99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage Quellenangaben, detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

Gesucht: das (originale) Hörspiel

Den Ausdruck «Hörspiel» gab es schon lange vor den ersten Anfängen des öffentlichen «Rundfunks für alle». Für den 17. Oktober 1924 wurde im Programm der Süddeutschen Rundfunk AG (SÜRAG) Frankfurt ein «dramatisches Hörspiel» angekündigt.1 Eine Woche später, am 24. Oktober 1924, inszenierte Hans Flesch, der künstlerische Leiter der SÜRAG, seine «Zauberei auf dem Sender», die er im Untertitel als «Versuch einer Sendespiel-Groteske» bezeichnete. Er gilt bis heute als das erste gesendete Hörspiel im deutschen Sprachraum. Radio Zürich hatte seine Sendetätigkeit kurz zuvor, am 1. August 1924, aufgenommen, doch blieb Fleschs kühnes Experiment hierzulande vorerst unbemerkt. Die Bezeichnung «Hörspiel» fand aber rasch ihren Weg ins Programm des Zürcher Senders. Am 3. Januar 1925 wurde zum ersten Mal ein «Hörspielabend der Freien Bühne Zürich» angekündigt, die als ersten dramatischen Beitrag das «Urner Spiel vom Wilhelm Tell» live vor dem Mikrophon aufführte.

Die Bezeichnung «Hörspielabend» blieb für Zürcher Produktionen während der folgenden Jahre erhalten. Bern kündigte seine dramatischen Darbietungen unter dem Titel «Radiobühne» an. Aber bis 1928 war unklar, was man unter einem «eigentlichen», «radio-eigenen», «radiomässigen», «radiogerechten» Hörspiel oder einem «richtigen Radiohörspiel» verstehen sollte. Das Attribut «original» im Sinne von «unverändert», «authentisch» wurde erst viel später auf das Hörspiel angewendet. In den zwanziger Jahren waren in ähnlich unscharfer Bedeutung auch die Ausdrücke «Sendespiel», «Dialektspiel», «Stück», «Aufführung», «Hörbild», «Hörbilderfolge», «Radiokomödie» und andere anzutreffen. Arthur Manuels «Holzwurm» figurierte unter dem Titel «Tragikomödie in einem Akt», obwohl der Autor damit einen Beitrag «zur praktischen Lösung der Hörspielfrage» leisten wollte. Was man aber unter einem «Hörspiel» verstehen sollte, war vorerst niemandem wirklich klar. Eine breite Diskussion der Problematik drängte sich daher auf.

Die Gründung des «Kammerspielensembles» war der erste Ausdruck eines grundsätzlichen Bestrebens nach Professionalisierung der Programmgestaltung. Jakob Job schreibt im Rückblick auf das Jahr 1928: «In einer aufsteigenden Kurve bewegten sich vor allem auch die Hörspieldarbietungen. Im Besonderen verschwanden vom Sendeplan jene „Vereinsstückli“, die zwar immer noch nach dem Geschmacke vieler waren, aber nicht einmal den Anspruch auf gute Unterhaltung machen konnten, um wirklichen Dialektspielen und radiomässigen Hörspielen Platz zu machen.»2 Im Jahr 1929 hielten sich im Zürcher Programm die Aufführungen der «Freien Bühne» und des «Kammerspielensembles» in etwa die Waage. Als Ausführende traten daneben gelegentlich auch Mitglieder des «Dramatischen Vereins Zürich», der «Dramatischen Gesellschaft Neumünster», ja sogar des Zürcher Schauspielhauses auf. Wie in Deutschland, so setzte sich auch in der Schweiz erst Ende der zwanziger Jahre die klare begriffliche Unterscheidung zwischen «Sendespiel» und «Hörspiel» durch. In einer Bilanz über die Aufführungen des «Kammerspielensembles» während der ersten drei Jahre seines Bestehens wurde erstmals deutlich zwischen den Kategorien des Sendespiels und des Hörspiels unterschieden.3 Bert Herzog definierte 1930 das Sendespiel als «die Radiobearbeitung eines für die Schaubühne geschriebenen Stückes» und das Hörspiel als «das eigens und nur für die Aufführung im Studio berechnete Stück».4

Hörspieldebatte 1927

«Haben Sie schon einmal das Lächeln verhaltenen Mitleids sehen müssen, wenn Ausländer über schweizerische Sendestationen sprachen?» fragte Paul Altheer in seiner Stellungnahme zur geplanten Reorganisation 1928, und er erläuterte: «Es kommt daher, dass wir mit unsern fünf Sendern die Entwicklung nicht mehr mitzumachen in der Lage waren, die alle ausländischen Sender in den letzten drei Jahren hinter sich legten.»5 Gemeint waren die die fünf Radiostudios Zürich, Bern, Basel, Lausanne und Genf. Auch sein Nachfolger Bert Herzog war der Ansicht, «dass das Radiowesen in der Schweiz unter den gegenwärtigen Verhältnissen weder leben noch sterben kann», was sich erst beheben liesse, wenn «in der kleinen Schweiz nicht täglich fünf Lokalprogramme, einzeln oder simultan gemischt, mit lächerlich kleinen Honoraren zusammengeflickt werden müssen«.6 Für das Hörspiel bedeutete dies: «Im Auslande werden Fr.150-200 für gute Manuskripte bewilligt; in der Schweiz wird man kaum über Fr.50 gehen dürfen. Resultat: Im Ausland können gute und oft in jeder Hinsicht ausgezeichnete Hörspielaufführungen gegeben werden; in der Schweiz bleibt meistens alles mangelhaft und unzulänglich.» Während ausländische Sender wöchentlich zwei Hörspiele sendeten, konnten sich die fünf Schweizer Sender zusammen «etwa alle zwei Wochen ein Hörspiel leisten.» Die prekäre finanzielle Situation der Radiogenossenschaften war es also laut dieser und vieler anderer kritischer Stimmen, die bisher der Entstehung eines schweizerischen Hörspiels im Wege gestanden hatte.

In seinem Beitrag «Hörspiel und Fusion» zitierte der Schriftsteller Werner Zimmermann die «Bühne des Hörspiels», die «im Innern des Menschen aufgeschlagen» sei und durch die «Erweiterung innerer Schau […] eine Schärfung des inneren Auges durch das Medium des Wortes» anstrebe.7 Der Ruf nach einem literarische Worthörspiel lässt sich darin nicht überhören. Nicht ganz berechtigt war der Vorwurf, «der Ausbau des Hörspiels nach dieser Richtung» sei «in der Schweiz noch nicht einmal ins Auge gefasst, geschweige denn bereits in Angriff genommen» worden. Schon im August 1927 war nämlich in der NZZ ein Artikel von Emil Hess «Zur Frage des Hörspiels» erschienen.8 Dieser bildete den Auftakt zu einer kleinen Hörspiel-Debatte, die sich in der «Schweizerischen Radio-Zeitung» über etwa drei Monate hinzog. Hess ging von einem starken, aber undifferenzierten Wunsch der Hörerschaft nach Theater aus und fragte sich, wie diesem sinnvollerweise nachzukommen sei. Er schlug vor zu prüfen, «ob sich aus der bestehenden Theaterliteratur nicht Werke zusammenstellen lassen, die die Anforderungen der Radiohörer befriedigen, oder aber ob es sich um eine ganz neue Gattung von Theater handelt, die ihre eigenen Gesetze hat, durch die sie inhaltlich und formell bestimmt werden muss.» Ausgehend vom rein akustischen Charakter des Hörspiels, das er nicht mehr bloss als Schauspiel für Blinde, sondern als «das Wort- und Klangspiel» bestimmte, hielt er es für angebracht, «einmal jene Werke anzusehen, die wir als Konversationsstücke bezeichnen» und ein «gutes Lesedrama» einem «ausgesprochenen Spieldrama» vorzuziehen. Die Autoren künftiger Originalhörspiele forderte er auf, sich die besondere Situation des Hörspielers, der «mehr deklamieren als spielen» müsse, und des Hörers, der in seiner alltäglichen Umgebung «der spezifischen Theaterluft» entbehre, zu vergegenwärtigen. Darin verrät sich kaum viel prophetischer Sinn. Am verdienstvollsten ist Hess‘ explizite Aufforderung, «auf breitester Basis die Frage ernsthaft zu diskutieren» und «in einer Rundfrage Vertreter der drei Interessengruppen» zu begrüssen: «Dichter, Schauspieler und Hörer«. (Dichterinnen, Schauspielerinnen und Hörerinnen waren damals grundsätzlich «mitgemeint».)

Bert Herzog nahm die Anregung auf und stellte das Thema in der Programmzeitschrift zur Diskussion. Emil Hess’ Vorschlag zur Art der Selektionierung von geeigneten Stücken wies der Schriftsteller Arthur Manuel (Pseudonym für Arthur Emanuel Meyer) entschieden zurück: «Am allerwenigsten darf es nur „Konversationsstück“ oder gar nur ein blutleeres „Lesedrama“ sein.»9 Und er fuhr fort mit einer Forderung, die wie bei Zimmermann eine frühe Hinwendung zur Idee des Worthörspiels erkennen lässt: «Es muss Plastik haben. Es muss so suggestiv sein, dass es die Phantasie unmittelbar zum selbständigen Nachgestalten geradezu zwingt.» Ob seine eigene Tragikomödie «Der Holzwurm», die eine Woche zuvor (4.10.27) gesendet worden war, diesen Ansprüchen genügt, ist kaum zu beurteilen, solange die Textgrundlage dazu fehlt. Das einaktige Stück, das im Programm ausdrücklich als «Hörspiel heiteren Charakters» bezeichnet wurde10, verrät den Psychologen Manuel. Es behandelt den aus der Unzufriedenheit einer mondänen jungen Dame entspringenden Ehekonflikt, der durch das Eingreifen des «Holzwurms», eines Theaterdichters, gelöst wird.11 Arthur Manuel spielte selbst eine Hauptrolle und lernte so auch die Produktionsseite des Mediums kennen. Die Besprechung seines «Hörspiels» in der Programmzeitschrift wird am Ende dieses Artikels im Wortlaut abgedruckt.

Die praktische Sicht des erfahrenen Hörspielers und Hörspielleiters der «Freien Bühne Zürich» vertrat in der Diskussion Hans Bänninger. Er stiess sich am Begriff des Deklamierens und hob die gesteigerten Anforderungen an den Schauspieler hervor, der sich vor dem Mikrophon «plötzlich seiner körperlichen und mimischen Akzente und Hilfsmittel beraubt» sieht.12 «Deshalb muss der Hörspieler darnach trachten, durch innerlichste Hingabe an die „Hör-Rolle“, durch intensivste Empfindungskraft der Hörspielgemeinde die Atmosphäre des zu vermittelnden Werkes fühlbar zu machen», was besonders schwierig ist, da er «auf die (im Vortragssaal oder Bühnenraum) zurückflutende Stimmung seiner Hörerschaft einen unfreiwilligen und schmerzlichen Verzicht» leistet. Uneins war man sich in der Frage, ob es überhaupt ein originales Hörspiel zu entwickeln gelte. Arthur Manuel glaubte «nicht an diese «Gattung», wenigstens nicht insofern, als sie die Prätention erhebt, etwas Besonderes sein zu wollen», und Hans Bänninger fasste seine bisherigen Erfahrungen mit der «besonders für das Mikrophon erzeugten Marke „Hörspiel“» in dem Satz zusammen: «Es war nicht erhebend!» Ein freier Mitarbeiter der «Radio-Zeitung» jedoch wandte sich gegen ein offenbar verbreitetes Vorurteil: «Das für Radio besonders geschaffene Hörspiel, das wir – abgeschreckt durch die kraftlose Produktion des Auslandes – bisher links liegen liessen, braucht kein absolut wertloses, an Kunst und Geist minimalste Anforderungen stellendes Produkt zu sein».13 Wie schon Arthur Manuel, der die «bescheidenen Honoraransätze» beklagte, «die es einem Schriftsteller nicht leicht machen, besondere Radiohörspiele mit beschränkten Aufführungsmöglichkeiten zu schreiben», sah auch dieser Votant ein Grundproblem bei der «Geldfrage». Indem er vorschlug, «einige ganz neutrale Beobachtungsstationen zu bestellen […], die die Aufgabe hätten, mit kritischer Sonde über diese Abende herzufallen und unvoreingenommen, aber streng Programm und Darstellung zu beurteilen», wies er auf einen weiteren Missstand hin, der die Suche nach dem Originalhörspiel besonders erschwerte: auf das Fehlen einer eigentlichen Hörspielkritik in der Presse.

«Haben die Hörer sich noch nicht zum Wort gemeldet?» fragte ungeduldig Hans Bänninger zu Beginn seines Beitrags: «die wären doch zu allererst in der Lage, ihre Erfahrungen auszukramen und uns armen, von allen Seiten geplagten Produzierenden mit Ratschlägen und Vorschlägen zu dienen!» Von den zwei Hörern, die sich an der Debatte beteiligten, äusserte sich nur einer auch zum Originalhörspiel. Er begründete die Zurückhaltung des Publikums in der Diskussion mit der «Schwierigkeit des ganzen Fragenkomplexes» und versuchte stellvertretend «die Ansichten der werktätigen Hörer über die Hörspiele zu skizzieren.»14 Auch er wandte sich gegen die etablierten Vorbehalte gegenüber ausländischen Produktionen und gab zu bedenken: «Was man z.B. von Stuttgart, Frankfurt, Leipzig usw. in dieser Beziehung vorgetragen erhält, verdient in der Regel allen Beifall. Hier wird ein Hörspiel geboten, welchem man mit Vergnügen nicht nur eine, sondern auch zwei Stunden lauscht. Dieser gleichen Ansicht bin ich schon allzu oft begegnet, als dass sie nur eine persönliche sein kann.» Auch Bänninger hatte sich schon gegen die Beschränkung der Dauer auf maximal eine Stunde und damit gegen Normen gewandt, «die nur einengen, keinesfalls befruchten«.15 Der Beitrag des unbekannten Hörers schliesst daher mit der Aufforderung, es «sollten Versuche gemacht und im Anschluss daran eventuell eine Rundfrage veranstaltet werden, damit die Ansicht der Hörer möglichst zum Ausdruck kommt», und ermutigt die Programmleitung mit der Beteuerung, die Darbietungen des Kammerspielensembles – also unter anderem Arthur Manuels Hörspiel – hätten Anklang gefunden und seien ein guter Ansatz in die vorgeschlagene Richtung.

Wenn auch die Debatte zu keinen neuen Erkenntnissen führte und die vorgebrachten Argumente sich nicht einmal unmittelbar auf die Produktion auswirkten, so hatte sie doch immerhin zum ersten Mal das Thema «Hörspiel» öffentlich zur Diskussion gestellt und ein breiteres Publikum für die Problematik sensibilisiert. Neu war auch, dass man Hörerinnen und Hörer bewusst als Gesprächspartner einzubeziehen versuchte, vorerst mit wenig greifbarem Erfolg, was allerdings nicht anders zu erwarten gewesen war. Immerhin muss man sich fragen, ob die Abstinenz der Hörerschaft in der Diskussion tatsächlich in der Schwierigkeit der Materie begründet war, oder ob nicht eine allgemeine Akzeptanz der «Vereinsstückli», die das «Hörspiel»-Programm immer noch prägten, Ursache des Schweigens war. Dass zur Entwicklung eines eigenständigen Hörspiels eine regelmässige, professionelle Kritik nötig ist, war wenigstens am Rande vermerkt worden.

Schriftsteller und Radio

Die Hörspieldebatte von 1927 hatte wohl kaum zu neuen Erkenntnissen geführt, doch ihre praktischen Auswirkungen waren beachtlich, wenn man die Entwicklung des Originalhörspiels bis hin zum ersten Hörspielwettbewerb 1930/31 und dessen Erfolg bedenkt. Begleitend dazu wurde die Diskussion weitergeführt, von nun an allerdings stärker beeinflusst durch die Vertreter des Radios, die entschieden auf eine praxisorientierte Bestimmung des Hörspiels als einer Synthese von literarischen und technischen Gestaltungsmitteln drängten. In einem ersten Schritt ging es darum, das Gespräch mit den Autoren auf breiterer Basis zu suchen. 1928 äusserte sich Jakob Job, der spätere Direktor von Radio Zürich, in einem längeren Artikel grundsätzlich zum Verhältnis zwischen «Schriftsteller und Radio»16 und postulierte unter anderem, dass «Radioleitungen und Schriftstellerverein gemeinsam» die «Propagierung des einheimischen Schrifttums» betreiben müssten. Er äusserte sich überzeugt davon, dass «auch die jetzt noch skeptischen» unter den Schweizer Schriftstellern «bald genug das Radio als treuen Diener und Helfer an ihrem Werke schätzen lernen werden.»

Schon im Vorjahr hatte der SSV eine besondere Radiokommission unter dem Vorsitz von Jakob Bührer gebildet, was als Wendepunkt in der bis dahin oft von Vorurteilen geprägten Einstellung der Schweizer Autoren gegenüber dem Radio betrachtet wurde. Die meisten von ihnen verfügten nicht einmal über rezeptive Erfahrungen, was bei einem Konzessionärsanteil von erst etwa 2,5% der Bevölkerung im Jahr 1930 nicht sonderlich erstaunt. Werner Hausmann von Radio Basel, der im selben Jahr anlässlich eines Treffens mit dem SSV unter kritischen Beschuss geraten war, weil man sich beim Radio erlaubte, formale Änderungen an Hörspielmanuskripten vorzunehmen, parierte die Attacke durch die schlichte Frage, wer von den anwesenden Autoren ein eigenes Rundfunkgerät besitze. Es waren nur gerade zwei.17 Die Hauptaufgabe der Radiokommission bestand in der Vermittlung zwischen den beiden Institutionen. Insbesondere knüpfte sie Kontakte zwischen der Programmleitung und einzelnen Mitgliedern des Vereins, die mit Rezitationen, Vorlesungen und Vorträgen im Rahmen der wöchentlichen «Stunde des Schweizerischen Schriftstellervereins» und mit Hörspielaufträgen betraut werden konnten.

1930 machte der SSV angesichts der bevorstehenden Reorganisation die «Radiosache» zum Haupttraktandum seiner Jahresversammlung. In seinem Referat über «Die Aufgabe des Landessenders» betonte Jakob Bührer in Entsprechung zu Döblins berühmter Stellungnahme anlässlich der Kasseler Tagung «Dichtung und Rundfunk» 1929 die eminente «Bedeutung des gesprochenen Wortes» und damit des Radios, «dieser ganz unerhörten Erfindung, die meines Erachtens für die Entwicklung der Menschheit entscheidender ist als die Erfindung der Buchdruckerkunst.»18 Er schloss seine umfassenden Ausführungen über den künftigen Landessender als Vermittler von Information, Bildung und Kultur mit dem Aufruf an die Schriftsteller, dem neuen Medium «ein wertvolles, radiogerechtes, zum ganzen Volke sprechendes künstlerisches Werk zur Verfügung [zu] stellen.» Dem Hörspiel, das man als das «wichtigste Problem einer kommenden engeren Zusammenarbeit»19 mit dem Radio betrachtete, galt der grösste Teil der Veranstaltung.

Im Anschluss an Bührers Vortrag hörte man sich eine Übertragung von Albert Ehrismanns «Der Narr und die Sängerin», einer «sürrealen Tragikomödie», aus dem Zürcher Studio an. Mit der Bühnenaufführung von Alfred Fankhausers Hörspiel «Maria Magdalena» versuchten die Veranstalter darauf «den Beweis zu erbringen, dass Hörspiele, die für Radio geschaffen sind, unter gewissen Voraussetzungen auch für die Bühne Geltung erlangen können». Hinter diesem anachronistischen Experiment verbarg sich das Bestreben, den potentiellen Markt für die im Verhältnis zu Bühnenstücken schlecht bezahlten Hörspielmanuskripte zu erweitern und diese für die Autoren attraktiver zu machen, was auch Bührer dazu veranlasste, eine Sprechertruppe des Landessenders zu fordern, die als «Landes- und Wandertheater» geeignete Hörspiele auf den Bühnen verschiedener Städte aufführen sollte.20 Die Probeaufführung anlässlich der Tagung des SSV zeitigte aber ein eindeutig negatives Ergebnis, vermochte sie doch trotz vorzüglicher Darstellung und Regie «nicht die Überzeugung der wechselseitigen Verwertbarkeit als Hör- und Bühnenspiel zu verschaffen.»21

Die Reaktion von Seiten der Zürcher Programmleitung war unverblümt kritisch. Bert Herzog wehrte alle Versuche ab, die «Hörspielfrage» am Schreibtisch, In Vorträgen und Diskussion zu lösen, und forderte von den Schriftstellern praktische Erfahrungen im Umgang mit dem Medium: «das Hörspiel erfährt eine Förderung nur, wenn, wie Willy Haas schrieb, der Autor sich an die Maschine stellt und sie in ihren letzten und feinsten Möglichkeiten erkennen lernt.»22 Die besten Aussichten, einer Lösung des Hörspielproblems näherzukommen, hatte nach seiner Ansicht zur Zeit Friedrich Walther Bischoff, «dessen wirkliche Vertrautheit mit allen technischen Gegebenheiten ihm die Sicherheit der Konzeption gewährt.»23 Nach einer definitorischen Klärung des Begriffspaars Hörspiel/Sendespiel holte er zu einer Skizze der Hörspielentwicklung in der Schweiz aus, die zum derzeitigen Stand des «Raumtonspiels», einer fortgeschrittenen Form des Worthörspiels mit differenzierter Raumakustik, führte. Mit dem Bezug des neuen Studios auf dem Milchbuck wurde es möglich, durch die Verwendung eines speziellen Echoraumes die Nachhalldauer zu variieren und dadurch den Eindruck verschiedener Raumakustiken zu erzeugen.

«Wie aber», fragte Herzog pointiert, «kann der Schriftsteller die mühsam erkämpften Erfahrungen der Programmleiter und Hörspielregisseure verwerten, wenn er von all diesen Dingen keine Ahnung hat; wenn er, wie das nicht selten vorkommt, überhaupt noch kein Hörspiel mitangehört hat?» Mit unnötiger Deutlichkeit machte Herzog klar, dass auch radio-intern Spannungen in der Hörspielproduktion bestanden. Hans Bänninger, der Regisseur der «Freien Bühne» und gelegentlicher Darsteller, zum Beispiel als «Holzwurm» in Arthur Manuels «Hörspiel», musste sich angesprochen fühlen.

«Die Schweizer Sender haben meistens Leute, die alles andere sind, nur keine Dramaturgen. Sie müssen zudem die Regie aus der Hand geben; denn der Leiter eines Ensembles, der wohl in vielen Fällen die nötige Bühnenerfahrung, aber sehr oft keine Ahnung von einem Hörspiel hat, leitet die Hörspielproben und die Aufführung, wobei es sogar vorkommt, dass dieser Regisseur infolge Mangels an geeigneten Kräften selbst noch eine oder die Hauptrolle innehat. Die ausländischen Sender sind in der Lage, alle Rollen mit wirklich geeigneten Kräften zu besetzen; die Schweizer Sender müssen sich oft Dilettanten reinsten Wassers gefallen lassen.»24

Von der Theorie zur Praxis…

Die Hörspieldebatte hatte alle möglichen Mängel im Produktionsprozess aufgezeigt. Oft wird auch erkennbar, dass man sich an der ausländischen Diskussion und Theorie und gelegentlich sogar an deren praktischen Ergebnissen orientierte. Wichtig sind Bührers Verweis auf Alfred Döblin und Herzogs Erwähnung von Friedrich Walther Bischoffs Hörspielschaffen. Auf die Idee, die eigenen Produktionen zu analysieren, kamen die Beteiligten aber nicht. 1927 hätte man bereits Altheers «Fünflampenapparat», Manuels «Holzwurm» und Schweizers «Abend im Hause Wesendonck» diskutieren und vergleichen können.

Durch den Umzug ins neue Studio auf dem Milchbuck gingen vermutlich die Skripte von Manuels «Holzwurm» sowie aller Hörspiele von Richard Schweizer verloren. Schweizer beteiligte sich nicht an der Hörspieldebatte und seine Hörspiele wurden auch von niemandem erwähnt. Er weilte zwar nach anfänglicher Tätigkeit als Filmrezensent bei der NZZ um 1920 während mehrerer Jahre als Korrespondent für kulturelle und politische Themen in Berlin, doch war er mit den Laientheatertruppen, denen die Aufführung der in Zürich produzierten Sendespiele seit Anbeginn oblag, eng verbunden. Durch seinen Vater, der um 1910 als Präsident des «Dramatischen Vereins Zürich» amtierte, war er schon in seiner Jugend mit der Laienbühne in Berührung gekommen. 1925 zählte Schweizer zu den Mitarbeitern der von Bührer und Schmid gegründeten «Freien Bühne», die wenig später auch seine Hörspiele interpretierte.25

Die teils ausführliche Besprechung von Schweizers Hörspielen wird in einem separaten Artikel referiert. Die Vorstellung der kurz zuvor produzierten Tragikomödie «Der Holzwurm» durch den Autor soll im Folgenden als Dokument im Wortlaut publiziert werden:

3. Oktober 1927, 20.30 (ca.)
III. Kammerspiel der Radio-Station Zürich

Der Holzwurm

von Arthur Manuel

Mitwirkende: Berta Kempter, Frau Cessi; Arthur Manuel, der Mann; Hans Bänninger, Herr Merk, „der Holzwurm“
Ort: Bürgerliches Wohnzimmer der Gegenwart
Dauer: ca. 40 Min.

Der Holzwurm. Tragikomödie in einem Akt von Arthur Manuel

«Ein Holzwurm als „Held“ einer Tragikomödie? Jawohl! Natürlich keiner im Getäfer, sondern einer dahinter. Hören Sie: Bei einem gewissen, noch ziemlich jugendlichen, aber nicht mehr ganz harmonischen Ehepaar hat sich ein sonderbarer Mieter ins „Séparée“ gesetzt, ein überaus ruhiger Herr, der scheinbar keine andere Beschäftigung hat, als tatenlos an seinem Schreibtisch zu sitzen. In Wirklichkeit aber entpuppt er sich als eine Art seelischer „Staubsauger“, der mittels gewisser, besonders bei Dichtern entwickelten Organen den Zwistbazillus des Ehepaares in sich aufsog, ihn aber so lange geheim behält, bis das Ehepaar dicht vor der Katastrophe steht. Madame Cessi nämlich, die ruhelose, ehrgeizige Frau, hetzt aus einer ihr selbst nicht ganz eingestandenen Ursache ihren armen, ziemlich philisterhaften Gemahl von einem Abenteuer ins andere. Warum? Ach, du lieber Gott! Weil ihr irgend etwas fehlt. Irgend etwas, das sie schon lange haben könnte. Wenn sie nur die Kraft und den Wunsch dazu hätte. Ja, aber sie ist ja doch eine mondäne Frau. Und, denkt sie, versuchen wir’s, als Ersatz, zuerst einmal mit einem „Vögelchen“. Ihr Dodo soll ihr – wie vielen ihres Geschlechts das Hündchen – die Mutterfreude ersetzen. Aber, wie gesagt, ganz gelingt es ihr nicht. Ihre Gier nach Wärme und Sonne sucht sie vorerst, nun zum letztenmal, im elektrischen Licht eines erzwungenen künstlerischen Erfolges ihres Mannes zu befriedigen. Heute abend ist Première. Sie hat sogar die Agenten geschmiert… Aber nun schmiert sie der Teufel. Nirgends ist es ihr wohl. Sie stürzt sich in Toilette, wagt aber doch nicht ins Theater zu gehen. Sie hetzt ihren Mann; aber auch dem sitzt schon lange ein geheimer Schrecken in den Knochen. Der Zweifel hat ihn angebohrt. Der Holzwurm, der Mieter da drüben, hat ihn auf unheimliche Weise durchschaut. Sagte aber bis heute seltsamerweise kein Wort. Lässt ihn gehen. Sieht zu, wie die Frau ihn in einen Skandal hineintaumeln lässt. Dann aber taucht er plötzlich auf. Vor ihr. Klärt ihr den Kopf. Heizt ihr Gedärm. Lockt ihre geheimsten Gedanken und Wünsche hervor. Zwingt sie zu gestehen: wer war der Tyrann? Ihr uneingestandener unbefriedigter Muttertrieb, Ruhm oder Kind? „Das Stück ist Kitsch!“ behauptet der Holzwurm, der sich als wirklicher Theaterdichter entpuppt, und dem es durch telephonischen Eingriff gelingt, das Ehepärchen vor Skandal und dauerndem Zerwürfnis zu retten. Sie beichtet ihrem Mann, der nach einem kurzen Hausgewitter, durch die Aussicht auf einen Fleischeserben, ins Land der Versöhnung blickt, nachdem er mit seiner Frau das seinem letzten Zornausbruch zum Opfer gefallene Scheinglück „Dodo“ begraben. So löst sich die „Tragödie“ als Komödie auf.

Die Aufführung des amüsanten Einakters, in dem nebst dem Vogel „Dodo“ und dem Ehepärchen die Hauptrolle vom „Holzwurm“ selber gespielt wird, dürfte ca. 40 Minuten dauern. Neben einem imaginären Vogel und dem Verfasser Arthur Manuel sind in den Rollen Hans Bänninger als „Holzwurm“ und Frl. Berta Kempter als Frau Cessi beschäftigt. Der Einakter, als drittes „Kammerspiel“, wird zwischen Scholz‘ „Wettlauf mit dem Schatten“ und Hugo von Hofmannsthals „Tor und Tod“ eine willkommene leichtere Abwechslung bieten. Der Verfasser bittet, den Einakter gleichzeitig als einen Versuch zur praktischen Lösung der Hörspielfrage betrachten zu wollen.» 26

Zur Frage des Hörspiels

«Verehrter Herr Herzog!

Sie wünschen meine Ansicht über das „Hörspielproblem“. Gestatten Sie mir, mich kurz zu fassen. Ich glaube nicht an diese „Gattung“, wenigstens nicht insofern, als sie die Prätention erhebt, etwas Besonderes sein zu wollen. Ein „Hörspiel“ muss auch gespielt und gesehen werden können. Am allerwenigsten darf es nur „Konversationsstück“ oder gar nur ein blutleeres „Lesedrama“ sein. Es muss Plastik haben. Es muss so suggestiv sein, dass es die Phantasie unmittelbar zum selbständigen Nachgestalten geradezu zwingt. Auch die geistigen Anforderungen dürfen nicht hinter dem eigentlichen „Bühnenstück“ zurückstehen. Im Gegenteil! Unsinn kann hier durch keine Geste erlöst werden. Wird mein Ohr beleidigt, so streikt auch der Verstand. Wir stehen also, übrigens wie auch das Theater, ständig vor einem Stückproblem. Welches Theaterstück ist nun aber mikrophonfähig? Das, das sich am weitesten entfernt vom Film. Der Film ist nur auf das Auge, das Hörspiel nur auf das Ohr eingestellt. Es ist gut, die absoluten Gegensätze vor Augen zu haben. Die Mikrophonbearbeitung erprobter Theaterstücke verlangt die Uebersetzung alles nur Visuellen ins Akustische. Arbeit nicht eines Stümpers, sondern des Dichters! Eine beinahe unmögliche Arbeit! Warum? Weil ein Hörspiel keinesfalls „abendfüllend“ sein darf. Eine Stunde ist das Maximum, was vom Hörer verlangt werden kann. Das „ideale Spiel“ wäre der gehaltvolle dreiviertelstündige „Einakter“. Mit – das sei bemerkt – maximal fünf Personen. Damit komme ich zur Geldfrage. Fr. 50 Autorenhonorar bei einmaliger Aufführung! Lohnt sich so was? Es sollte möglich sein, ein gutes Stück auch vor dem Mikrophon mehr als einmal zu geben. Damit es aber auch anständig honoriert werden kann, sollte es nicht nur von einer einzelnen Station, sondern von einer Sendegesellschaft erworben und so viel als möglich ausgebeutet werden. „Hörspieldichter“ hervor!

Zürich, 20. September 1927                               Arthur Manuel» 27

Ausnahmsweise folgen hier zahlreiche Nachweise und Anmerkungen. Damit ist gewährleistet, dass besonders interessierte Leserinnen und Leser die Zitate verifizieren und den Verlauf der Debatte im Original nachverfolgen können.

  1. vgl. den Artikel «Hörspiel» in Wikipedia ↩︎
  2. Job, Jakob, Zehn Jahre Radio Zürich, Zürich (Fachschriften-Verlag) 1934, S.52 ↩︎
  3. Schweizerischen Radio-Zeitung SRZ 1/30, S.7 ↩︎
  4. B.Hzg., Ein akutes Programmproblem (Hörspielfrage), in: SRZ 25/30, S.449 ↩︎
  5. Altheer, Paul, Die Reorganisation vom Standpunkt eines alten Praktikers aus, in: SRZ 39/28, S.614 ↩︎
  6. Herzog, Bert, Studiotechnische Regie und Reorganisation, in: SRZ 39/28, S.611 ↩︎
  7. Zimmermann, Werner, Hörspiel und Fusion, in: SRZ 39/28, S.623 ↩︎
  8. Hess, Emil, Zur Frage des Hörspiels, in: NZZ, 30.8.27, Morgenausgabe ↩︎
  9. Manuel, Arthur [= Arthur Emanuel Meyer], Zur Frage des Hörspiels, in: SRZ 40/27, S.545 ↩︎
  10. vgl. Anonym, Kammerspiele der Radio-Genossenschaft Zürich, in: SRZ 1/30, S.7 ↩︎
  11. Anonym, Der Holzwurm. Tragikomödie in einem Akt von Arthur Manuel, in: SRZ 39/27, S.529 ↩︎
  12. Bänninger, Hans, Zur Frage des Hörspiels, in: SRZ 42/27, S.581; vgl. auch H.B. [= Hans Bänninger], Über Hörspieldarbietung, in: SRZ 26/30, S.465 f ↩︎
  13. -e-, Notizen über Hörspiele, in: SRZ 46/27, S.662 ↩︎
  14. W.H. [= Werner Hausmann], Zur Frage des Hörspiels, in: SRZ 49/27, S.733 ↩︎
  15. Bänninger, 1927, S.581 ↩︎
  16. Job, Jakob, Schriftsteller und Radio, In: SRZ 32/28, S.489 f ↩︎
  17. Auch in den Erläuterungen zur Ausschreibung des Hörspielwettbewerbs wird darauf hingewiesen, «dass erstaunlich viele Schriftsteller noch nicht im Konzessionärregister figurieren!» (-th-, Hörspielwettbewerb, In: SRZ 32/30, S.560) ↩︎
  18. Bührer, Jakob, Die Aufgabe des Landessenders, in: SRZ 24/30 (Vortrag, gehalten am 3.Mai in Thun am öffentlichen Demonstrationsabend des S.S.V.), S.433 ↩︎
  19. th., 1930, S.400 ↩︎
  20. Bührer, 1930, S.435; Bührer sah darin wohl eine Möglichkeit, das von ihm bereits 1912 postulierte schweizerische Nationaltheater auf diesem Wege doch noch zu realisieren. Diesen Gedanken griffen noch in den sechziger Jahren G. Thürer und in den siebziger Jahren M. Esslin wieder auf. ↩︎
  21. -th-, Hörspielwettbewerb, In: SRZ 32/30, S.400 ↩︎
  22. B.Hzg. [= Bert Herzog], Ein akutes Programmproblem (Hörspielfrage), in: SRZ 25/30, S.449; die Äusserung von W.Haas aus dem Jahr 1929 wird zitiert in Herzogs Artikel «Rundspruch und Schriftsteller» in: SRZ 26/30, S.465 ↩︎
  23. B.Hzg., 1930, S.449 ↩︎
  24. Herzog, 1928, S.611 ↩︎
  25. vgl. Dumont, Hervé, Geschichte des Schweizer Films. Spielfilme 1896-1965, Lausanne (Schweizer Filmarchiv) 1987, S.202 und S.157 ↩︎
  26. SRZ 39/27, S.II ↩︎
  27. SRZ 40/27, S.545 ↩︎

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