99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

Phantastische Realität

Wenn Kafka ein Hörspiel geschrieben hätte…

Gregor Samsa würde als menschengrosser Mistkäfer aufwachen und sich monologisierend allmählich seines veränderten Zustandes bewusst werden. «Es war kein Traum», heisst es schon zu Beginn von Kafkas Erzählung. Aber eine parallele, auffällig traumartige Realität überlagert die normale Alltagswirklichkeit. Dazu braucht es die erlebte Rede. Der innere Monolog hingegen würde die Perspektive festlegen und würde Kafkas «phantastische Realität» stören, wenn nicht gar zerstören. Aber auch aus äusseren Gründen kam für ihn das Hörspiel nicht in Betracht. Er starb 1924, als der «Unterhaltungsrundspruch für alle» erst gerade eingeführt und ein erstes Hörspiel («A Comedy of Danger») in England gesendet worden war. Abgesehen davon wäre es für Kafka völlig undenkbar gewesen, ein unfertiges Produkt abzuliefern, das von den Praktikern des Mediums erst in seine endgültige Form gebracht wird. Dürrenmatt erprobte die Realitätsverschiebung in seinem ersten Hörspiel «Der Doppelgänger» 1946. Dazu bediente er sich eines Kunstgriffs: Der Schriftsteller im Spiel erfindet die traumartige Realität in Kooperation mit dem Regisseur als Vertreter der Normalität. Aber Dürrenmatts Skript wurde von Radio Bern abgelehnt, da dieses irritierende Konzept seiner Zeit immer noch weit voraus war. Erst 1960 inszenierten NDR und BR in Koproduktion seinen Erstling als letztes seiner Hörspiele.

Kurz danach definierte der Hörspiel-Theoretiker Armin P. Frank diesen Typus und konnte sich dabei auf ein Korpus von Beispielen stützen, zu denen auch Walter Oberers «Phantastische Fahrt» (1953)  sowie das Hörspiel «Die Panne» (1956) gehören, für welches Friedrich Dürrenmatt mit dem «Hörspielpreis der Kriegsblinden» ausgezeichnet wurde. Das von Frank so bezeichnete «Hörspiel der poetischen Realität» irritiert durch Verfremdung einer scheinbar objektiven Realität, die den Eindruck eines gleitenden Übergangs des äusseren Geschehens in eine phantastische Realität zur Folge hat. Dieser Hörspieltypus geht wie viele andere von einer dramatischen Handlung in Dialogform aus, allenfalls ergänzt durch einen präsentativen epischen Rahmen. Das Gleichgewicht zwischen Realistik und Phantastik zu halten, ist aber weit anspruchsvoller als die Ausgestaltung des dramatisch-epischen Grundkonzepts.

So gerüstet wenden wir uns einem Experiment zu, das 1982 ein Autor und zwei Regisseure von Studio Zürich in Szene setzten. Es handelt sich um Jürg Amanns Kurzhörspiel «Der Sprung ins Wasser», unter «Aufsicht» des Autors in zwei sehr unterschiedlichen Versionen inszeniert von Walter Baumgartner und Franziskus Abgottspon und abschliessend in einer Talk-Runde von den Beteiligten diskutiert und kommentiert. «Der Sprung ins Wasser« ist ein Monolog, der nicht ohne Weiteres als innerer kenntlich ist. In der allmählichen Aufdeckung vergangener Ereignisse ähnelt der Bericht einem analytischen Drama. Die vorsätzliche Unwahrscheinlichkeit der Situation macht schon nach wenigen Worten klar, dass sich der an einen Verkehrspolizisten gerichtete Bericht des jungen Mannes mit den gewohnten alltäglichen Verhältnissen nicht vereinbaren lässt. Er beginnt folgendermassen:

«Ich hatte, Herr Polizist, nur meiner Bekannten die Stadt zeigen wollen, da war sie plötzlich in ein Meer getaucht, mitten in der Stadt. Man muss sich das vorstellen.»

Verkehrsregelung am Central in Zürich. Comet Photo AG. ETH-Bibliothek (Quelle: Wikipedia)
Verkehrsinsel am Central. Comet Photo AG. ETH-Bibliothek (Quelle: Wikipedia)

Die Redensart »Man muss sich das vorstellen» ist hier wörtlich zu nehmen. Charakteristisch für das «Hörspiel der poetischen bzw. phantastischen Realität» ist eben das Fehlen jedes Hinweises auf eine Objektivierung innerer Wirklichkeit, der Zusammenfall von Subjektivität und Objektivität. Dies ist auch entstehungsgeschichtlich bedingt, wie der einführende Text des Autors verrät:

«Am Anfang zu diesem Hörspiel stand ein Traum, in dem eine junge Frau mitten in der Stadt vom Randstein herunter ins Wasser des offenen Meeres sprang, in das sich die Stadt plötzlich verwandelt hatte. Später, vor dem Hintergrund einer inzwischen wirklich in die Krise geratenen Beziehung einerseits und einer aus scheinbar heiterem Himmel heraus tatsächlich aufgebrochenen Stadt andrerseits, bekam dieser Traum unversehens seine konkrete Bedeutung. Aus seiner schichtweisen Ausdeutung in schmerzvoller Trauerarbeit durch den betroffenen, doppelt verunsicherten Mann entstand eine Partitur für eine Stimme und die Geräusche einer Stadt.»

Der Mann schildert im Folgenden die genaueren Umstände des Untertauchens seiner «Bekannten», seine anfängliche Hoffnung, sie werde ihren Koffer loslassen, den sie sich nicht hatte abnehmen lassen und der sie nun in die Tiefe zog. Alptraumhaft wirkt auch die Beschreibung der Nöte, in die ihn der Versuch gestürzt hat, sich seiner Kleider zu entledigen: Schuhsenkel, Hose, Hemd, Krawatte, alles an ihm hatte sich «verknotet», so dass an eine spontane Rettung der Frau nicht zu denken war. Dazwischen schiebt sich die Erinnerung an die vorhergehende Nacht, die er mit ihr verbracht hat; aus der expliziten realistischen Darstellung wird deutlich, dass sie weit mehr als eine «Bekannte» sein muss; der Ausdruck schien am Anfang durch die Situation der Zeugenaussage gerechtfertigt, doch wenig später erfährt man, dass es sich um seine langjährige Freundin und Geliebte handelt.

Die Beziehung, die mit dem Sprung ins Wasser ihr Ende gefunden hat, wird nun Schicht für Schicht freigelegt. Zunächst stellt sich die Angst ein, sexuell versagt zu haben, danach die Erinnerung an einen Strauss langstieliger Rosen unbekannter Herkunft, Anflüge von Eifersucht auf den mutmasslichen Rivalen, der Verdacht, die Entschwundene habe ihren Auszug von langer Hand vorbereitet, habe schon seit Wochen kofferweise ihre Sachen zu dem anderen Mann gebracht. Da stellen sich auf einmal Fragen: Wie weit kennt er seine Geliebte überhaupt? Warum hat er sie nicht nach dem Grund ihres Verhaltens gefragt? Hat sie ihn tatsächlich ohne Vorwarnung verlassen, oder hat er die Anzeichen bloss überhört, nicht hören wollen?

In der untersten Schicht, die er aufdeckt, stösst der Fragende auf sich selbst. Nun scheint es ihm sogar möglich, dass er die Frau «geradezu selber ins Wasser gestossen habe». So gesehen spiegelt der Bericht eine Kehrtwendung von der anfänglichen Perspektive des Mannes, der in der vermuteten Untreue der Frau die Ursache des Scheiterns der Beziehung sieht, zur Übernahme der möglichen Perspektive der Frau.  Am Schluss sieht sich der Monologisierende, wie er auf der Strasse stand: «Ich hatte die Manschettenknöpfe endlich vom Hemd abgerissen, die Krawatte war aufgebunden, die Schnürsenkel waren gelöst.» Er scheint mit seinen «Verknotungen» fertig geworden zu sein. Der «Herr Polizist», qua Über-Ich, wird noch einmal direkt angesprochen. Aber der regelt offenbar ungerührt den nun wieder zirkulierenden Verkehr. Die Frage: «Warum sprang ich nicht? Warum war ich denn nicht gesprungen?» bleibt unbeantwortet.

Der letzte Satz aber lautet: «Ich stand am Randstein, hatte die Jacke natürlich ausgezogen und erkannte die eigene Stadt nicht mehr.» Durch die ganze Rede hindurch zieht sich das Bild der Stadt, der «Geburtsstadt», der «Heimatstadt», «die immer ein Ort des sicheren Bodens gewesen war, seit Menschengedenken, jedenfalls seit ich auf der Welt war» und die durch den überraschenden Aufbruch der Frau plötzlich «aufgebrochen» war. Diese sichere Stadt hatte der Berichtende seiner «Bekannten» – nach fast sechs Jahren des Zusammenlebens zum ersten Mal – zeigen wollen, und nun erstreckte sich vor seinen Augen das «offene Meer, zu dem sie die Stadt […] gemacht hatte.» Das Meer steht für eine Stadt im Aufbruch – äusserlich gesehen der Zürcher Jugendunruhen der beginnenden achtziger Jahre. Die Ambiguität des Textes wirkt bis in die hochpräzise Sprache dieses sonderbaren Unfallrapports hinein: Der «Strassenrand» wird in der Verkürzung zum «Strand», und die «Insel», auf welcher der Polizist steht, kann sowohl metaphorisch als Podest zur Verkehrsregelung als auch im eigentlichen Sinn als Insel im Ozean gesehen werden; die Rück-Verschiebung von der phantastischen zur realistischen Perspektive vollzieht sich am Schluss in einem Satz:

«Ich starrte ins Wasser, aufs offene Meer hinaus, die Schaumkronen auf den sich brechenden Wellen betrachtete ich, wo Sie jetzt stehen, auf Ihrer Insel, Herr Polizist, wo nun der Verkehr wieder rollt, als ob nichts geschehen wäre, der Schwerverkehr, der Stossverkehr, der Werktagsverkehr.»

Giuseppe Reichmuth, Eiszeit Zürich (1975)
«Phantastischen Realität» in der Bildenden Kunst, entstanden sieben Jahre vor Amanns Hörspiel

Inszenierung als Experiment

Amann ist nicht zufällig auf den Hörspieltypus der «phantastischen Realität» gestossen. Er hat 1973 mit seiner Dissertation «Das Symbol Kafka. Eine Studie über den Künstler» promoviert, und Kafka ist in fast allen seinen Werken präsent. Auch der «Sprung ins Wasser» ist eine «Studie über den Künstler», doch muss es hier bei diesem Hinweis bleiben. Amann war aber auch – und das bewahrte ihn vor Epigonentum – ein aufmerksamer Beobachter seiner Zeit, der durch seine aktive Mitwirkung bei der Produktion dieses Hörspiels die «Synthese von Kunst und Technik» kreativ erprobte. Im Untertitel nennt er seinen Text eine «Partitur für eine Stimme und die Geräusche einer Stadt». Eine Partitur ist kein endgültiges künstlerisches Produkt, sondern hat Vorschlags-Charakter, muss interpretiert und dirigiert werden. Amanns Glück war, dass er im Studio Zürich zwei erfahrene Regisseure der damals mittleren Generation fand, die sich nicht mehr nur, wie viele Berufskollegen bis dahin, als getreulich «Re-Produzierende» im Dienst der Autoren verstanden. Die Regisseure Walter Baumgartner und Franziskus Abgottspon reizte es, unabhängig voneinander mit verschiedenen Darstellern ihre je eigene Interpretation dieser Partitur akustisch zu realisieren. Das hauptsächliche Verdienst des Autors ist es, dass er das Angebot annahm und das Experiment mit wachem Sinn begleitete. Amann hat aber auch Vorarbeit geleistet, indem er sein Manuskript mit detaillierten Angaben zu den Geräuschen (Sirene eines Notfallwagens, fahrende und läutende Trams, Polizist mit Trillerpfeife, Autohupen,  Fahrradklingeln, aufheulende Motoren) versah. Der Wechsel von Text- und Geräuschblöcken sollte dazu dienen, dem Hörspiel einen Rhythmus zu verleihen.

Schon beim ersten Zuhören zeigt sich, dass alle Vorschläge des Autors in beide Inszenierungen eingegangen sind, dass es also der Regie-Stil ist, der zwei als geradezu gegensätzlich erscheinende Produktionen entstehen liess. Baumgartner hat sich an Amanns Hauptvorgabe gehalten und die Einschnitte zwischen den Textblöcken durch Geräusche einzelner Verkehrsmittel markiert, die wie akustische Interjektionen wirken. Das Mikrophon vertritt die Stelle des Polizisten, zu dem der Mann aus verschiedenen Positionen zwischen rechts und links, nah und fern spricht. Die anfänglich grössere Distanz, die ihn zu lautem Sprechen zwingt, verringert sich im Laufe des Spiels und wird von einer eindringlicheren Sprechweise abgelöst, die den Eindruck zunehmender Intimität vermittelt. Auch die Hup- und Klingelzeichen nehmen in ihrer Häufigkeit und Intensität zu, so dass der Eindruck eines Verkehrsinfarkts rund um den Polizisten entsteht. Nach einer Phase der Stagnation in der Mitte des Hörspiels löst sich der Verkehrsstau allmählich auf und der Sprechende geht wieder zunehmend auf Distanz zum Mikrophon. Am Schluss ertönen der Reihe nach kurzes Vogelzwitschern wie schon am Anfang, das Geräusch eines ins Wasser fallenden Körpers und schliesslich starke Brandung.

Franziskus Abgottspon hat mit seiner Inszenierung den ganzen Spielraum der interpretatorischen Freiheit ausgeschöpft. Seine Version spielt vor einem permanenten Geräuschhintergrund. Zu Beginn ist an- und abschwellender Verkehrslärm zu hören, danach setzen zudem Wellengeräusche ein, und am Schluss mischt sich der Verkehrslärm mit Möwengeschrei und dem Tosen von Brandung. Die einschneidendste Veränderung besteht darin, dass der Monolog in drei Ebenen von verschiedener Qualität differenziert wird: An den Polizisten richtet sich die rufende, distanzierte Stimme; eine andere setzt dagegen den Ton eines nüchternen Berichts; dazu kontrastiert besonders stark die Intimität einer leisen, nahen Stimme, die als innere Stimme des Mannes erlebt wird. Von der Mitte an, parallel zur Befreiung des Mannes von seinen «Verknotungen», verflüssigt sich der Monolog. Die Fragen am Schluss: «Warum sprang ich nicht? Warum war ich denn nicht gesprungen?» werden in der Art eines Echos im Hintergrund dreimal nachgesprochen, wodurch eine insistierende Wirkung entsteht.

Zur Charakterisierung dieser beiden unterschiedlichen Realisierungen behalfen sich die Teilnehmer der im Anschluss gesendeten Gesprächsrunde vornehmlich mit Metaphern aus dem Bereich der Musik und der bildenden Kunst. Die Version Baumgartner wurde mit Kammermusik verglichen und als zeichnerisch, zeichenhaft, schmal, scharf konturiert, asketisch bezeichnet. Der Regisseur assoziierte Bilder von Magritte mit diesem Werk. (Man könnte hierzu wohl auch Giuseppe Reichmuths «Eiszeit Zürich“ nennen; siehe Abbildung oben.) Die Version Abgottspon dagegen wurde als reich instrumentiertes Orchesterstück empfunden, als Weg, der nicht geradlinig, sondern spiralförmig verläuft, den Gegenstand einkreist, als ein grüblerischer Denkprozess, als surrealistisches Gemälde mit starken Traumelementen, das dem Regisseur selbst wie eine Mischung zwischen Dali und Hieronymus Bosch vorkommt. Dem Autor liegt die erste Version näher, da sie mit dem Verstand aufgenommen werden kann und mehr «weh tut», während er sich der zweiten Version mehr ausgeliefert fühlt. Trotz der provozierenden Wirkung erklärt er sich aber auch mit dieser freieren Interpretation einverstanden. Da auffällige Brüche fehlen, kann der Eindruck einer geschlossenen Realität sui generis entstehen, was dem «Hörspiel der poetischen Realität» in idealer Weise entspricht.

Baumgartners Inszenierung betont durch den rhythmischen Wechsel zwischen Text- und Geräuschblöcken, durch Sprünge zwischen verschiedenen Sprecher-Positionen, durch harte Schnitte und teils schrille Signale den artifiziellen Charakter der Montage und erzielt so einen verfremdenden Effekt, der die gedankliche Aktivierung der Zuhörenden zum Ziel hat. Diese erleben sich als der angesprochene Aussenstehende, als stummes Gegenüber des Mannes. Dem Gefühl von Distanz, das dadurch entsteht, wirkt die Tatsache entgegen, dass es aus dieser eher unangenehmen Situation kein Entrinnen gibt. Die Zuhörenden sehen sich so einer surrealen Welt gegenübergestellt, in der innere und äussere Wirklichkeit als scharf voneinander getrennt, aber doch in geheimnisvoller Weise aufeinander bezogen erscheinen. In Abgottspons Inszenierung ist der Hörer von einem weiten Raum umgeben, der durch die Kulisse der Verkehrsgeräusche während des ganzen Spiels präsent ist. Entscheidend ist die Differenzierung in drei Stimmen, deren eine als intime, innere Stimme wahrgenommen wird. In solchen Passagen wird damit den Hörerinnen und Hörern in der Art eines inneren Monologs die Möglichkeit der Identifikation mit der Figur angeboten. Hier sollen sie nicht in kritischer Distanz gehalten, sondern ins Geschehen miteinbezogen werden, Stauung und Lösung miterleben, sich betroffen fühlen; entsprechend suggestiv wirken die Fragen am Schluss. Sie stellen auch das Verhalten der Zuhörenden in Frage.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die beiden Regieversionen tatsächlich gegensätzlich sind und dass sich darin die Bandbreite der wirkungsästhetischen Möglichkeiten dieses Hörspieltypus manifestiert. Diese reichen von der Einbindung des Rezipienten in eine traumartige Wirklichkeit bis zur quasi objektiven Darstellung einer surrealen Wirklichkeit. Eine stark befremdende Wirkung ist beiden Fassungen eigen. Die Version Abgottspon scheint der traditionellen Form des Typus näherzustehen, während sich Baumgartners Realisierung in Richtung auf eine experimentelle Erneuerung bewegt. Beide, Abgottspon und Baumgartner, sind an der Entstehung dieses Hörspiels weit mehr beteiligt, als dies für Dramaturgen und Regisseure normalerweise üblich ist. Die beiden Versionen haben eigentlich je zwei Autoren, von denen einer Schriftsteller, der andere Dramaturg und Regisseur ist. In enger Zusammenarbeit leisteten sie das, was im Idealfall ein Hörspielmacher wie Arthur Welti in Personalunion schafft. Man darf aber nicht vergessen, dass auch ein Hörspielmacher immer weitere Mitwirkende hat, vor allem die Darstellerinnen und Darsteller, aber auch Komponisten, Musiker, Techniker. Das Hörspiel ist (fast) immer ein Produkt von Teamwork. Eine seltene Ausnahme bilden die Kurzhörspiele von Gaudenz Trüeb, die gleichsam auf einem eigenen Planeten siedeln.

Das waren nun viele Worte zu einem kurzen Hörspiel von einer Viertelstunde Dauer, allerdings in doppelter Inszenierung. Ich vermute, dass das «Hörspiel der poetischen bzw. phantastischen Realität» trotz Baumgartners zukunftsweisender Version heute nicht mehr zeitgemäss erscheint und deshalb ausgestorben ist. Oder täusche ich mich? Wer kann hier weiterhelfen?


Kommentare

Eine Antwort zu „Phantastische Realität“

  1. Kaum totgesagt, schon wieder auferstanden: Ein «Hörspiel der poetischen Realität» hatte vor einem halben Jahr erst Première: «Bon voyage, les fantômes» von Regina Dürig und Christian Müller, gesendet am 30.9.2023. «Poetische Realität» ist hier wörtlich zutreffend, Antigone von Sophokles, heute Schutzpatronin des Feminismus, verlässt ihre Gruft für kurze Zeit und begleitet die Hauptfigur des Hörspiels ein Stück Wegs. Diese, eine junge Hörspielmacherin, fährt zu einem Interview mit einer 90-jährigen Philosophin nach Paris in der Absicht, Originalton-Aufnahmen für eine geplantes Hörspielprojekt zu machen.

    Der plot ist einfach und entwickelt sich linear. Bei der ersten Begegnung schon fühlt sich die junge Frau wie in einen falschen Film versetzt. Die verehrte philosophische Feministin zeigt sich ganz anders als erwartet, keineswegs einfühlsam kommunikativ, sondern schnippisch, launisch und vollkommen auf sich selbst bezogen. Aus der Absurdität der Situation entsteht verhaltene Komik. Der Keller, wo die Bücher der gelehrten Dame lagern, mutiert zum Hades, ihre Wohnung zu einem Urwald, die Philosophin selbst erhebt sich als Raubvogel in die Luft und stürzt sich auf ihre fliehenden Besucherinnen. Antigone übernimmt die Führung, der Trip endet im absoluten Schwarz des Orkus… Schwer zu sagen, wann der Übergang in die parallele, poetische Realität einsetzt, vielleicht schon zu Beginn, als die Selbsterzählung der Protagonistin sich mit innerem Monolog abwechselt. Normalität stellt sich jedenfalls nicht wieder her – und: Es war kein Traum. In diesem Verlauf ähnelt das Stück aus neuster Zeit dem klassischen «Doppelgänger»-Hörspiel von Dürrenmatt.

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