99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

Erste Hörspiele vom Zürcher Radio

«Ein Abend im Hause Wesendonck» (1927)

Am 25. November 1927 wurde von Radio Zürich als erste Produktion in der Reihe «Hörbilder aus Zürichs Vergangenheit» eine Szene von Richard Schweizer, «Ein Abend im Hause Wesendonck», gesendet. In der Programmzeitung wurde die Sendereihe als «Hörspielzyklus der „Freien Bühne“ Zürich» angekündigt. In der anonymen Besprechung, die im Folgenden in ihrer ganzen Länge zitiert ist, wird irrtümlich Richard Schneiter als Autor angegeben, der dem Zürcher Radiopublikum bestens bekannt und für seine trivialen Sendespiel-Grotesken beliebt war. Der tatsächliche Autor des ersten wirklichen Hörspiels  war aber Richard Schweizer, der seit längerer Zeit als Journalist in Berlin arbeitete und mit der Diskussion um das Hörspiel in Deutschland bestens vertraut war. Dem Zürcher Radiopublikum hingegen (und offenbar auch dem Verfasser der Besprechung in der «Radio-Zeitung») war er bis dahin unbekannt.

Als Personen des «Hörbildes» werden angegeben: Mathilde Wesendonck, Richard Wagner, Hans Bülow, Cosima von Bülow, geb. Liszt, Gottfried Semper, Prof. am Polytechnikum, Dr. Jakob Sulzer, Regierungsrat, Gottfried Keller, Tichatscheck, Opernsänger an der k. k. Hofoper zu Dresden, Musiker, ein Dienstmädchen. Ort: Villa Wesendonck in der Enge bei Zürich. Zeit: Herbstabend im Jahre 1857. (Schweizerische Radio-Zeitung, Nr. 46, 1927, S. III, Freitag, 25. November 1927)

Am 3. Oktober 1927 war schon das Kammerspiel «Der Holzwurm» von Arthur Manuel gesendet worden, der die Leser der «Radio-Zeitung bittet, «den Einakter gleichzeitig als einen Versuch zur praktischen Lösung der Hörspielfrage betrachten und prüfen zu wollen.» Die Beschreibung legt aber nahe, dass sich diese Produktion nicht wesentlich von den gängigen Sendespielen unterscheidet. Auch Schweizers erstes «Hörspiel» oder «Hörbild» hebt sich von den bisherigen Adaptionen nur durch ihren «Revue»-Charakter ab, indem, entsprechend dem Thema, Musik und Gesang von Richard Wagner integriert werden. Die Produktion wurde mit folgenden Worten angekündigt:

«Um es nicht mit dem trockenen Theoretisieren über Hörspiele bewenden zu lassen, wollen wir einmal die Gelegenheit beim Schopfe fassen und am praktischen Beispiel zu ergründen suchen, ob nicht unserm Hörspielprogramm etwas frisches Blut aufzupflanzen wäre. Mit kurzen Worten gesagt: ein kleiner Zyklus von Hörspielen ist geplant, der unter dem Sammeltitel „Hörbilder aus Zürichs Vergangenheit“ marschieren und eine Art kulturhistorischer Revueszenen bringen soll, die, im leichten Unterhaltungston geschrieben, Hörbilder aus einer früheren Epoche Zürichs erstehen lassen sollen. Wir beginnen mit einem „Abend im Hause Wesendonck“, einer frei komponierten Wagner-Reminiszenz, die erwünschte Gelegenheit bietet, Musik und Gesang mit dem von Richard Schneiter [sic!] (Zürich) verfassten Text zu verbinden. Möge das Hörbild, das vorerst nur als Experiment gewertet sein will, eine wohlwollende Hörerschaft finden! Wenn es Gefallen findet, soll der Zyklus mit weiteren Hörbildern aus Zürichs Kulturgeschichte weitergeführt werden.»

(Anonym, Schweizerische Radio-Zeitung, Nr. 46, 1927, S. 663)

«Klopstocks Fahrt nach der Au» (1928)

1928 wurde von Richard Schweizer am Zürcher Radio eine «Sechseläutenszene» gesendet, über die nichts Näheres bekannt ist (vgl. Schweizerische Radio-Zeitung, Nr.1, 1929, S.6). Am 9. Mai 1928 folgte Schweizers zweites «Hörbild aus Zürichs Vergangenheit». Es wurde wiederum von der «Freien Bühne» live vor dem Mikrophon aufgeführt und hatte den Titel «Klopstocks Fahrt nach der Au». Personen gemäss Programm-Zeitschrift: Klopstock; Joh. Jac. Bodmer, Ratsherr und Professor; Dr. Joh. Casp. Hirzel, Arzt; Doris Hirzel, auch Daphne genannt, dessen Frau; Sal. Wolf, philos. Schriftsteller; Joh. Heinr. Schinz, ein junger Geistlicher; Hartmann Rahn, ein Zürcher Kaufmann, späterer Schwager Klopstocks; Anna Maria Schinz; ein Schiffsmeister. Übrige Personen: Sal. Hirzel und Gemahlin; Sal. Wolfs Gemahlin; Anna Keller, eine Schülerin Wolfs; Joh. Schinz, ein junger Kaufmann; der junge Keller von Goldbach; Frau v. Muralt; zwei Demoiselles aus Zürich; Schiffleute und Musikanten. Ort: Ein Festkahn auf dem Zürichsee und nachher die Halbinsel Au bei Zürich. Zeit: Der 30. Juli anno 1750. Dauer gemäss Programmzeitschrift: ca. 75 Minuten. (Schweizerische Radio-Zeitung, Nr.18, 1928, S. X, Mittwoch, 9. Mai)

Friedrich Gottlieb Klopstock. Porträt von Johann Caspar Füssli, 1750 (Quelle: Wikipedia)
Johann Jakob Bodmer in jüngeren Jahren. Zentralbibliothek Zürich (Quelle: Wikipedia)

Dieses Hörspiel wurde in der Radio-Zeitung ausführlich besprochen. Hier der vollständige Text:

«Wer schon einmal seit der Neuordnung des Zürcher Kunsthauses die Säle der alten Meister durchwandert hat, dem wird vielleicht ein ziemlich grosses Oelbild von Heinrich Füssli aufgefallen sein, das zwei Herren in geistreicher Unterhaltung zeigt. Befragt man sich näher, dann wird man darauf aufmerksam gemacht, dass diese beiden Klopstock und Bodmer sind. Das Bild ist eine Reminiszenz an Klopstocks Aufenthalt in Zürich im Sommer 1750.

Dieser Aufenthalt Klopstocks in unserer Stadt – genauer: jene prächtige Seefahrt nach der Halbinsel Au – bildet den Inhalt eines Hörbildes, das Richard Schweizer für den Hörspielzyklus „Aus Zürichs Vergangenheit“ geschrieben hat, und das am 9. Mai zum erstenmal aufgeführt werden soll. Die erwähnte Fahrt über den See nach der Au fand zu Klopstocks Ehren auf Veranlassung des Zürcher Arztes und Dichters Kaspar Hirzel am 30. Juli 1750 statt. Schöne Frauen und Mädchen und junge, elegante Herren begleiteten den Dichter des „Messias“, und Klopstock hat dieses Ereignis in seiner berühmt gewordenen „Ode an den Zürichsee“ verherrlicht.

Zu Beginn des Spieles ist die ganze fröhliche, schwärmerische Gesellschaft in einem grossen Ruderboot auf der Fahrt nach der Insel Auf. Unter Lachen und Necken wird gesungen und getändelt, und der lebenslustige junge Dichter ist der bewusste Mittelpunkt der Unterhaltung. Der alte Bodmer aber, auf dessen Veranlassung eigentlich Klopstock nach Zürich gekommen war, sieht diesem leichtblütigen Treiben mit griesgrämiger, sorgenvoller Miene zu. Er hat sich den Verfasser der göttlichen Verse, der „Messiade“, anders vorgestellt. Und in einem längeren Gespräch mit seinem Freunde Hirzel beklagt sich der etwas philisterhafte Bodmer bitter über diese Enttäuschung und beschliesst, dem nach seiner Meinung leichtfertigen und eines hohen Dichters unwürdigen Treiben ein Ende zu machen.

Die jungen Leute aber lassen sich in ihrer Fröhlichkeit nicht stören. Endlich stösst das Schiff bei der Au an Land, man steigt aus und begibt sich etwas bergan zu einer kleinen Unterhaltung. Immer verfolgt Bodmer (der zwar an jener Seefahrt nicht teilgenommen hatte, aber im Hörspiel zu einer der wichtigsten Personen wird) argwöhnisch das Treiben. Die Gesellschaft veranstaltet nach der Mode jener Zeit kleine Schäferspiel, und Klopstock benützt diese Gelegenheit, der kleinen, etwas linkischen und schüchternen Doris in scharmanter Weise sein Zuneigung zu eröffnen. In salbungsvollem Zwiegespräch schwärmen die beiden von der Liebe; aber die ganze, freudetrunkene Szene wird jäh unterbrochen durch Bodmer, der mit bitteren Vorwürfen den Dichter überfällt und ihm seine Freundschaft kündigt, weil dieses weltliche Treiben den Geist verdunkle und Klopstock aus seinen hohen, erhabenen Träumen der Dichtung auf die Erde niederziehe. In erregter Weise geraten die beiden aneinander. Klopstock aber fühlt mit gesundem Instinkt, dass diese harmlosen Lustbarkeiten für ihn notwendig sind, um ihn vor Verstiegenheit zu bewahren, und er beschliesst, dem alten Bodmer zu beweisen, dass gerade nach solchen Stunden der Entspannung und Erholung die Kraft zum Dichten um so stärker hervorbreche: zum Erstaunen aller dichtet er nach kurzer Sammlung seine „Ode an den Zürichsee“, deren Schönheit auch den alten Bodmer wieder versöhnt. Und in gehobener Stimmung wird nun die Rückfahrt angetreten.»

(Anonym, Schweizerische Radio-Zeitung, Nr. 18, 1928, S. 285 f)

«Napoleon auf St. Helena» (1929)

Am 12. Juli 1928 inszenierte die «Freie Bühne» Richard Schweizers Hörspiel «Napoleon auf St. Helena». Der Autor, Richard Schweizer, stellte es in der «Schweizerischen Radio-Zeitung» ausführlich vor. Hier der Text im vollen Wortlaut:

«“Der äussere Anblick der Insel ist der traurigst und trostloseste, den man sich denken kann.“ So das Urteil O’Mearas, der als englischer Wundarzt auf dem Schiffe „Bellerophon“ in nähere Beziehung zu Napoleon getreten ist und nun auf die Insel kommt, um das Exil drei Jahre lang mit ihm zu teilen. Zwar erweist sich bald, dass es Orte gibt, an denen das Leben wenigstens erträglich sein kann. Auf Plantationshouse, dem Wohnort des Gouverneurs, fliessen Bäche und ermöglichen die Anlage von Wiesen und Gärten. Longwood dagegen, der Aufenthaltsort des Gefangenen, ist jeder Vegetation bar. Es liegt auf der Windseite der Insel, durch seine fast 2000 Fuss hohe Lage stets in Nebel eingehüllt und den grössten Teil des Jahres von Regen überschwemmt; durchbricht die Sonne das Gewölk, brennt topische Glut. Kein Bewohner der Insel nimmt hier bleibende Wohnung; die Schädlichkeit es Aufenthaltes ist allgemein bekannt: von 630 Mann englischer Truppen sterben in zwölf Monaten 56. All diese Tatsachen, der ohnehin unterminierte Gesundheitszustand sind der englischen Regierung bekannt. Sie tut nichts, um das Los ihres Gefangenen zu bessern. Man wünscht seine Lebensdauer möglichst abzukürzen.

Hudson Lowe, ehemals im Spionagedienst tätig, übt seine Gouverneurspflichten mit der Gesinnung eines Kerkermeisters aus. Ob es Lebensmittel, Trinkwasser, Bewegungsfreiheit, ob es Besuche oder Nachrichten von der Familie betrifft – alles gibt Anlass, den Gefangenen zu erniedrigen. Er leidet mehr unter dieser Behandlung als unter der elenden Umgebung, dem verderblichen Klima. Einst trug er ohne Klage die Welt auf seinen Schultern, jetzt stöhnt er: „On m’assassine à coups d’épingles.“ –

Das Hörspiel ist zeitlich ins letzte Lebensjahr des Kaisers verlegt. Napoleon spricht mit dem Meer, dem Wind, der Sonne, mit seinem eigenen Schatten. Die Aufstellung dieser Gegenspieler hat dreifachen Grund. Die Anrufung übermenschlicher Gewalten ist Ausdruck der grenzenlosen Verlassenheit; letzten Endes ist alles, was gesagt und erwidert wird, Selbstgespräch, eine Aeusserung von Selbstspott, Selbstanklage und Selbsttrost, wie sie nur der einsamsten Seele entspringen kann. Im fernern: welche andere menschliche Gestalt hätte neben der populärsten weltgeschichtlichen Figur nicht verblassen müssen? Auf schaubare Darstellung, ausführliche Charakteristik unbekannter Persönlichkeiten muss ein Hörspiel notgedrungen verzichten. Napoleon selber, St. Helena sind Begriffe, für die auch beim Hörer im hintersten Dorfe die Grundlagen als bekannt vorausgesetzt werden können. Naturkräfte werden nicht schwerer einen Widerhall finden, ihrer Erscheinung haftet zudem mythisches Wesen an: so klingen sie zusammen mit der Stimmung des Kaisers, der auf sein Leben wie auf eine Sage zurückschaut. Endlich liegt der Gedanke auch im historischen Stoff begründet. Hier zwei Worte Napoleons: „Mein Misserfolg wurde durch die Elemente verursacht: das Meer richtete mich im Süden zugrunde, im Norden der Brand Moskaus. Wasser, Luft und Feuer zeigten sich der Welterneuerung feindselig.“  „Wenn ich mir eine Religion wählen müsste, würde ich die Sonne als Gott verehren, denn sie belebt alles.“ – Die Gestalt des Schattens lag nahe; er deckt sich seinem Inhalt nach mit einem Ausspruch Las Cases, der dem Manuskript des Hörspiels als Motto vorangesetzt ist: “ Um Napoleon gerecht zu werden, müsste man auch jene grossen Taten, die man ihn nicht vollbringen liess, mit auf die Wagschale legen.“»

(R. Schw., Schweizerische Radio-Zeitung, Nr. 27, 1929, S. 443 f)


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