99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage Quellenangaben, detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

«Bilderbuechstettli am See»

Vom Sonntagsidyll zur Werktagssatire

Das Panorama hat eine lange Tradition: in der Malerei und in der Fotografie, und auch der Film greift gelegentlich zum Panorama-Schwenk, wenn die Totale für einen Überblick nicht ausreicht. Der Begriff bezieht sich von seinen sprachlichen Wurzeln her auf die visuelle Welt: Er bedeutet wörtlich «All-Sicht» von altgriechisch pan, all, ganz, und horama, Sicht. Lebensgross gemalte Rundum-Panoramen, die meist einen eigenen Pavillon füllen, hatten ihre grosse Zeit im 19. Jahrhundert mit Höhepunkt in dessen letzten zwei Jahrzehnten. Oft waren es Landschafts- und Stadtansichten, oft auch Schlachtenbilder. Bekannt sind in der Schweiz bis heute das Wocher-Panorama, eine historische Ansicht der Stadt Thun, das dort noch besichtigt werden kann, sowie das Bourbaki-Panorama in Luzern, dessen «optischer Apparat» soeben aufwendig restauriert wurde; den Besuchern wird auch ein zwölfminütiges «Hörspiel» angeboten. Die digitale Fotografie hat heute den Raum in 360-Grad-Kugel-Panoramen erschlossen, die sich aus einer computer-generierten Synthese vieler Einzelbilder konstituieren. Die Betrachtenden befinden sich virtuell im Zentrum der Kugel – wie in einer Blase.

Das «Panoramaspiel» ist hingegen ein akustisches Produkt, eine ausgesprochen hörspiel-typische Gattung, die in ähnlicher Gestalt heute weder im Theater noch im Film denkbar ist. Am nächsten kommt ihm noch das geistliche Spiel auf der mittelalterlichen Simultanbühne. Es ist eine höchst elaborierte Form, die in der Pionierzeit der zwanziger Jahre, als man mit Ungeduld nach der «radio-eigenen» Hörspiel suchte, erst ansatzweise in einzelnen Produktionen vorkam und bis heute eine rare Spezies ist. Friedrich Walter Bischoffs berühmte Produktion «Hallo! Hier Welle Erdball!» (1928) hat als Versuch einer globalen Gesamt-Schau Züge eines Panoramaspiels, doch fehlt die ordnende Hand eines Präsentators. Alfred Döblin erarbeitete zusammen mit einem Regisseur des Leipziger Rundfunks eine Hörspielfassung seines «Alexanderplatz»-Romans. Die Reihung von Szenen, vereinzelt unterbrochen von «absoluten Stimmen», vermittelt über den dramatischen Gang der Handlung hinaus eine Art Milieu-Panorama eines Teils der Stadt Berlin. Die Ausstrahlung wurde 1930 aus ungeklärten Gründen abgesetzt. Als mögliches Motiv führte Döblin an, vieles sei «im Funkhaus kaum darzustellen». «Die letzten Tage der Menschheit» von Karl Kraus wurden 1947 als «Weltkriegspanorama» im grossen Sendesaal des Hessischen Rundfunks inszeniert und live ausgestrahlt. Als archetypischer Repräsentant des Panoramaspiels gilt bis heute Dylan Thomas’ Werk «Under Milkwood», das vielleicht berühmteste Originalhörspiel der BBC, das 1954 mit dem Prix Italia ausgezeichnet wurde. Es integriert aus unzähligen Geräuschen, Liedern und den Stimmen der Bewohner das Hörbild eines kleinen walisischen Fischerdorfes. Ein allwissender Erzähler führt durch die Gesamtschau und vermittelt auch Einblicke in die Gedanken und Träume seiner Mitbürger. Hier ist die charakteristische Durchdringung epischer und dramatischer Elemente präformiert.

Wie das «Hörspiel der poetischen Realität» wurde auch das «Panoramaspiel» 1962 vom Hörspiel-Theoretiker Armin P. Frank begrifflich erfasst. Es verbindet nach seiner metaphorischen Definition eine Reihe von Bausteinen durch Assoziation zu «einer Art impressionistisch-pointillistischem Gemälde». In der «Abteilungsperiode» des Deutschschweizer Hörspiels haben vor allem Gerold Späth und Peter Jost ein paar Produktionen dieser Art geschaffen. Die Nähe zu Dylan Thomas’ «Under Milkwood» wurde schon anlässlich der Erstsendung von Späths Hörspiel «Heisser Sonntag» (1971) bemerkt und vom Autor bestätigt, doch bestehen auch bedeutende Unterschiede zwischen den beiden Werken. Während Thomas die Traumrealität eines fiktiven walisischen Dorfes inszeniert, in der sogar Verstorbene eine Stimme erhalten, entwirft Späth einen auf Anhieb realistisch wirkenden «Bilderbogen» eines Städtchens am Zürichsee, das von den Zuhörenden problemlos mit dem gegenwärtigen Rapperswil zu identifizieren war.

Rapperswil: Blick vom Hafen auf Altstadt, Stadtpfarrkirche St. Johann und Schloss (Quelle: Wikipedia)

Der 1969 erstmals unter dem Titel «Heisser Sonntag. Reminiszenzen» auszugsweise veröffentlichte Erzähltext war ursprünglich als Kapitel des Roman-Erstlings «Unschlecht» konzipiert, das die geographische Situation hätte umreissen sollen. Da es sich aber zeigte, dass dies durch das erste Kapitel bereits weitgehend geleistet wird, fand es im Roman keine Aufnahme. Als Späth das Kapitel zwei Jahre später nochmals durchlas, stellte er fest, «dass es voller Stimmen ist», und beschloss, es als Hörspiel zu bearbeiten. Umfangreiche Teile des hochdeutschen Erzähltextes wurden wörtlich übernommen, erweitert und ausgestaltet durch (teils bereits in der Erzählung enthaltene) Dialoge von über sechzig Stimmen von Einheimischen und zugereisten Sonntagsausflüglern. Ihnen steht als wichtigste Figur der Erzähler gegenüber, der nach der Vorstellung des Autors ein «Heimkehrer» sein kann, «jedenfalls einer, der sich hier auskennt.» Er durchstreift während des Nachmittags und Abends bis nach Mitternacht das Städtchen und dessen nähere Umgebung und «schnappt hier und dort etwas auf», indem er sich teils wie ein Passant unter das Volk mischt. Dem Erzähler fällt die Aufgabe der Verknüpfung und Redeanführung der Dialoge zu. Das Hörspiel unterscheidet sich also – abgesehen von der akustischen Ambiance – nur durch das stärkere Hervortreten des Erzählers und durch die Illustration mittels zahlreicher Stimmen von dem in Buchform veröffentlichten epischen Text. Die Reihenfolge der «Bilder» ist in dieser hochdeutschen Hörspielfassung gleich wie in der Erzählung. Zwei kurze Abschnitte fehlen, zwei Szenen sind neu hinzugekommen, und drei Dialoge bzw. Monologe wurden beträchtlich erweitert.

Die Struktur wird auch in der Mundartversion von 1978 nicht wesentlich verändert. Aber bei einem Vergleich mit der hochdeutschen Version von 1971 wird sofort klar, dass Späth den Text nicht bloss Wort für Wort übertragen hat. Als erstes fällt eine starke Tendenz zur Reduktion auf. Der so stellenweise auf sein sprachliches Skelett reduzierte Text wirkt im Vergleich mit der ursprünglichen Fassung impressionistisch-pointillistisch, wodurch dieser Wesenszug des Panoramaspiels verstärkt wird. Verschwunden sind preziöse Metaphern wie: «die Sonne drückt Hitze drauf, heissen Siegellack», gesuchte Sprachfiguren wie der «Modergeruch im efeuverwachsenen Graumauerhof» und Reimspiele wie «frisch rasiert, pomadig frisiert». Stattdessen heisst es nun lakonisch: «D’Sunne schint. Es isch heiss.» Der «Ruch von See und schilfiger Fäulnis und schlammigem Seegras im Brackwasser» ist einem simplen Aussagesatz gewichen: «De See schtinkt vo Fisch und Schlamm.» Daran schliesst der drollige Vergleich an: «D’Usflügler schwaderet wie Änte uf em See umenand.» Als einzige Metapher hat sich das «Bilderbuechstettli» erhalten.

Im Dialekthörspiel «Heisse Sunntig» ist der Erzähler nicht mehr bloss Vermittler der Bilder, Szenen und Geschichten, sondern mischt sich unter die Figuren und spricht sie teils als gute Bekannte an. Den Hochgebirgsalpinisten Zehnder, der mit seinem Rucksack vor dem Bahnhofbuffet bei einem Bier sitzt, beschreibt er dem Hörer, quasi beiseitesprechend, bevor er sich mit der Begrüssung: «Hoi Fritz. Bisch wider i de Berge gsii?» zu ihm setzt und ein paar weitere Worte mit ihm wechselt; darauf verfällt er ungeniert wieder ins Beschreiben und Kommentieren, während Zehnder einem anderen Bekannten von seiner letzten Tour vorschwärmt. Neu ist die Begegnung mit dem Bademeister Balz Zapf, der Hauptfigur des 1977 veröffentlichten Romans «Balzapf oder als ich auftauchte». Das weitgereiste enfant terrible, dichterisches Spiegelbild des Autors, wird vom Erzähler – im Unterschied zu Zehnder – per Sie angeredet. Auf dessen Versuche, ihn in ein Gespräch über andere Gestalten zu verwickeln, reagiert er kurzangebunden und schneidet ihm mehrmals das Wort ab. Als der Erzähler eine seiner Bemerkungen nicht versteht und fragt: »Wie meined Si das?« entgegnet er grob: «Ich meine gar nüt. S sell jede e chli mee für sich luege und e chli weniger überal de Latz driihänke. Säb meini. Händ Si no en Wunsch? Wänd Si go bade?» In dieser Szene wird der Hörspiel-Erzähler selbst in die Rolle einer Figur gedrängt, die auf Zapfs ruppiges Verhalten keinen Einfluss hat und sogar in ihrer auktorialen Funktion in Frage gestellt wird.

Diese ironische Wendung macht den Zuhörenden bewusst, wie sehr der Erzähler in allen anderen «Bildern» das Spiel dominiert. Die Szenen des Hörspiels sind also nicht Teile einer nach Objektivität strebenden Reportage, sondern stellen ein Panorama von absoluten Stimmen dar, das nur dem Bewusstsein des Erzählers entspringen kann. Das wird auch durch teils sprunghafte Ortswechsel deutlich. So wendet sich der Erzähler vom komponierenden Musikus Hofer in der Stadtkirche ohne Überleitung dem Spaziergänger Fritz Schönbächler zu, der soeben im Rütiwald ins Immergrün «brünzlet». Wie ein Drohnenflug wirkt der Wechsel von einer der Inseln zurück in die Stadt. Darauf werden immerhin ein paar Worte verwendet, die aber offensichtlich einen bloss in Gedanken zurückgelegten Weg beschreiben: «Vo de Lützelau quer dur’s Schilf und gradus über’s Wasser: Do chunt me tiräkt is Kapuzinerchloschter.» Bis auf die Erzählung zurück gehen die Motive des rot in die Zelle überschwappenden Sees und der von Bruder Hilarius halluzinierten tanzenden Eingeborenen von Celebes, bei denen er sich als Missionar die Malaria geholt hat. Aus dem früher bloss präsentierenden wird hier ein teilnehmender Erzähler, der dem leidenden Mönch gerne helfen möchte, wenn er nur könnte. Damit wird endgültig klar, dass alle Figuren, so wirklichkeitsgetreu sie in ihrer der Wirklichkeit entsprechenden Umgebung erscheinen, Akteure auf der inneren Bühne des Erzählers sind. Nichts in diesem Spiel ist tatsächlich äussere Realität. Der Autor macht sich die Suggestivität des illusionistischen Hörspiels zunutze, die alle erklingenden Schallereignisse als gleich real erscheinen lässt. Darin unterscheidet sich das Panorama-Hörspiel grundlegend von den meisten seiner bildlichen Pendants.

Im Rahmen der Hörspielgeschichte müsste man «Heisse Sunntig» im Zusammenhang mit entsprechenden Bestrebungen von Autoren wie Jörg Steiner, Werner Schmidli, Manfred Schwarz, Walter Matthias Diggelmann und Hanspeter Gschwend sehen, die seit Ende der sechziger Jahre, angeregt und gefördert von Vertretern der Abteilung »Dramatik«, Mundart und Umgangssprache als Mittel zur Gestaltung von aktuellen Problemen im Hörspiel neu entdeckt hatten. Dem lag die etwa von Joseph Scheidegger vertretene Auffassung zugrunde, solche Produktionen nähmen sich in hochdeutscher Sprache »irgendwie exotisch» aus, in Mundart aber wirke «derselbe Stoff viel dringender und herausfordernder». «Heisse Sunntig» ist aber Späths einziges Dialekt-Hörspiel. In seinem zweiten, geradezu gegensätzlichen  Originalhörspiel zu demselben Thema kehrt er zur hochdeutschen, manchmal leicht mundartlich gefärbten Standardsprache zurück.

«Heisse Sunntig» ist trotz gewisser satirischer Züge eine kleinbürgerliche Idylle. Die Neufassung «Mein Besuch im Städtchen am See» (1986) verzichtet von vornherein auf die sommerlich-sonntägliche Atmosphäre, die man in den Bildern von »Heisse Sunntig« mit allen Sinnen aufnehmen kann. Der «Besucher» kommt am frühen Morgen eines Spätsommertages mit dem Auto im Städtchen an und wird von einer Bewohnerin gleich wegen falschen Parkierens zurechtgewiesen. Der Erzähler begreift sich wieder mehr als Vermittler, was vordergründig vor allem aus zahlreichen Redeanführungen hervorgeht, die im Mundarthörspiel von 1978 weitgehend eliminiert waren. Zwar weiss er über das Denken seiner Figuren bestens Bescheid, doch Einfühlung in dem Mass wie etwa in der Hilarius-Szene ist in diesem Hörspiel unvorstellbar. Der Spaziergang führt diesmal nicht über die Grenzen des Städtchens hinaus, womit fast alle Stimmungswerte dahinfallen, die von den sommersonntäglichen Landschaftsimpressionen ausgingen. Dafür werden nun Gerede und Gedanken der Bewohner während eines ganzen Werktages nüchtern und präzis zu Protokoll genommen. Waren die Stimmen in «Heisse Sunntig» ausnahmslos die der Kleinbürger von «Spiessbünzen», «Molchgüllen», «Barbarswil», wie das Städtchen in «Balzapf» tituliert wird, so treten diese im neuen Panoramaspiel etwas zur Seite. Nun kommen sogar Arbeiterinnen und Arbeiter vor. Den Arbeitslosen widmet der Besucher wenigstens ein paar Gedanken. «Man sieht sie nicht. Sie verhalten sich unauffällig. Sie schämen sich, verstecken sich.» Einen besonderen Status hat auch der «Warter» Höfliger, der nach seiner unfreiwilligen Pensionierung angefangen hat zu warten: «Zuerst vor seiner Bank; dann am Bahnhof; dann am Hafen.» Besonders nahe scheint dem Erzähler der ehemalige Seemann Spring zu stehen, der in der Welt herumgekommen ist und etwas zu erzählen weiss. All diese kleinen Figuren präsentiert er immer noch mit einem Augenzwinkern, auch wenn da nicht nur Vorteilhaftes zum Vorschein kommt.

Aber der Schwerpunkt dieses Spiels liegt bei denen, die in den fetten Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs ihren Schnitt gemacht haben und nun eine Klasse von Emporkömmlingen bilden, die die Fäden hinter den Kulissen ziehen. Für ihr Städtchen wäre «Spiessbünzen» ein zu harmloser Name. «Barbarswil» und das goldene Feigenblatt auf blütenweissem Grund im Stadtwappen treffen die Verhältnisse schon eher. In der Wirtschaft «Zum Paragraph zwölf» treffen sich zum Aperitif «die Macher und Meister», um sich zwischen nichtssagenden faulen Sprüchen schnell gegenseitig Geschäfte zuzuschieben oder wenigstens verwertbare Informationen aufzuschnappen. Diese überdurchschnittlich lange Szene bildet das Kernstück des neuen Stadtpanoramas. Sie lässt in einer meisterhaften Montage von neben- und durcheinanderlaufenden Gesprächen ein klares Bild von den trüben Machenschaften hinter den idyllischen Fassaden des Städtchens am See entstehen. In der Wirtshaus-Szene der neuen Version stellt Späth innere und äussere Realität unmittelbar nebeneinander. Er deckt damit den Gegensatz zwischen Sagen und Denken auf und reisst seinen Figuren die Maske herunter. Von der poetischen Atmosphäre des versponnenen Fischerorts unter dem Milchwald, mit dem Dylan Thomas in den fünfziger Jahren ein repräsentatives Muster des Panoramaspiels geschaffen hat, ist in Späths «Besuch im Städtchen am See» rein gar nichts mehr übriggeblieben.

Das Panorama-Hörspiel scheint sowohl für milde als auch für sardonische Kritik am Zustand einer grösseren Gemeinschaft, nicht nur von Seldwyla am oberen Zürichsee, das geeignete Format zu sein. Nach einem Beispiel aus neuerer Zeit wird noch gefahndet.


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert