Das Originalton-Hörspiel hat eine gewisse Gemeinsamkeit mit dem ready made oder objet trouvé in der Bildenden Kunst: Sein «Text» ist der tönenden Realität abgelauscht, nur ist es nicht ein Objekt, sondern eine Vielzahl von Wirklichkeitsausschnitten, die gesucht, teils provoziert und zum Kunstwerk arrangiert werden. Schall und Geräusch sowie der Vielklang der gesprochenen Sprache werden hier zum Ereignis. Die Kunst der Autorinnen und Autoren besteht in der Recherche sowie in bewusster Auswahl, Schnitt und Montage, also in der Komposition der Originalton-Aufnahmen. Das Originalton- oder O-Ton-Hörspiel bewegt sich im Überschneidungsbereich zwischen dem Hörspiel herkömmlicher Machart und dokumentarischen Sparten wie Feature, Reportage, Interview. Die Schwierigkeiten der Abgrenzung sind auch Thema des Blog-Beitrags «Hörbild – Hörfolge – Feature».
Experimentelle Produktionen dieser Art wurden zu allen Zeiten nur mit Zurückhaltung ins Programm der Hörspielabteilung von Radio DRS übernommen, eigene Produktionen haben Seltenheitswert. Das hat seine Gründe zum einen im geringen Interesse der Autorinnen und Autoren an der Erprobung von Techniken, die den Bereich des Literarischen überschreiten und somit die enge Zusammenarbeit mit Fachleuten des elektronischen Mediums nötig machen. Viele Originalton-Hörspiele stammen deshalb von Mitarbeitenden der Abteilung «Dramatik». Zum andern wurde das Experimentalhörspiel bei Radio DRS analog zur bewährten Praxis der BBC eher als ausserordentliches Mittel zur Erkundung neuer akustischer Erfahrungsbereiche und Gestaltungsmöglichkeiten betrachtet, das besonders herausragenden Projekten vorbehalten bleiben sollte. Die Zurückhaltung auf diesem Gebiet ist auch durch die oft hohen Aufwendungen für solche Produktionen begründet, die sich angesichts des kleinen Interessentenkreises unter den Zuhörenden nur schwer rechtfertigen lassen. Im Folgenden zeige ich, dass die O-Ton-Experimente des Neuen Hörspiels dennoch von den Programmschaffenden und auch von einzelnen Autorinnen und Autoren aufgenommen und – meist mit etwas Verzögerung und bescheidenerem Aufwand – auf schweizerische Verhältnisse übertragen wurden. Trotz der zum Teil skeptischen Reaktionen kann man diese frühen Ansätze der siebziger Jahre aus heutiger Sicht als Erfolg werten, haben sie doch dem Hörspiel der letzten zwanzig Jahre entscheidende Impulse gegeben.
Paul Pörtner hat in seiner ersten «Schallspiel-Studie» (BR, 1964) die schrittweise Transformierung einer normalen Hörspielszene in eine rein akustische Komposition experimentell erprobt. In der am stärksten formalisierten Variante geht die «Verschmelzung von Geräusch und Sprache» so weit, dass Wassertropfen scheinbar zu sprechen, zu lachen, zu singen beginnen.69 Pörtner hat aber nicht nur als Erster in neuerer Zeit im Grenzgebiet zwischen Hörspiel und Musik experimentiert, sein Originalton-Hörspiel «Treffpunkte» (WDR/BR/SWF, 1969) war auch unter den ersten Produktionen, in denen der Grenzbereich zwischen Hörspiel und Feature erkundet wurde. Während die schallspielartigen Versuche bis zur Mitte der achtziger Jahre keine Auswirkungen auf das Schweizer Hörspielschaffen hatten, tauchten Originalton-Eigenproduktionen schon kurze Zeit nach dem Bekanntwerden solcher Tendenzen in der Bundesrepublik im DRS-Programm auf. Das hat zweifellos seinen Grund darin, dass solche Spiele oft publikumswirksamer sind als manches literarische Worthörspiel, während es musikalische Experimente, wie Pörtner bald einsah, schwer haben, überhaupt eine Hörerschaft zu finden.
In der BRD verlief die Entwicklung dennoch umgekehrt, vor allem wohl deshalb, weil in Form des WDR-Experimentalstudios institutionelle Voraussetzungen vorhanden waren, die den Interessen initiativer Komponisten entgegenkamen, während im Originalton-Hörspiel durch Tradition verfestigte Sparten- und Ressortgrenzen zu überwinden waren. Klaus Schöning verstand diese mit etwas Verzögerung einsetzende Bewegung als willkommene Erweiterung des absichtlich unscharf gehaltenen Begriffes «Neues Hörspiel», die ihm notwendig erschien, um diesen «in Erinnerung und offen zu halten auch für uneingelöste Vorstellungen.»1 Theoretisch wurde die Verwendung von Originalton-Dokumenten im Hörspiel durch Brechts Forderung untermauert, den Hörer als «Lieferanten» in die radiophone Kommunikation miteinzubeziehen und so die reine Distributionsfunktion des Mediums zu durchbrechen.
O-Ton-Transkript als Dialog-Material
Dürrenmatt hatte den Schreibtisch noch ohne Zögern als den Arbeitsplatz des Hörspielautors bezeichnet. Von dieser bis heute vorherrschenden Auffassung und somit vom herkömmlichen Bild des Schriftstellers muss sich ein Autor lösen, wenn er als Hörspielmacher mit Originalton, mit «tönende[r] Sprache» im eigentlichsten Sinne, arbeiten und selbst «Dinge machen» will, «die tönen», wie Döblin in seinem berühmten Vortrag 1929 gefordert hatte.2 Dass die meisten Autorinnen und Autoren diesen Schritt nicht wagen, teils wohl auch aus Scheu vor den technischen Komplikationen und Reibungsverlusten, die sich durch die Zusammenarbeit mit Vertretern des Mediums ergeben können, ist sicher ein Grund, weshalb nur wenige Produktionen dieser Art entstanden sind. Ein anderer Grund mag im Zögern der professionellen Hörspielmacher von Radio DRS zu suchen sein, allzu viel von ihren Kompetenzen abzutreten und schwer kalkulierbare Risiken einzugehen. Es scheint deshalb bezeichnend, dass etwa die Hälfte der entsprechenden Produktionen, die zwischen 1970 und 1978 entstanden, ausschliesslich von Radiomitarbeitenden konzipiert und realisiert wurden.
Dass die erste Produktion, die von Originalton-Aufnahmen ausging, nicht ein internes Projekt war, sondern von einem jungen Autor ohne Radioerfahrung stammte, ist erstaunlich. In der Art ihrer Entstehung, die ihr einen besonderen Charakter verleiht, drückt sich deutlich die beschriebene Neigung aus, die Sphären des Autors und der Produzierenden in bewährter Art auseinanderzuhalten. Dem Dialog «D’Schlummermueter» (1971) liegen Tonbandaufzeichnungen zugrunde, die Hansjörg Schneider im Herbst 1970 von Gesprächen mit einer seiner ehemaligen Zimmervermieterinnen gemacht hatte. Dass die alte Frau bereit gewesen wäre, sich ebenso spontan und ausführlich zu äussern, wenn ein Techniker des Radios die Aufnahmen besorgt hätte, scheint eher unwahrscheinlich. Zumindest muss angenommen werden, dass durch solche äusseren Faktoren die Unbefangenheit verlorengegangen wäre, die den Reiz dieser Produktion ausmacht. Schneider ging von eigenen Tonaufzeichnungen aus, die er im genauen Wortlaut in schriftliche Form übertrug. Aus dieser Rohfassung entstand durch Kürzung und leichte Bearbeitung das Manuskript des Dialekthörspiels, dessen «Rollen» vom Autor selbst und von Elfriede Volker unter der Regie von Joseph Scheidegger im Studio gesprochen wurden.3 Zwei Jahre später erschien eine hochdeutsche Bearbeitung der Urfassung in Buchform, die mehr als dreimal so lang ist wie das Hörspielmanuskript und sich nun als ununterbrochener Monolog präsentiert. Obwohl sich diese Übertragung stark an die Umgangssprache anlehnt, ging mit der Mundart auch viel vom Reiz der ursprünglich gesprochenen Form verloren.4 1976 erschien unter demselben hochdeutschen Titel auch eine Bearbeitung für die Bühne.
Obwohl diesem Projekt als authentische Zeugnisse die Lebenserinnerungen einer alten Frau zugrunde liegen, kommen keine Zweifel am fiktionalen Charakter des Endprodukts auf. Zu bedeutend ist die Bearbeitung durch den Autor, als dass dieses als dokumentarische Sendung missverstanden werden könnte. Der Hinweis in der Programmzeitschrift spricht von einem «Extrakt» aus dem wörtlichen Transkript, womit auf die beträchtlichen Kürzungen, auf bewusste Auswahl und Umstellungen hingewiesen ist. Obwohl der Redefluss kaum Einschnitte und keinen Aufbau erkennen lässt, liegt also eine Montage vor. Trotz aller erhaltenen Redundanz ist offensichtlich, dass der Text auch sprachlich geglättet wurde. Der Hauptperson ist als Gesprächspartner ein Philosophiestudent gegenübergestellt, der seine Fragen und lakonischen Reaktionen aus der Verlegenheit der Situation stellt, da er «mit Frau Rudin nichts Vernünftiges reden» kann (S.1). Die beiden sind sich zufällig in einem billigen Restaurant begegnet, nachdem sie sich während Jahren nicht mehr gesehen haben. Die Frau «ist sehr froh, jemanden gefunden zu haben, dem sie erzählen kann.» Weiter heisst es in der kurzen Vorbemerkung, sie erzähle «fliessend, nicht schnell, aber an einem langen Faden. Dieser Faden ist so lang, dass er eigentlich Jahrzehnte lang anhalten könnte.» (S.1) Der Dialog beschränkt sich auf Belanglosigkeiten und geht nach wenigen Minuten in einen Monolog über, der bis zum Schluss nur noch selten von einsilbigen Äusserungen des jungen Mannes unterbrochen wird. Frau Rudin erzählt, was sie in sieben Jahrzehnten erlebt hat: von ihrem harten Beruf als Büglerin, von ihrer Ehe und der Arbeitslosigkeit ihres Mannes in den zwanziger Jahren, vom Dienst als Sanitätshelferin im zweiten Weltkrieg, von ihren körperlichen Beschwerden und vom Tod ihrer Nächsten.
«Was in ihrem Kopf zu Hause ist, geht konfus durcheinander; sie lässt fast nichts aus, was die Leute beschäftigt, und im Reden springt sie von Thema zu Thema, meist ohne Übergang, gerade so, wie es sich ihr eingibt; für einen Schriftsteller ist diese Assoziationstechnik des Erzählens eine Fundgrube», kommentiert ein Kritiker.5 In der Reproduktion verbreiteter Vorurteile, etwa gegenüber Ausländern, in der Äusserung von Plattitüden des common sense und krasser Unwissenheit zeigt sich eine der Gefahren des O-Ton-Hörspiels: Nur der erkennbar fiktionale Charakter schützt die «Lieferanten» des «Materials» vor Blossstellung. Dieses Problem stellte sich in veränderter Form auch Paul Wühr in seinem «Preislied», der seine Interviewpartner um die Erlaubnis bat, frei über die Aufnahmen verfügen zu dürfen. Um die unzähligen einzelnen Statements auf ein darin verborgenes «Gesamtbewusstsein» hin transparent zu machen, musste er einzelne Aussagen isolieren und in neue, unerwartete Zusammenhänge bringen. Das Originalton-Hörspiel bietet seiner Ansicht nach «die Möglichkeit, durch offenes Eingeständnis der Manipulation diese aufzuheben und damit auch den Glauben an die Authentizität von Dokumenten abzubauen.»6
Aber die Methoden eines solchen Hörspiels müssen «streng gemessen werden an der Verantwortung vor dem, der das dokumentarische Material liefert.» Schneiders wesentlich weniger aufwendiges Hörspiel, das zur selben Zeit entstand und nur vier Monate später gesendet wurde, ist insofern besonders exponiert, als es sich nicht aus Hunderten von Einzelausschnitten anonymer Äusserungen zusammensetzt, sondern eine Person ganz ins Zentrum stellt und damit auch charakterisiert. Sie zum Sprachrohr eines überindividuellen Bewusstseins zu machen, gelingt ihm durch die Einführung des Studenten, der in gewissem Sinn die Zuhörenden im Spiel vertritt. Durch seine Reserviertheit, die sich oft nur im Tonfall äussert, wird bewusst, dass sich hier eine Mentalität ausspricht, der man sich nur allzu gern verschliessen möchte. Die spürbare Authentizität bewirkt, dass eine Distanzierung nicht gelingt, dass sich im Gegenteil Betroffenheit und schliesslich Verständnis einstellen. Das wurde auch in einer Kritik bemerkt, die Schneiders «Schlummermueter» als ein «ungewöhnliches und gutes Hörspiel» begrüsste: «Es entsteht aus dem Mund von Frau Rudin ein Bild der Schweiz, das ein einziges Durcheinander ist, wesentlich jedoch in seiner Alltäglichkeit.»7
Typologisch ergibt sich hier ein Anknüpfungspunkt zu Werner Schmidlis «Redensarten», die sich von Schneiders Hörspiel durch die Isolierung von «Sprachkadavern» und durch deren verfremdende Übertragung ins Hochdeutsche abhebt. Die in Schweizer Originalton-Produktionen unvermeidliche Mundart verschafft diesem Typus eine Sonderstellung im Bereich des experimentellen Hörspiels. Die bewusste Entscheidung für den Dialekt und die enge sprachliche Anlehnung an die Originalton-Vorlage unterscheidet Schneiders Arbeit von dem zweieinhalb Jahre früher gesendeten sprach-experimentellen Hörspiel Schmidlis und macht es zu einer Vorform des Originalton-Hörspiels. Es ist wohl kein Zufall, dass Schneider sich auch auf dem Gebiet des Features versucht hat. In «Johann Kaspar Pfenninger, Stäfa» (1979) dokumentierte er den «Stäfnerhandel von 1795 bis hin zum Zusammenbruch der alten Ordnung im Jahre 1798» (Untertitel) anhand von historischen Quellentexten. Die Alltagswirklichkeit der Gegenwart gestaltete er wieder in den Kurzhörspielen seiner Zyklen «Das goht doch ned!» (1981) und «Das esch doch öppis anders» (1985).
In dieses Kapitel gehört auch das einzige Hörspiel von Gertrud Wilker, einer bedeutenden Schweizer Autorin der siebziger Jahre. Ihre «Variationen über ein bekanntes Thema in der Originaltonart» (SDR, 1978; Übernahme DRS, 1979) kündigen schon im Titel die Zugehörigkeit zum O-Ton-Genre an. Produziert wurde das Hörspiel kurioserweise vom Süddeutschen Rundfunk, aber mit Schweizer Darstellenden und einem Schweizer Schlagzeuger im Radiostudio Zürich. Darin zeigt sich wieder einmal die Zurückhaltung der Schweizer Hörspiel-Produzierenden gegenüber experimentellen Projekten, die man lieber ausländischen Sendern überliess. Wilkers «Sprechoper mit Schlagzeugbegleitung», so der Untertitel, enthält keine eigentlichen O-Ton-Aufnahmen, stützt sich aber auf dokumentarisches Text-Material aus historischen Chormanualen, den Protokollen der Chor-, Sitten- und Eheschutzgerichte, die von einem Chronisten quasi dokumentarisch in ihrem zeitgenössischen Lautstand «mit deutlichem Dialektakzent», eben «in der Originaltonart», vorgetragen werden. Ähnlich wie Schneiders «Schlummermueter» basiert Wilkers Hörspiel auf der Protokollierung mündlicher Äusserungen, die möglichst originalgetreu nachgesprochen werden. Der historische «Originalton» ist für die komplexe Form dieser Produktion zwar von tragender Bedeutung, doch zeigen sich auch deutliche Verwandtschaften mit dem Montage-Hörspiel und dem nach musikalischen Gesichtspunkten komponierten Hörwerk, worin sich das Hörspiel von der einfachen, linearen Dramaturgie von Schneiders Werk unterscheidet.
Das «bekannte Thema» wird zu Beginn von einem Kantor mit den Worten der Genesis (3.16) angestimmt, die der Frau die Mühsal der Schwangerschaft verheissen und den Mann zu ihrem Herrn erklären: «er aber walte dir ob» (S.2), dies ist das Leitmotiv, das Gertrud Wilker in einer Reihe von vier Frauenschicksalen aus dem 17., 18. und 20. Jahrhundert variiert. Das Stück spannt einen weiten zeitlichen Bogen in der Absicht, mit authentischen Fragmenten ein montiertes, zwar gebrochenes, aber doch kohärentes Bild zu schaffen, das mehr aussagen soll als die Summe seiner Teile. Alle vier Frauen stammen aus der untersten sozialen Schicht, alle sind auf verschiedene Arten Opfer der männlichen Vormachtstellung, und in allen Fällen steht das positive Recht auf der Seite des Mannes, sowohl unter der Aufsicht der geistlichen Chorgerichtsbarkeit bis 1831 als auch nach den bis kurz vor der Entstehung des Hörspiels noch geltenden Version des schweizerischen Zivilgesetzbuches. Das Spiel ist eingebettet in einen Rahmen, der die Aufnahme des Hörspiels im Studio in Szene setzt, womit die Autorin – wie schon Dürrenmatt in seinem «Doppelgänger» – auf den altbewährten Verfremdungseffekt des «Stücks im Stück» zurückgreift. Das Zusammenwirken von Erzählerin und Regisseur variiert auf subtilere Weise das Machtverhältnis, das durch das Spiel in vier Fallbeispielen aufgezeigt und auf seine kulturgeschichtlichen und religiösen Ursprünge zurückgeführt wird.
Die sprachliche Besonderheit dieses Textes, die von der schweizerischen Kritik lobend hervorgehoben wurde8, besteht in seiner «Originaltonart», womit sowohl die umgangssprachliche Färbung einzelner Sprechrollen als auch die Verwendung von Zitaten aus historischen Schriftdokumenten gemeint ist. Ein Rahmen, der in der Gegenwart spielt, thematisiert die Inszenierung des Hörspiels in dramatischer Form. Den Binnenteil bilden einige sehr kurze dialogische Szenen, die verbunden, angesagt und zum Teil in der von Dürrenmatt her bekannten Art «zitiert» werden von der «Erzählerin» der Rahmenebene und von einem Sprecher, der die Zitate aus dem Chormanual und aus dem Zivilgesetzbuch vorträgt. Diese Variationen des Themas werden musikalisch gefasst von der Singstimme eines Kantors, der die Zitate aus der Genesis rezitiert, und vom monotonen Sprechgesang eines Männerchors, der gewisse Schlagworte repetiert, sowie von einem Schlagzeug, das in Verbindung mit den Parts des Chores oder des Kantors ertönt. Geräusche werden vom Manuskript nicht vorgeschrieben. Gertrud Wilker hat sich nicht mit der schriftlichen Fixierung der verschiedenen Stilschichten zugeordneten Rollen begnügt, sondern dem Manuskript überdies Vorschriften vorangestellt, welche die Sprechweise betreffen und somit in die Belange der Regie eingreifen. Dadurch war bedingt, dass das Hörspiel nicht im Studio des Süddeutschen Rundfunks inszeniert werden konnte, sondern in Zürich mit Schweizer Sprechinnen und Sprechern aufgezeichnet werden musste.
Premiere: «Collage mit Originalaufnahmen»
Der Unterschied zwischen einem wirklichen Originalton-Hörspiel und einer nach originalen Dokumenten gespielten Inszenierung in der Art von Schneiders Werk lässt sich nirgends so gut beobachten wie im Vergleich zwischen Barry Bermanges «The Dreams» (BBC, 1964) und deren Übertragung ins Deutsche (BR, 1969). An die natürliche Sprechweise und das Timbre von Stimmen verschiedenster Leute von der Strasse, die der Autor mit Klängen unterlegte und zu einer eindrücklichen Komposition montierte, kommt die nachgestellte Version trotz bester Vorsätze nicht heran. Von Bermanges vier «Inventions», zu denen «Dreams» gehört, liessen sich Willy Buser und Guido Wiederkehr unter anderem anregen, als sie die erste «Collage mit Originalaufnahmen» von Radio DRS planten, wie sie diese unbekannte Art Sendung vorsichtig nannten. Einen direkteren Einfluss lässt das zweite in der Programmzeitschrift genannte Vorbild, Konrad Hansens Collage «Die Dinge nehmen, wie sie sind», erkennen, der eine Umfrage in Norddeutschland zugrunde liegt.9 Die nahe Verwandtschaft mit dieser Produktion zeigt sich in der freien Übertragung von deren Titel, die in der Schweizer Version zur Überschrift «…z’friede, so wie’s isch» (1972) führte. In beiden Formulierungen drückt sich eine ähnlich skeptische Haltung gegenüber dem politischen und gesellschaftlichen Status quo aus, wie sie Paul Wühr in seinem polemischen Titel «Preislied» auf den Punkt brachte. Erklärtes Ziel des Hörspiels von Buser und Wiederkehr ist es auch, «Weltanschauung» unmittelbar hörbar zu machen, wie sie sich «aus dem täglichen Leben […] ergibt.»10
Als Interviewpartner wurden vier Schweizerinnen und vier Schweizer aus verschiedenen Altersstufen und Berufssparten eingeladen, die einzeln, also unabhängig voneinander, und spontan, ohne Gelegenheit, sich ihre Reaktionen zu überlegen, zu denselben Fragen Stellung nahmen. In der Auswahl der Befragten drücke sich höchstens eine «Repräsentanz des Zufalls» aus, merkt einer der beiden Autoren in einer kurzen Einführung an. Das einzige Kriterium bestand in der Beschränkung auf Personen, die ansonsten kaum Gelegenheit gehabt hätten, ihre Ansichten einem grösseren Publikum via Radio mitzuteilen. Dem Vorwurf der Manipulation wird durch Information über die Prinzipien der Montage begegnet. Sämtliche Interviewfragen wurden im Hörspiel weggelassen, was dem Verstehen nicht hinderlich ist, da das jeweilige Thema mit genügender Klarheit aus den Antworten hervorgeht. Oft werden die Fragen von den Interviewten zu Beginn einer Sequenz sogar wörtlich wiederholt. Die Aussagen der acht Personen wurden, wenn man von Kürzungen absieht, nicht verändert, sondern bloss in Beziehung zueinander gesetzt, so dass der Eindruck eines Dialogs entstehen sollte.
Zunächst stellen sich die acht Personen vor, indem sie sich über ihr Alter, ihren Zivilstand, Familienverhältnisse und Berufstätigkeit äussern. Name und Wohnort werden nicht genannt. Ausgehend von dieser Vorstellung ergibt sich einerseits im Laufe der Sendung ein mehr oder weniger scharf umrissenes Bild von der Persönlichkeit der Sprechenden. Durch die Wahrung ihrer Anonymität wird andererseits der Eindruck vermittelt, dass die Stimmen Stichproben aus einem Kollektiv repräsentieren. Etwas irritierend wirkt die identische Wiederholung der Vorstellungssequenz etwa in der Mitte des Hörspiels, das so in zwei Hälften geteilt wird. Plausibler erscheint die abermalige Wiederholung derselben Statements in veränderter Reihenfolge am Ende des Spiels, wodurch der Eindruck eines zirkulären Aufbaus verstärkt wird. Der erste Teil beginnt mit Äusserungen zu persönlichen Themen, etwa zu besonderen Abneigungen und Schwächen. Ein Komplex von Fragen zu Berufstätigkeit und Freizeitgestaltung leitet über zum zentralen Thema der politischen und staatsbürgerlichen Auffassungen. Hier nehmen die Interviewten Stellung zu Fragen wie etwa: Interessieren Sie sich für Politik? Beteiligen Sie sich an Abstimmungen? Ist Ruhe die erste Bürgerpflicht? Gibt es typisch schweizerische Eigenschaften? Sind Sie stolz darauf, Schweizer bzw. Schweizerin zu sein? Was halten Sie von den Gastarbeitern? Wie denken Sie von der jungen Generation? Der zweite Teil setzt ein mit Aussagen über illegale und legale Drogen, kehrt aber bald schon zurück zu persönlicheren Themen wie der Erinnerung an prägende Erlebnisse, der Einstellung zu Ehe, Konkubinat, Homosexualität und Abtreibung. Den Abschluss bilden Äusserungen über Alter, Religion, Tod sowie rückblickende Gedanken über das eigene Leben und Wunschvorstellungen.
Einem kollektiven Bewusstsein zur Artikulation zu verhelfen hatte Paul Wühr knapp ein Jahr vor Willy Buser und Guido Wiederkehr in seinem ungleich aufwendigeren Originalton-Hörspiel «Preislied» versucht, das sich teils handfester Mittel wie der Zerstückelung von Sätzen, der Wiederholung und Kontrastierung, des Unterlegens von Musik und Geräuschen bedient, um den tieferen Sinn der aufgezeichneten Aussagen zum Ausdruck zu bringen. Daneben wirken die Eingriffe der beiden Schweizer Autoren geradezu zaghaft. Ihrem bescheidener formulierten Ziel, Weltanschauung hörbar zu machen, kommt das Hörspiel dort am nächsten, wo von Dingen die Rede ist, die das Kollektiv betreffen. Wie die Montage eines solchen Schein-Dialogs wirkt, lässt sich anhand des folgenden Ausschnitts beobachten. In der Protokollierung von zwei Sequenzen zu politischen Themen zeigt sich stellenweise auch deutlich die Gefahr der Blossstellung, auf die bereits bei der Behandlung von Schneiders «Schlummermueter» hingewiesen wurde.
F 1 «I gang nit go abstimme, nei – nei. Es isch mer irgendwie zwider. I glaub, i ha do vilicht e gwüsses Vorurteil dergegen, nit, wil mer früener het s’Gfühl gha, d’Fraue ghöre nit, ghöre nit dort ane, wo me got go abstimme, aber es isch möglich, dass sich das mit der Zit bi mir – dass das wäggoht, dass i denn au no gang. I finds eigetlich sälber komisch vo mir, aber i ha öppis dergege, i gang nit sehr gärn. Vilich isch’s au nur Bequämligkeit.»
M 1 «Ich gang nit vil, und zwar us däm Grund, wil ich find, dass in der Schwiz die Abstimmerei e bitzli zue – zue sehr übertriebe wird. Ich find, me sott unsre Politiker mindestens e sovil Urteilsvermöge zuetraue, dass si das im Parlamänt könnte erledige, ohni jedesmol müesse wäg jeder Lehrerinnewahl der gsamti Souverän a d’Urne z’bitte.»
F 2 «Doch, i gang. Mer losst mi – wenn i nit us eigenem Wüsse, loss i mi berate, von ere Schwester.»
M 2 «Jä, also, das isch mi Pflicht, d’Abstimmig als Schwizerbürger, und es isch äbe wünschenswärt, dass die Meinig, won ich jetzt do verträtte tue, dass das die Jüngere ebefalls mache wärde. Es isch eso, mi seht’s jo us den Abstimmige, es git immer weniger, und das find i sehr schlächt für e Demokratie.»
F 3 «Nei, i bi au no nie gsi. S’interessiert mi nit, und denn weiss i nit, um was es goht, und der Ma will i nit frage, und i frag au ihn nit, gosch du oder was stimmsch du?»
M 3 «Ich nimm a jeder Abstimmig teil, und det, won ich dihei bin, hemmer au Gmeindsversammlige, wenigstens vorläufig no, und die han ich, glaub i, no nie usslo, ich finde das eifach toll, dass mir i de Schwiz das chönnd, und so lang mir das Recht händ, wott ich’s au usüebe.»
F 4 «Ich gang nit go abstimme, wil ich die Asicht ha – es isch e tummi Asicht, das weis i – aber das mer do eigetlich gar kei grosse-n-lfluss händ uf’s Abstimmigsresultat, es isch e Manipulierig vo de Herre, wo do am Rueder sind, der einti het’s… S’goht jo im Grund gnoh immer drum… (leise) Do mues i passe.»
M 3 «Öb d’Rueh di ersti Bürgerpflicht isch –»
M ? «Ja.»
F ? «Nei, do bin i gar nit dr Meinig.»
M 3 «Das isch irgendwie emol gsi, aber nach mim Derfürhalte stimmt das hüt nümme.»
M 4 «Nänei, gar nit, ich schätz das sehr, wen, wemme – dr Muet het, zu siner Meinig z’stoh, und das isch Gottseidank hüt mehr dr Fall als früener. Mer losst sich hüt nümm uf’d Nase schisse, und das find i schön.»
M ? «Wenn Kritik am Platz isch, nohetär soll mer si sage, mer soll nit ufs Mul sitze, aber mer soll das in ere aständige Form sage.»
F ? «Mer sind jo in dr freie Schwiz, wo mer eigetlech sott dörfe sage, was me tänkt. Mängisch isch’s besser, mer seit’s nit, was mer tänkt. Aber vo mir usgseh sott eigetlich jede si Meinig dörfe-n-üssere.»
(protokolliert nach Gehör)
Mit einer wichtigen Linie des neueren Deutschschweizer Dokumentarfilms, die Martin Schaub mit dem Namen «Zuhörfilm» bezeichnet11, hat die Produktion «…z’friede, so wie’s isch» gemeinsam, dass sie Bürger und Bürgerinnen zu Wort kommen lässt, die «zwar ein Stimmrecht, aber keine Stimme haben»12, und dass dabei – im Unterschied zum agitatorischen «Traktatfilm», der im Bereich des Hörspiels keine Entsprechung hat – die Stimmen der Autoren zugunsten jener der Befragten zurücktreten. Dabei hat es aber auch sein Bewenden. Im Unterschied zu der im Laufe der siebziger Jahre im Dokumentarfilm stetig verfeinerten Dramaturgie der Selbstdarstellung, die sich einer zunehmend raffinierteren Montage bediente und «die Stimmen und die Bilder mit- und gegeneinander arbeiten liess»13, beschränkt sich das erste Schweizer Originalton-Hörspiel auf die Aneinanderreihung von Antwort-Sequenzen, die durch den Verzicht auf nonverbale Mittel und auf besondere Montage-Effekte etwas schwunglos und monoton wirkt. Zwar wird auch im Hörspiel oft eine kompositorische Absicht in der Montage fassbar, etwa, wenn in der zweiten oben zitierten Sequenz auf die Frage-Wiederholung ein lakonisches Ja auf eine ebenso knappe Verneinung prallt, worauf erst weiter ausholende, differenzierende Antworten folgen. Doch die Variationsmöglichkeiten, die sich dem Dokumentarfilmer aufgrund der visuellen Dimension bieten und die Richard Dindo in seinem gleichzeitig entstandenen Werk «Naive Maler in der Ostschweiz» (1972) – dem ersten Vertreter des «Zuhörfilms», wenn man von Alexander J. Seilers «Siamo Italiani» (1964) absieht – nutzte, blieben dem eindimensional auditiven Medium verschlossen und konnten aus ökonomischen Gründen auch nicht durch radiophone Effekte kompensiert werden. Das hat zur Folge, dass die eigentlich gesellschaftskritisch gemeinte Produktion aufgrund ihrer formalen Anspruchslosigkeit eher bieder wirkt.
Schwerer wiegt aber noch, dass sich das Hörspiel zum grössten Teil aus stereotypen Äusserungen zusammensetzt, denen man anmerkt, dass sie direkte Reaktionen auf mehr oder minder banale Fragen sind. Wären die Autoren wirklich an den persönlichen Einstellungen und Gemütsregungen ihrer Gewährsleute interessiert gewesen, so hätten sie nicht umhin können, sich auf ein Gespräch einzulassen und ihre eigene Position explizit miteinzubringen. Ein sensibleres Vorgehen bei der Aufnahme hätte auch bedingt, dass den Gesprächspartnern über den engen Rahmen hinaus, den die Fragen oft aussteckten, Raum für freie Äusserungen gewährt worden wäre. Dadurch erst wären wohl wesentlichere Aussagen möglich geworden. Durch das streng planvolle Verfahren wurde trotz aller Diskretion bloss die Meinung der Autoren, wie sie sich im Titel kritisch ausdrückt, bestätigt. Die Originalton-Produktion, die als Selbstdarstellung der «Lieferanten» auftritt, erweist sich so letzten Endes als verkapptes «Traktat-Hörspiel». Es begibt sich damit zum Teil des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit, der in der Absicht, Weltanschauung zu vermitteln, implizit ist und der das Hörspiel vom Feature unterscheidet.
Die Produktion «…z’friede, so wie’s isch» kann als Originalton-Hörspiel bezeichnet werden, insoweit sie tatsächlich etwas von der vorherrschenden Mentalität der «schweigenden Mehrheit» erahnen lässt. Vielfach sind es unbesonnene Äusserungen, Versprecher, auffällige Negationen oder Zeichen der Unsicherheit, die den Blick auf weltanschauliche Hintergründe lenken. Die Ansicht, «d’Fraue ghöre nit, ghöre nit dort ane, wo me got go abstimme» zählt offenbar zu den Inhalten des kollektiven Bewusstseins, obwohl sich eine der Sprechenden davon distanziert. Dass ihre Stimmabstinenz durch Bequemlichkeit bedingt sei, könnte als Rationalisierungsversuch aufgefasst werden. Unterschwelliges Misstrauen wird in der Bemerkung eines ansonsten staatstreuen, demokratisch gesinnten Bürgers spürbar, der aussagt, er wolle sich an Abstimmungen beteiligen, «solang mir das Recht händ». Und eine junge Frau, die keinen Hehl aus ihrer Skepsis gegen die «Manipulierig vo de Herre» macht, die das Sagen haben, verrät durch ihr Stocken und den abschliessenden Kommentar: «Do mues i passe», dass sie gerade nicht weiss, worum es im Grunde genommen immer gehe. Vor einer Blamage schützt die Interviewten hier nur ihre Anonymität, die – nebst den fehlenden Orts- und Zeitangaben – ein wichtiges unterscheidendes Merkmal des Originalton-Hörspiels gegenüber dem Feature darstellt. In einer dokumentarischen Sendung wären diese «decouvrierenden» Effekte wohl aus Rücksicht auf die Gewährspersonen nicht möglich gewesen.
Willy Buser hat in den folgenden Jahren allein oder zusammen mit verschiedenen anderen Radiomitarbeitenden weitere ähnliche Sendungen produziert, die zunächst wie die erste dieses Typs konsequent als «Collagen mit Originalaufnahmen» bezeichnet wurden, der Sache nach aber Originalton-Hörspiele der oben beschriebenen Art sind. «Um d’Wiehnacht ume» (1973) ist aus den Antworten verschiedener Personen in unterschiedlichen Lebenssituationen auf Fragen zum Thema «Weihnachten» montiert. In Zusammenarbeit mit Roswitha Schmalenbach entstand die Produktion «Si schaffe, si wärche» (1975), deren Nähe zum Hörspiel in der Ankündigung nun erstmals erwähnt wird. Aus der Notiz Im Hörspiel-Bulletin geht deutlich hervor, dass bei der Herstellung dieses Beitrags zum «Jahr der Frau» nach dem genau gleichen Schema verfahren wurde wie bei «…z’friede, so wie’s isch»:
«In dieser O-Ton-Sendung (O-Ton = Originalton) werden viele Interviews zu etwas Hörspiel-Ähnlichem „verschnitten“. Es meldet sich kein Kommentator zu Wort, es findet keine Bewertung oder Analyse statt, der Text setzt sich ausschliesslich zusammen aus den Meinungen, Ansichten und Äusserungen über Lebenserfahrungen von Frauen (einige wenige Bemerkungen auch von Männern), die zum weitaus grössten Teil nicht aktiv „Frauenpolitik“ betreiben. Ob dabei vielleicht so etwas herauskommt wie die allerdings völlig unrepräsentative sogenannte „Stimme der schweigenden Mehrheit“?»14
«So wurde noch nie ein Theater eröffnet» (1975) entstand anlässlich der Eröffnung des neuen Basler Theaters unter Mitwirkung des gesamten Hörspielteams von Studio Basel. In der O-Ton-Produktion «Vom Johrgang 27» (1977) halten mehrere ältere Menschen, die fünfzig Jahre zuvor miteinander dieselbe Klasse besucht haben, Rückschau auf ihr Leben. «Engadin Skimarathon» (1978) von Christian Jauslin und Willy Buser unterscheidet sich von den bisherigen, auf vorbereiteten Interviews basierenden Originalton-Hörspielen vor allem durch die Spontaneität des Vorgehens. Durch «Interviews mit den Gründern des Laufes, dessen Organisatoren und den Einwohnern der Bündner Talschaft, aber vor allem auch mit vielen Zuschauern, Läuferinnen und Läufern» sollte versucht werden «die Stimmung dieses Wintersport-Ereignisses einzufangen.»15 Ein wesentliches Element der Stimmung besteht dabei in der Geräusch-«Ambiance», die den Statements der Interviewten unterlagert ist und dem Hörer den Eindruck des unmittelbaren Dabeiseins vermittelt. Bezeichnenderweise geht es in dieser Produktion, die im Text des Programm-Bulletins als «Feature» bezeichnet wurde, nun nicht mehr um das Ausloten überzeitlicher weltanschaulicher Phänomene, sondern – wie schon bei der Sendung zur Einweihung des Basler Theaters – um die radiophone Gestaltung eines Beitrags über ein bestimmtes Ereignis: hier über den zehnten Engadiner Skimarathon vom 12. März 1978.
In seiner Antwort auf eine Rückfrage die Gattungsbezeichnung betreffend lehnte Willy Buser die Ausdrücke «Feature» und «O-Ton-Hörspiel» für diese Produktion ab und nannte sie eine «O-Ton-Collage». Damit ordnete er sie in die Reihe der oben genannten bisherigen Originalton-Hörspiele ein. Sein Koautor Christian Jauslin hingegen bestätigte die Bezeichnung «Feature», die dem Charakter dieser Sendung sicher besser entspricht. Ein Jahr zuvor schon war Walther Kauers «Liebesbrief» an das Bergell mit dem Titel «Cagnosciat tü quel paiset?» (1977), in dem unter anderem Originaltonaufnahmen verwendet wurden, in einer Kritik klar und deutlich als «Feature» gekennzeichnet worden.16 1978 wurde das Feature In den Produktionsauftrag der Abteilung Dramatik integriert, was wohl den äusseren Anlass dazu darstellt, dass Willy Busers Produktionen «Weder Derrick noch Kojak» (1978) über den Berufsalltag eines Kriminalkommissars und «Sie sin nid fremd… Eine Sendung über Adoptionen fremdrassiger Kinder» (1979) als Features bezeichnet wurden. Das Originalton-Hörspiel siedelte seit Anbeginn im äussersten Grenzbezirk der Gattung Hörspiel und verschwand Ende der siebziger Jahre – jedoch nicht ganz spurlos. Zum einen hatte es in der deutschen Schweiz wie gezeigt als Wegbereiter für das moderne Feature gedient, mit dem man sich in früheren Zeiten so schwergetan hatte. Zum andern hatte dieses Grenzphänomen des Neuen Hörspiels – vermittelt fortan durch das Feature, das von Heissenbüttel gar als «die unmittelbarere Funkform», als das «eigentliche Hörspiel» bezeichnet worden war17 – seine Auswirkungen auf die künftige Dramaturgie des Schweizer Hörspiels.
Interview und Psychodrama
Auf Originalton-Aufnahmen basiert auch die einzige von Radio DRS produzierte «Collage» von Paul Pörtner, die sich durch stärkere Dominanz des spielerischen Elements und durch die Verwendung heterogener Komponenten von den meisten zuvor besprochenen Hörspielen unterscheidet. Mit dieser Produktion und durch die Person Pörtners, der seit 1973 Bürger von Zumikon/ZH war, ergab sich eine direkte Verbindung zwischen dem experimentellen Deutschschweizer Hörspiel und dem Neuen Hörspiel der BRD, die damals Seltenheitswert hatte. Fruchtbar ergänzt wurde dieser Kontakt in umgekehrter Richtung durch die Produktion einiger experimenteller Hörspiele von Schweizer Autoren durch deutsche Hörspielabteilungen.
Schon kurz vor der Ursendung von Schneiders «Schlummermueter» war als Übernahme Pörtners «Kontaktprogramm» (WDR, 1971; Übernahme DRS, 1971) ausgestrahlt worden, dessen experimentelle Form der Autor als eine «Synthese von Schallspiel und Psychodrama»18 bzw. «Psychomusik»19 bezeichnete. Den Anstoss zu dieser «Auseinandersetzung von Sprache und Musik» hatte Pörtner durch die Bekanntschaft mit George Gruntz, dem «Hauskomponisten» des Zürcher Schauspielhauses, erhalten, der zusammen mit Pierre Favre und Gerd Dudek für den musikalischen Teil der Produktion zuständig war. In «Kontaktprogramm» verwendete Pörtner keine eigentlichen Originalton-Dokumente, sondern arbeitete unter anderem mit vorformulierten, durch Schauspieler gesprochenen Dialogen, die als Anstoss zu musikalischen Improvisationen dienten. Diese wurden anschliessend im Playbackverfahren «durch elektronische Modulation dem Text integriert.» In anderen Teilen dieses Hörspiels wurde die «rhythmische und klangliche Spannung zwischen den heterogenen Elementen» betont in der Absicht, Kontaktlosigkeit unmittelbar sinnlich wahrnehmbar zu machen.
Der Kontakt zwischen Paul Pörtner und George Gruntz führte drei Jahre später zu einer weiteren Teamarbeit, die nun von Studio Basel produziert wurde: «Zwei mal zwei mal zwei oder Ludi Basilienses» (1974). Schon in «Kontaktprogramm» hatte Pörtner mit Aufnahmen von der Begegnung zwischen zwei Studenten, die sich zuvor nicht kannten, gearbeitet. «Ludi Basilienses» geht von dieser Situation aus, um das Thema Dualität auf interpersoneller Ebene zu gestalten. Dem entspricht auf allgemeinerer Ebene der Versuch, «das Zwiegesicht der Stadt Basel»20 in der Montage von zahlreichen Interviews mit Passanten zu fassen. Eine weitere Zweiheit, die rezeptiv kaum von Belang ist, drückt sich in der offenbar engen Zusammenarbeit der beiden Autoren aus. George Gruntz’ Beitrag beschränkte sich diesmal nicht auf die Herstellung der musikalischen Komponenten, die aus Aufzeichnungen von einer Basler Pfeifer-Formation sowie einer bekannten Unterhaltungsmusik-Band übernommen wurden, sondern bestand in seiner Mitwirkung von der Konzeption des Hörspiels bis zur Montage, wozu er als Komponist und als Basler bestens legitimiert war.
Waren Psychomusik-Improvisationen für die frühere Produktion bestimmend gewesen, so trat nun das an Jacob Levy Moreno orientierte Psychodrama in den Vordergrund. Wie die Situation im Studio auf die «Versuchspersonen» wirkte, schildert die Schauspielerin Annette Wyler:
«Ich wunderte mich, dass mir vor den Aufnahmen kein Textbuch zugeschickt wurde. Noch am Montagmorgen stand ich ohne Text da. Paul Pörtner erklärte mir dann, dass es meine Aufgabe sei, mit einem mir noch unbekannten Partner verschiedene Improvisationsübungen zu machen. Aus diesen Übungen würden dann einige Textpassagen oder nur einzelne Sätze herausgeschnitten und montiert. Wenn ich auch ein wenig unsicher wurde, weil ich dies nicht erwartet hatte, interessierte mich ein solches Experiment. Die Übungen waren oft so angelegt, dass man ganz persönliche Urteile über den anderen abgeben musste. Anfangs war es nicht ganz einfach, eine Stellungnahme zu geben. Andere Übungen bestanden darin, dass wir versuchten, kurz umrissene Rollen zu spielen, Es fiel mir später auf, dass man manchmal vielleicht allzu schnell zu einem Klischee greift, das die Intention verflachen, ja sogar verfälschen kann. Man spürt aber auch beim Abhören deutlich, dass hier nicht vorgeschriebener Text abgelesen wird, der Tonfall ist anders, man bemerkt Wiederholungen, Unsicherheiten im Finden eines Satzes, eines Wortes.»21
Auch Nicolas Ryhiner zeigte sich irritiert über die Versuchsanordnung, die so gar nicht der gewohnten Situation im Studio entsprach. Er schreibt rückblickend: «Ich hatte ein ungutes Gefühl für dieses Hörspiel.»22 Indem sich Pörtner nach wenigen Erläuterungen in den Regieraum zurückzog, erzeugte er eine psychische Drucksituation, die sich unweigerlich auf die Improvisation der beiden Darsteller auswirken musste. Auch die an die Begegnungssequenz anschliessenden Spielszenen wirken, da jede Möglichkeit fehlte, sich in die Rollen einzufühlen und zu üben, teils fast unerträglich chargiert, so dass man als Hörer den jungen Schauspielern ihr Missbehagen lebhaft nachfühlen kann. Distanzierung der Zuhörenden ist wohl auch der Effekt, den die Autoren mit solchen Szenen anstrebten. Dem gegenüber wirken Passagen, in denen die Gesprächspartner über sich selbst berichten, einander gegenseitig beschreiben oder sich einander wirklich anzunähern versuchen, wie eine Erlösung. Konflikt und Übereinstimmung, Spielimprovisation und Gesprächsdokument sind also die Pole dieser im Studio produzierten Originalton-Passagen, die sich von den Aussenaufnahmen durch sparsamen Schnitt und meist längere Einheiten von oft mehreren Minuten unterscheiden.
Bei den in der Stadt aufgezeichneten Interviews kommt der Live-Charakter mehr zum Tragen. Die Intention der Autoren spiegelt sich hier nur in den Fragen der Interviewer und in der Auswahl der Antworten. Inhaltlich geht es in diesen Teilen um den Gegensatz zwischen Gross- und Kleinbasel, zwischen dem Lebensbereich der Bürger und Aristokraten und der Heimat der Handwerker, zwischen zwei Mentalitäten auch, die durch die Symbolfiguren des «Lällekönigs» und des «Vogel Gryff» verkörpert werden. Und wie bei der interpersonellen Begegnung wird auch hier die Möglichkeit der Kommunikation angedeutet durch die Brücke zwischen den beiden Stadtteilen. Die Montage dieser Sequenzen wirkt wesentlich komplexer, da wohl von den spontanen Reaktionen der Befragten oft nur kurze Ausschnitte zu gebrauchen waren. Gelegentlich wird eine längere Sprechpartie oder Musik als Hintergrund eingeblendet. Die Dynamik dieser Passagen verleiht dem ganzen Spiel eine humoristische Note und wirkt so als Gegengewicht zu den strapaziösen Improvisationsszenen, die dem Hörer ein Maximum an Toleranz abfordern. Sicher zählt dieses Experiment nicht zu den überzeugendsten Leistungen Pörtners auf dem Gebiet des Originalton-Hörspiels. Immerhin fasste Guido Bachmann den Vorsatz, in der Art dieser Produktion «auch ins Experimentelle vorzustossen», wenn er künftig Hörspiele schreiben sollte.23 Er hat es allerdings bleiben lassen.
Eine Mischform im Übergang zum Montage-Hörspiel wird etwa durch Erica Pedrettis «Februar – oder das ganze Volk fährt Ski oder…» (1972)24 vertreten, ein experimentelles Spiel, das Originaltonaufnahmen als eine Art von Dokumenten unter anderen mit Zitaten aus schriftlichen Quellen und Textpassagen aus der Feder der Autorin kombiniert und damit ähnlich kritische Intentionen verfolgt wie etwa Buser und Wiederkehr in ihrer Collage «…z’friede, so wie’s isch». Erica Pedrettis unterhaltende Sendung über die Auswüchse des Tourismus im Engadin lässt deutlich erkennen, dass diese Form der Montage von heterogenen Materialien dem Autor mehr Spielraum für die Gestaltung lässt als das reine Originalton-Hörspiel und dass es ihm damit auch leichter fällt, präzise Aussagen zu machen. Diese wie auch zwei weitere ähnliche Produktionen25 sind Belege für die fruchtbare Zusammenarbeit einer Schriftstellerin, die über keinerlei praktische Radioerfahrung verfügte, mit Tontechnikern und Regisseuren im Grenzbereich des Originalton-Hörspiels.
Die Entdeckung der Improvisation
Ein aussergewöhnliches Beispiel eines Originalton-Hörspiels, das ganz auf Improvisation basiert, stammt vom Musiker und Musiktherapeuten Heinz Reber.26 Seine Produktion «Reise zum Planeten „Dau-Wal“« (1976) nennt er im Untertitel «eine Art Hörspiel», wohl aus Unsicherheit darüber, ob die Spielimprovisationen von zehn Patienten der Psychiatrischen Universitätsklinik Bern unter seiner Leitung mit dem traditionellen Gattungsbegriff des Hörspiels vereinbar seien. Eine vergleichbare Originalton-Produktion über die Situation psychisch kranker Menschen hatte in der BRD Paul Wühr mit seinem «Verirrhaus» (BR/WDR, 1972) geschaffen. Rebers Gruppe wandte sich im Anschluss an dieses Experiment unter seiner Leitung dem Medium Film zu.27 Darin zeigt sich eine Beziehung zur intensiven Beschäftigung mit Randgruppen im Deutschschweizer Dokumentarfilm der siebziger Jahre, deren Auswüchse Martin Schaub mit der Bezeichnung «Sozialarbeiterfilm» apostrophiert.28 Der entscheidende Unterschied zu solchen Produktionen und der besondere Reiz des Hörspiels, der von Urs Jaeggi hervorgehoben wird, besteht im «Ineinandergreifen von Spiel und Realität»29, das sich aus der Arbeit mit psychisch kranken Menschen ergab. Die fünf Frauen und fünf Männer zwischen 16 und 63 Jahren konnten sich mit der Situation einer Reise in eine andere Welt teils so sehr identifizieren, dass sie den fiktiven Charakter ihres Gesprächs vergassen und sich tatsächlich als Teilnehmer einer Weltraumexpedition fühlten.
Jaeggi beobachtet drei Ebenen der Äusserung: Aus den Bekenntnissen und Erlebnisberichten der Sprechenden wird zum einen deutlich, «dass psychische Erkrankung nicht selten die Folge von Fehlentwicklungen ist, an denen Unverstand und Ungeduld der Mitmenschen grosse Schuld tragen.» Dies führt auf einer zweiten Ebene zu aggressiven Reaktionen gegenüber der Welt der Normalen, aus der sich die Patienten verstossen fühlen, aber auch zu aggressivem Verhalten in der Gruppe. Die dritte Ebene der «inneren Befriedung […] äussert sich in gelöster und erlebter spielerischer Form, in der Rezitation von Gedichten etwa, in der Schöpfung einer neuen Sprache (Urlaute), die zu befreiender Kommunikation führt, in der Erzählung hintergründiger Märchen oder beim Gestalten und Interpretieren der eindringlichen Zwischenmusik.» Wie im Falle von Pörtners «Kontaktprogramm» lassen sich auch von diesem Spiel aus Verbindungslinien zum Sprachspiel und zum musikalischen Experimentalhörspiel ziehen. Von vorrangiger Bedeutung sind aber auch in Rebers Spiel die Dialoge im Originalton, die aufgrund ihres dokumentarischen Gehalts Betroffenheit auslösen und dieses Spiel nach dem Urteil des Kritikers zu einem «ergreifenden radiophonischen Erlebnis» machen.
Von der «Reise zum Planeten „Dau-Wal“» unterscheidet sich Franz Hohlers improvisiertes Dialekthörspiel «Bsüech» (1978) dramaturgisch nur dadurch, dass ihm ein Stichwortkonzept einer Handlung zugrunde liegt. Doch verändert dies den Charakter des Spiels so entscheidend, dass man sich fragen muss, ob man es noch als Originalton-Hörspiel bezeichnen will. Dafür spricht, «dass die Radioleute improvisiert aufnahmen, was der Autor, seine Frau und ihre Freunde in der Wohnung des Autors anhand der skizzierten Geschichte improvisierten» und dass anschliessend im Studio «die vielen improvisierten Geschichten zu einer einzigen improvisierten Geschichte zusammengefügt» wurden.30 Doch ist dies trotz aller Live-Ambiance eine Geschichte, die durch ihren fiktionalen Grundzug enger mit dem traditionellen Illusionshörspiel als mit einer Montage von Originalton-Dokumenten nach radiophonen Gesichtspunkten verbunden ist. Die Produktionen von Reber und Hohler sind vor allem auch deshalb von Bedeutung, da sie die Stunde Null der Improvisation im Schweizer Hörspiel darstellen. Damit weisen sie in die Zukunft der gegenwärtigen Hörspiel-Dramaturgie.
O-Ton total: field recording
Peter Leonhard Braun, 1974 bis 1994 Leiter der Feature-Abteilung des ehemaligen SFB, besuchte in den siebziger Jahren Studio Basel. Matthias von Spallart, seit einiger Zeit Regisseur beim Basler Hörspielstudio, war von der Vorführung seiner Feature-Kostproben so beeindruckt, dass er spontan beschloss: «Das machen wir auch, das können wir auch.» Aldo Gardini, der als Tonregisseur an der Veranstaltung teilnahm, berichtet, «dieser Mut, sich von den geschriebenen Texten zu lösen und einfach mit einer Idee mal irgendwo hinzugehen und dann schauen, was da passiert», habe ihn sehr gereizt. Er rät grundsätzlich dazu, sich als Feature-Macher nicht im Voraus festzulegen, was man machen möchte, sondern sich den akustischen Realitäten auszusetzen. Nach einer ersten gemeinsamen Feature-Arbeit mit Aldo Gardini und Ekkehard Sass über Zermatt und das Matterhorn (1979) nahm sich von Spallart ein ganz grosses Projekt vor, das von vier europäischen Radiostationen finanziert wurde und ihn, ausgerüstet mit mobilem Kunstkopf-Aufnahmegerät, nach Südamerika mitten in den Amazonas-Urwald führte. Von Spallarts ambitiöses Ziel war es ursprünglich, ein Feature ohne jedes kommentierende Wort zu schaffen: Die Sache sollte allein für sich «sprechen», ähnlich wie in der archetypischen Produktion «Weekend», die der Radio-Pionier Walter Ruttmann 1930 mit Hilfe von Filmton-Aufnahmen geschaffen hatte. Nach seiner Rückkehr erkannte von Spallart bald, dass sich sein Plan, ein gesellschaftskritisches Werk im Sinne der damals entstehenden ökologischen Bewegung zu schaffen, ohne kommentierende Wort-Ebene nicht realisieren liess. Er versah sein Feature «Brasil! Akustische Impressionen vom Amazonas bis Rio de Janeiro» (1982) mit einem episch-präsentierenden Rahmen, der zwar knapp und grösstenteils streng sachlich gehalten ist, aber dennoch die Ausführlichkeit einer Erzählung annahm. Das Gebot der journalistischen Sachlichkeit durchbricht das Werk an entscheidenden Stellen wie auch in seinem Gesamtverlauf, so dass selbst der Feature-Experte sich nicht entscheiden kann, ob man es als Feature oder als Hörspiel bezeichnen soll. Vielleicht ist es eben ein O-Ton-Hörspiel mit epischer Rahmenstruktur. Die tragische Geschichte seiner Entstehung ist im Blog-Artikel «Hörbild – Hörfolge – Feature» ausführlich beschrieben.
Das neue Schlagwort heisst field recording, ursprünglich eine Hilfsdiziplin von Soziologie, Ethnologie, Linguistik, Phonetik und anderen Wissenschaften. Die Frage, was field recording sei, beantwortet ein schwedischer Medien-Journalist in knapper Form so:
«In a nutshell, field recording is the act of capturing audio outside the studio setting, straight from the source. This means you’re working without sound engineers, carefully curated sequences, soundproofed booths — it’s just you and whatever sound you’re trying to record.»31
Field recording entspricht im Bereich der Radiokunst genau dem, was Ruttmann realisiert und von Spallart sich ursprünglich vorgenommen hatte. 2012 lancierten der Hörspiel-Regisseur Claude Pierre Salmony und Tom Willen, Audiotechniker mit Schwerpunkt Hörspielproduktion bei SRF, ein experimentelles Projekt dieser Art. Dem Thema entsprechend änderten sie die Bezeichnung und nannten ihre Produktion «Im Bau» ein indoor recording, doch entspricht sie dem Kern der obigen Definition genau, dem zufolge die Aufnahmen ausserhalb des Studios entstehen sollen. Der Journalist Urs Hangartner beschreibt seine Hör-Eindrücke – unter Einbezug seiner Unsicherheit bezüglich der Interpretation des Gehörten – so präzis, dass sein Protokoll hier als Zeugnis zitiert werden muss:
«Wasser plätschert. Oder es tropft. Dazu ein dumpfes Klopfen – oder sind es Schritte? Es rauscht in verschiedenen Frequenzen. Es könnten Heizkörper sein oder aber auch Lüftungsrohre. Irgendwo, irgendwie versickert Wasser. Wir hören hallige wie dumpfe Schritte, metallisches Klappern, Knirsch- und Quietschklänge von Türangeln. Später ein regelmässiges, gleichtaktiges Ticken. Geräusche schwellen an und verklingen, jemand steigt eine Treppe hinauf, es pfeift, es rauscht wieder, die Geräuschfrequenzen überlagern sich, bis sie schliesslich ganz verklingen. Es sind Vermutungen, die auf unsere Hörerfahrungen zurückgreifen. Vielleicht sind die Quellen der Klänge aber auch andere, als wir annehmen.»32
Seine Erfahrung bestätigt eindrücklich, was Werner Hausmann schon 1945 als radiophone Universalie formuliert hatte: dass Geräusche selten eindeutig zu identifizieren und von anderen zu unterscheiden sind. Auch menschliche Stimmen ertönen, doch in so knappen, unvermittelten Ausschnitten, dass sich keine Kohärenz ergibt. Das dreissigminütige Hörstück will nur die Klänge und Geräusche des Gebäudes und seiner BenutzerInnen wiedergeben und damit Raumklang und Stimmungen vermitteln. «Es tönt bisweilen ziemlich abstrakt, was ganz konkret Hörbarem in der Welt entspricht. Oder man imaginiert für sich Bilder aus den Klängen der Räume», kommentiert Hangartner als reflektierender Hörer. Einen erläuternden verbalen Rahmen einzufügen wie bei von Spallart drängte sich nicht auf, aber den Urhebern dieses radikalen indoor recordings wurde wohl doch klar, dass nicht-professionelle Zuhörende etwas mehr Orientierungshilfen brauchen, damit sie bei der Stange bleiben.
Wenig später, kurz vor seiner Pensionierung, schuf Salmony ein weiteres Hörstück in einer abgewandelten Form des indoor recording, diesmal in Zusammenarbeit mit dem Tontechniker Basil Kneubühler.33 Das Hörspielstudio wird auf ein weites «Feld» ausgedehnt. «Übung in Glück» (2016) spielt am langjährigen Arbeitsort der Autoren: in allen Räumen des ehemaligen Hörspielstudios von Radio SRF 2 Kultur auf dem Basler Bruderholz, das während vier Jahrzehnten seinen Zweck versehen hat und nun geräumt werden muss. Der Ort des Hörens ist in dieser Produktion also nicht mehr anonym, sondern ein Bauwerk von besonderer, radiogeschichtlicher Bedeutung. Die Hauptrolle spielt hier aber nicht die Gebäude-Infrastruktur, sondern die rund 40 Gäste einer grossen Party, die von den Initiatoren der Produktion veranstaltet und – in Absprache mit den Teilnehmenden – mit Mikrophonen in allen Räumen «belauscht» wird. Der Anlass dazu ist der bevorstehende Abriss des sanierungsbedürftigen Gebäudes und der Umzug des Radios in den Meret-Oppenheim-Turm im Stadtzentrum, was auch für die Hörspiel-Produktion einen markanten Einschnitt bedeutet. Die Party steht unter einem Motto, das mit dem Titel der Produktion korrespondiert: «Hurra, wir leben! Lasst uns das feiern!» Sechs Räume des Studios wurden eigens für dieses Fest von einem jungen Team von Innenarchitektinnen szenografisch neu ausgestattet, was zwar im akustischen Kunstwerk nicht zu hören ist, aber verschiedene Ambiancen schafft, welche sich unterschiedlich auf Stimmung und Gespräch der Gäste auswirken sollen.
«Übung in Glück»: szenografische Ausstattung zweier Räume; im rechten Bild die Hörspieltreppe im ehemaligen Hörspiel-Studio auf dem Bruderholz
(Fotos: BravoRicky Innenarchitektur)
Das Spiel beginnt mit einer zwei Minuten langen Stille, unterbrochen nur durch wenige, sekundenschnelle Geräusch-Intermezzi: eine Provokation, die 1969 schon Urs Widmer in seinem Hörspiel-Erstling «Wer nicht sehen will, muss hören» erprobte. Langsam anschwellend ist danach im Hintergrund das Plaudern von Gästen zu vernehmen, teils begleitet von den Klängen verschiedener Musik-Bands, die mitunter längere Passagen einnehmen. Dazwischen immer wieder harte Schnitte und sekundenlange Stille. Einzelne Worte und kurze Sätze – oftmals in Dialekt, teils auf Hochdeutsch, einmal in Italienisch – sind dingfest zu machen: Grossmutters «Badeperlen»; ein gewisser «Neuzugang» namens Boris, den Insidern wohlbekannt; der «warme Duft» von Bienenstöcken. Stichworte wie «Dampfnudeln» tauchen aus der Flut des Geplauders quasi leitmotivisch mehrmals auf. Wer das köstliche süddeutsche Gebäck kennt, fühlt sich mit allen Sinnen zugleich angesprochen. Eindeutiger sind Kaskaden von Gelächter in allen Tonlagen und Variationen, eine ganze Sinfonie der Festfreude.
Etwa in der Mitte des Hörstücks zum ersten Mal die längere Äusserung eines Mannes, der etwas umständlich das Thema des Titels anschlägt: «Nee, aber ich glaube nicht, dass man wirklich etwas tun kann für … für sein Glück, ja, nee, ich bin da eher skeptisch, ich glaube, die Dinge passieren einfach so, wie sie passieren, und ich find das aber auch wahnsinnig entspannend, muss ich sagen.» Wiederholung einzelner Motive ist ein wichtiges Stilmittel dieses «Hörspiels», das von einem Teilnehmer als solches bezeichnet wird. Auch dessen Produktion wird kurz thematisiert. Gleichwohl fehlt ein roter Faden, dem man folgen kann. Die Zuhörenden müssen sich mit einer Haltung in dieses Hörwerks hineinbegeben, die jener des Feature-Machers Aldo Gardini entspricht, wenn er seine Arbeit aufnimmt: grundsätzliche Offenheit und die Bereitschaft, «sich Realitäten auszusetzen», einfach hinzuhören, «was passiert». Das Glück, es ist begrifflich und mit einem plot wohl auch kaum zu fassen, eher schon im Klang der Worte, im Klatschen, Singen und Lachen. O-Ton ist für dieses Vorhaben die prädestinierte Form. Aber die Anlage zum Glück muss man schon selbst mitbringen: als Gast zu dieser – allerdings sehr gross angelegten – «Übung» wie auch als Hörerin oder Hörer des kunstvoll komponierten und daraufhin konservierten Hörwerks, das aus dem umfangreichen Tonmaterial entstanden ist.
Aus dem Kommentar des Rezensenten geht deutlich hervor, dass solche O-Ton-Produktionen durch den weitgehenden Verzicht auf kohärenten verbalen Text die Zuhörenden auf sich selbst verweisen und sie insofern zu Mit-Produzierenden machen. Das ist nicht jedermanns Sache. Tatsächlich ist es wohl nur ein sehr kleines Publikum, das so erreicht werden kann, wie Paul Pörtner schon 1970 selbstkritisch vermerkte. Auch heute noch ist es wichtig für einen Sender, radiophone Experimente dieser Art im Portfolio seines Programmangebots zu haben, zumal sie ja durch eine grosse Zahl von Kriminalhörspielen und unheimlichen Geschichten aufgewogen werden. Richtig ist aber auch, dass solche radikalen Experimente, einmal erprobt, nicht beliebig oft wiederholt werden können.
Integration von O-Ton- und Worthörspiel
Genug! Viel länger darf der Artikel nicht mehr werden. Wir haben das Gebiet des O-Ton-Hörspiels aus schweizerischer Produktion überflogen und auch Randerscheinungen und hybride Formen angetroffen. Die Einflüsse auf das «konventionelle» Hörspiel sind bis heute beträchtlich, auch wenn sie sich nicht immer direkt im Originalton manifestieren. Die Ursprünge reichen bis in die siebziger Jahre zurück, als die ersten O-Ton-Produktionen im Studio Basel entstanden, das sich unter anderem dem experimentellen Hörspiel verschrieben hatte. Damals wurde auch das Prinzip der Improvisation entdeckt, das heute für einzelne Produktionen oder auch nur für Teile davon bestimmend ist. Die Kombination von Texten, die von Autorinnen und Autoren verfasst wurden, mit Zitaten aus Ton- und Schriftquellen verschiedener Herkunft ist mittlerweile nicht nur im Feature, sondern auch im Hörspiel möglich.
Der Trend scheint schon längere Zeit in der Luft zu liegen. In seinem autobiographischen Werk «Das glückliche Geheimnis»34 (2023) berichtet Arno Geiger ausführlich, wie er ab 1992 während fünfundzwanzig Jahren seine field studies betrieb: Anfangs waren es Streifzüge durch Wiens Altpapier-Container, um weggeworfene Bücher zu sammeln und mit dem Erlös auf dem Flohmarkt sein knappes Einkommen während des Studiums aufzubessern. Schon in dieser frühen Phase war damit nebst dem materiellen Gewinn das Staunen verbunden, welche Zeugnisse menschlicher Existenz im endlosen Strom des Zivilisationsabfalls landen. Foto-Alben, Brief-Konvolute, Tagebücher, klinische Protokolle und andere Hinterlassenschaften verstorbener und lebender Mitmenschen werden so zur Quelle der Inspiration für den Schriftsteller, auch wenn sie nicht wörtlich zitiert und im Anhang nachgewiesen werden. «Einer, der vom Leben der Menschen erzählen will, tut gut daran, auf diesem Gebiet eine gründliche Spezialkenntnis zu erwerben», heisst es im Klappentext treffend. Geigers objets trouvés haben Auswirkungen auf den Stil und auf den Inhalt seiner Romane. Seinen eher späten Ansatz zum Erfolg beschreibt der Autor so:
«Offenbar hatte ich zuerst in der Sprache Boden unter die Füsse bekommen müssen, um anschliessend auch auf der inhaltlichen Ebene Tritt suchen zu können. […] Ich begriff, dass das echte Leben gewöhnlich ist und trotzdem vielschichtig und dass ein vielschichtiger Satz gelassen formuliert sein kann. Es stellt erstaunlich hohe Ansprüche, einen schlüssigen Gedanken zu formulieren, der nicht in jeder Sekunde signalisieren will, wie bedeutend er ist.»35
Auch auf das Hörspiel werden sich O-Ton-Feldstudien indirekt ähnlich nachhaltig auswirken. Den Elfenbeinturm gibt es nicht mehr, die Alltagsrealität ist – via O-Ton-Hörspiel und Feature – in die Studios eingedrungen, und Studios sind heute teilweise auch die Küche oder Stube von Schreibenden. Darüber wird im Einzelnen in anderen Beiträgen zu berichten sein.
- Schöning, Klaus, Spuren des neuen Hörspiels, in: Schöning, Klaus (Hrsg.), Spuren des Neuen Hörspiels, FfM. (Suhrkamp) 1982, S.40 ↩︎
- Pörtner zitiert Döblins Text und schreibt in Anlehnung an diesen: «Es geht – vereinfacht gesagt – darum, die Literatur von den Lettern, dem Buchdruck, der „Konservenkultur“ (Moreno) zu lösen und sie in den Status einer lebendigen direkten Kunst des Erzählens oder Spielens zurück- oder vorauszuführen.» (Pörtner,Paul, Keine Experimente mehr? Überlegungen zum Neuen Hörspiel, in: Schöning, 1982, S.263) ↩︎
- vgl. Wk, D’Schlummermueter, in: r+f 36/71, S.37 ↩︎
- Schneider, Hansjörg, Die Schlummermutter, in: ders., Ein anderes Land. Geschichten, Zürich (Ammann) 1982, S.117 ff ↩︎
- lb., «D’Schlummermueter», in: NZZ, 7.9.71 ↩︎
- Wühr, Paul, Die Entstehung des «Preislieds». Rede nach der Entgegennahme des Hörspielpreises der Kriegsblinden am 14. April 1972, in: Wühr, Paul, Preislied, Stuttgart (Reclam) 1973, S.52 ↩︎
- Ib., «D’Schlummermueter», in: NZZ, 7.9.71 ↩︎
- vgl. che., »Variationen über ein bekanntes Thema in der Originaltonart«, in: NZZ, 3./4.11.79 ↩︎
- vgl. Wiederkehr, Guido, Was wir täglich hören, «z’friede, so wie’s isch», in: r+f 9/72, S.74 f ↩︎
- Pgr 1/72, S.12 ↩︎
- vgl. Schaub, Martin, Die eigenen Angelegenheiten, in: Schlappner, Martin / Schaub, Martin, Vergangenheit und Gegenwart des Schweizer Films (1896-1987), Zürich (Schweizerisches Filmzentrum) 1987, S.156 ff ↩︎
- zit. ib., S.156 ↩︎
- ib., S.160 ↩︎
- Pgr 2/75, S.7 ↩︎
- Pgr 1/79, S.11 ↩︎
- «Kauer wählte für seinen Liebesbrief die radiophonische Form des Features. Sie gibt die wohl geeignetste Gestaltungsgrundlage ab, denn erst sie ermöglichte dem Schriftsteller die Durchmischung von Privatem und Recherchiertem, auch Mitgeteiltem, aus der sich dann ein auch für den Aussenstehenden, ja sogar Ausgeschlossenen einsehbares Bild zusammensetzt.» (liv., «Cagnosciat tü quel paiset», in: NZZ, 21./22.5.77) ↩︎
- Heissenbüttel, Helmut, Horoskop des Hörspiels, in: Schöning, Klaus (Hrsg.), Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche, FfM. (Suhrkamp) 1970, S.24 ↩︎
- Pgr 2/71, S.8 ↩︎
- Wäfler, H., Paul Pörtner: Kontaktprogramm, in: r+f 23/71, S.75 ↩︎
- ib., S.74 ↩︎
- Wyler, Annette, in: Freude am Spiel um Basel, in: r+f 5/74, S.68 f ↩︎
- Ryhiner, Nicolas, ib., S.69 ↩︎
- BIum, R., «Im Grund hat jeder Jass- oder Kegelklub einen homoerotischen Zusammenhang». Gespräch mit dem Autor Guido Bachmann anlässlich der Ausstrahlung seines ersten Hörspiels «Papagei Jossi», in: tvrz 7/74, S.70 ↩︎
- vgl. Wäfler, H., Erinnertes, Gelesenes, Erzähltes, Geträumtes. Erica Pedretti, in: r+f 6/72, S.68 ff; K.O., «Februar» oder ein Tummelplatz für Tontechniker, in: NZZ, 17.2.72 ↩︎
- Pedretti, Erica, «Gang in es Inschtitut. Ein Hörbild» (1972) (vgl. Pedretti, Erica, Gang in es Inschtitut, in: tvrz 27/72, S.64); «Art 4/73 oder Soviel Kunst kann es gar nicht geben» (1973) (vgl. Jsch, Erica Pedretti, Art 4/73 oder Soviel Kunst kann es gar nicht geben, In: tvrz 44/73, S.73; bü, Soviel Kunst kann es gar nicht geben, in: Die Ostschweiz, 10.11.73) ↩︎
- vgl. Ramm, K., Der Redefluss verschleiert. Hörspielmacher Paul Wühr, in: Schöning, Klaus (Hrsg.), Hörspielmacher. Autorenporträts und Essays, Königstein/Ts. (Athenäum) 1983, S.235 ↩︎
- vgl. BIum, R., Therapie oder Hörspiel? «Reise zum Planeten „Dau-Wal“», in: tvrz 15/76, S.69 ↩︎
- vgl. Schaub, 1987, S.159 und S.163 ↩︎
- Jaeggi, Urs, Über die Schwierigkeiten des Menschseins. Hörspielexperiment mit Patienten einer psychiatrischen Klinik bei Radio DRS, In: NZZ, 23.4.76 ↩︎
- Pgr 1/78, S.14 ↩︎
- Alec Chillingworth, What ist field-recording?, 2024 ↩︎
- Urs Hangartner, „Im Bau“ Klänge aus dem Innenraum, in: KulturTipp, 5.3.2013 ↩︎
- Oivier Joliat, Claude Pierre Salmony: Ein antiautoritärer Hörspielmacher geht in Pension, TagesWoche, 8.2.2017 ↩︎
- Geiger, Arno, Das glückliche Geheimnis, München (Hanser) 2023 ↩︎
- ib., S.57 ↩︎
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