99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

«eine ärgerliche Geschichte»

Teamwork zwischen Schriftsteller und Regisseur

Als der Krieg vorbei war, 1946, erhielt Ernst Bringolf ein Skript von einem jungen Autor mit den begleitenden Zeilen: «Mein Name wird Ihnen unbekannt sein, und es sind denn auch wenige, die ihn kennen. Wenn ich Ihnen ein Hörspiel zusende, so nur deshalb, weil mich das Hörspiel als neue künstlerische Möglichkeit interessiert, die noch viel zu wenig in Betracht gezogen wird.» Der Wunsch des Bewerbers nach einem Gespräch, von dem er sich Aufschluss über die «Fehler» erhoffte, die er in diesem Erstling «begangen» habe, wurde aber nicht erfüllt; «Der Doppelgänger» – so der Titel – wurde abgelehnt. Ein begründendes Schreiben ist heute nicht mehr auffindbar. Der Autor war Friedrich Dürrenmatt.

Von den vielen erfolgreichen Hörspielen Dürrenmatts interessiert mich dieses erste, gescheiterte Projekt am meisten, weil es die Entstehung eines Hörspiels als Produkt der Auseinandersetzung zwischen «Schriftsteller» und «Regisseur» zum Thema hat. Dieses Hörspiel im Hörspiel nimmt allmählich Gestalt an, indem der Autor auf die Wünsche des Regisseurs eingeht und sie teilweise erfüllt. Er ist nicht der «Dichter» in seiner Klause, sondern versteht sich durchaus als Sprachsteller im Sinne Döblins, den Dürrenmatt auch mit präzisen Vorstellungen zur akustischen Realisierung seines Hörspiels ausstattet. Zudem versteht er seine Arbeit als teamwork. Vom Regisseur fordert der Schriftsteller Stimmen, die er sich auf ganz bestimmte Weise vorstellt. Auch auf die Sprechweise legt er grosses Gewicht. Geräusche setzt er je nach Bedarf als dramaturgisch relevante Elemente oder als Kulissen ein. Der Regisseur verfügt «über viele Stimmen», von denen er mit Stolz sagt, «dass es gute Stimmen sind.» Diese stellt er dem Schriftsteller «zur Verfügung», und er betont, dass er bereit sei, ihm damit zu «dienen». Dürrenmatt setzt ihn auch als Kontrollinstanz ein, der es zusteht zu fragen, wenn er etwas nicht versteht, und damit eine Art Hebammenfunktion auszuüben. Der Schriftsteller bestätigt ihn ausdrücklich in diesem Selbstverständnis: «Fragen Sie, und Sie werden mir helfen.»

Rauchende Köpfe: Friedrich Dürrennmatt (links) mit Abteilungsleiter und Regisseur Hans Hausmann (Mitte) bei den Aufnahmen zu seinem Hörspiel „Das Unternehmen der Wega“, 1968 (Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Basel)

Der Schriftsteller verspricht dem Regisseur, «eine dunkle Geschichte» zu erzählen, die ihm «auf dem Herzen liegt» und von der er nicht viel mehr weiss als das «Motiv». Es ist die Parabel vom Mann, den sein Doppelgänger in der Nacht aufsucht, um ihm mitzuteilen, dass er von einem unbekannten Gericht zum Tode verurteilt worden sei. Das Gericht habe ihn dazu bestimmt, die Schuld für einen Mord zu tragen, den er, der Doppelgänger, begangen hat. Der Mann schreit seine Unschuld in die Nacht seiner Kerkerzelle, in die er auf Veranlassung des Gerichts geworfen wird. An dieses zu appellieren, ist nicht möglich, da angeblich die Schuld des Verurteilten «deutlich» und – vom Ende her betrachtet – fraglich ist, ob das Gericht überhaupt existiert. Der Doppelgänger befreit den Mann und bringt ihn in eine Situation, in der dieser gerade durch den Versuch, sich seinem Schicksal zu entziehen, zum Mörder wird: Er tötet zunächst die Geliebte des Doppelgängers und danach, als er erfährt, dass er nur dessen Instrument, sein «Henker» war, auch diesen. Sterbend verrät der Doppelgänger dem Mann, dass er im Namen des Gerichts frei gewesen wäre, wenn er seine Schuld auf sich genommen hätte; schreiend und sich selbst bezichtigend rennt der Mann durch die Stadt, um sich der Gerechtigkeit des Gerichts auszuliefern.

Dürrenmatt selbst hat Jahrzehnte später sein «Gleichnis» als ein Werk bezeichnet, das «sich in den christlichen Paradoxien herumhetzt», denen er in seiner Jugend schutzlos ausgesetzt war.  Es zu interpretieren, kann niemals Aufgabe eines Weblogs sein. Hier geht es allein um die Art und Weise, wie die beiden Protagonisten des Rahmens dieses paradoxe Werk hervorbringen und wie sie sich dazu verhalten. Da das ganze Skript von Dürrenmatt stammt, haben wir es mit seiner Vorstellung von der Aufgabe eines impliziten Hörspiel-Regisseurs zu tun. Das Rollenbild des Schriftstellers hingegen ist authentisch. Der Ausgang der Auseinandersetzung zwischen den beiden Akteuren der Wirklichkeitsebene ist damit von Anfang an vor-entschieden. Dürrenmatts Erstling blieb lange in der Schublade und wurde erst 1960 erstmals inszeniert vom Norddeutschen und vom Bayerischen Rundfunk – als letztes Hörspiel von Dürrenmatt und vielleicht sein bestes. Der «Schriftsteller» wurde in dieser Premiere sinnigerweise von Dürrenmatt selbst gespielt. Dessen markiges Bernerhochdeutsch kontrastiert wohltuend mit dem deklamierenden Sprechstil der Darsteller und auch des Regisseurs, der von Gustav Burmeester, dem Regisseur der Produktion, verkörpert wurde.

Der Schriftsteller geht von einem Thema aus, das er als «Motiv» bezeichnet. Den plot, die konkrete Handlung also, und das setting, die Ausgestaltung der Umgebung, sowie die Charaktere der handelnden Personen gilt es gemeinsam zu entwickeln. Konkretisierungen wie etwa Name, Beruf und soziale Stellung des Mannes, um welche der Regisseur bittet, scheinen dem Schriftsteller «unwichtig»,«nebensächlich», ja teils geradezu lästig. Dennoch ist er in dieser Hinsicht zu Konzessionen bereit und gesteht dem Regisseur die gewünschten, exotisch klingenden Namen, eine weite, traumhaft anmutende Hügellandschaft und ein «Hohes Gericht» zu. Dieses lässt er auf Wunsch in einem ebenso traumartig geschilderten Rokokoschlösschen tagen.

Der Schriftsteller entwickelt zunächst erzählend seine Geschichte. Von dieser epischen Ebene ist aber die dramatische des Hörspiels im Hörspiel nicht immer deutlich getrennt. Vielmehr sind beide Ebenen auf vielfältige Art miteinander verwoben. So fällt etwa zur Verblüffung des Regisseurs mitten in der Erzählung ein Schuss. Der Schuss ertönt gleich darauf noch einmal als ironische Illustration der Erzählpassage, die der Schriftsteller zur Erläuterung des Geschehens nachträgt. Danach treten wieder die dramatis personae auf. Dürrenmatt war – mit Fünfundzwanzig schon – ein Vollblut-Dramatiker und zugleich ein gewiefter Epiker. Diese Mischung ermöglichte eine solche komplexe Dramaturgie, welche dennoch die Zuhörenden nicht überfordert. Das deutschsprachige Hörspiel hätte sich nach dem Krieg und in der Folge von Brechts «Lukullus» keinen besseren Auftakt wünschen können.

Noch grössere Bedeutung als alle Ambiance haben für den Regisseur ein logischer Aufbau sowie die Lösung der Konflikte am Ende des Spiels. Daher besteht er hartnäckig darauf, das Geschehene als Traum zu deklarieren: »Das wäre wenigstens eine Lösung gewesen. Im Traum ist alles erlaubt, auch das Ungerechte.» Dürrenmatt stellt ihn damit in eine Hörspiel-Tradition, die ihren Höhepunkt in den Fünfzigerjahren erlebt, als sich die Studios teilweise zu regelrechten «Traum-Fabriken» entwickeln. Doch in dieser Hinsicht kommt ihm der Schriftsteller nicht entgegen. Ganz wie Kafka besteht er auf der Wirklichkeit seiner Geschichte: Sie ist kein Traum. In der Schlussszene tritt der Gegensatz zwischen den beiden Antagonisten des Rahmens offen zutage, die Auseinandersetzung nimmt Züge eines Kampfes an. Der Regisseur will keinesfalls zulassen, dass aus der Doppelgänger-Geschichte eine «ärgerliche», die Hörer möglicherweise verärgernde Geschichte wird. Der Schriftsteller aber quittiert seine Befürchtungen mit dem lakonischen Bekenntnis: «Es ist mein Prinzip, nur ärgerliche Geschichten zu erzählen.»

In dieser Situation reagiert der Regisseur panisch und verlangt den Verurteilten zu sprechen, was ihm der Schriftsteller gewährt. Er wechselt die Ebene und betritt am Schluss mit dem Schriftsteller zusammen das Schlösschen, wo das Gericht tagen soll. Aber der Gerichtssaal ist leer – abgesehen von der verwitterten Statue der Gerechtigkeit. Der Regisseur reagiert wütend auf diesen Misserfolg; er gesteht damit ein, dass sein Versuch, eine Lösung zu erzwingen, gescheitert ist. Seine Enttäuschung macht sich in dem Ausruf Luft: «Und damit soll ich mich zufrieden geben?» Der Schriftsteller aber, der seine Fassung längst wieder gefunden hat, entgegnet gelassen: «Damit müssen wir uns zufrieden geben.»

Dürrenmatt wusste, dass er mit seinem «Doppelgänger» gegen die wichtigste Doktrin der geltenden Hörspiel-Dramaturgie verstiess. Eine Rückweisung seines Stücks war unvermeidlich. Bringolf spielte genau die Rolle, die Dürrenmatt dem Regisseur im Hörspiel zugeschrieben hat. Sein Versagen – nach seinem Verdienst um Brechts «Lukullus» – wiegt schwer, ist aber begründbar durch die damals bereits in Dramaturgie-Handbüchern festgeschriebene Doktrin, die solche ärgerlichen Geschichten nicht zuliess. Zudem war sicher auch äusserer, institutioneller Druck mitbestimmend, unter dem Bringolf wohl damals schon stand. Dürrenmatt schrieb 1980: «Ich kann mich nachträglich nur wundern, dass ich mit einem solchen Stoff ernsthaft versuchte, Geld zu verdienen.»


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