser Charakter so alltäglich und verbreitet ist. Die Zuhörenden können sich – im besten Fall – über ihrer eigenen Identifikation ertappen und somit vor sich selbst erschrecken. Voraussetzung dafür sind aber mündige Hörerinnen und Hörer, die nicht vom selben Schlag sind wie Bärni Lips.
Mir fällt nachträglich dazu ein Statement von Silvio Blatter ein, der eine ähnliche schriftstellerische Strategie beschreibt:
«Der tüchtigste Denkanstoss erreicht den Menschen über die Identifikation. Wenn sich einer mit einer meiner Figuren voll und ganz identifiziert, bis auf Seite 127, wo der vermeintlich so Vertraute plötzlich etwas macht, das dem Leser unverständlich scheint, das er ’nie‘ machen würde, dann habe ich ihn in einer Ecke, aus der er ohne Denken nicht mehr herauskommt.»2
Auch formal ist das Hörspiel dialektisch angelegt. Dem äussersten Realismus einer «dem einfachen Mann abgelauschten» Alltagssprache mit allen Redundanzen und Ellipsen steht die Abstraktheit der Kommunikationssituation gegenüber: der intrigante Portier hat kein reales Gegenüber. Konsequenterweise spart der Regisseur auch alles andere aus, was an die Aussenwelt erinnern könnte, nur die Raumakustik ändert sich. Der Hörer erlebt reine Subjektivität, die bloss auf Stimuli von aussen reagiert. Trotzdem handelt es sich nicht um innere Monologe bzw. Dialoge.
Mir wird rückblickend klar: Typisierung und Abstraktion dieser Wortkunst-Karikaturen im Stil eines Daumier helfen die Zeit überwinden. Sie sind heute noch genauso wirkungsvoll wie anno 1987. Der Typus von Treichlers Bärni Lips stirbt nicht aus.
Schreibe einen Kommentar