99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage Quellenangaben, detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

Über den «Röschtigraben»

Eine Schweizer Hochzeit – un mariage symbolique

Das Hörspiel hatte in der Schweiz einen spezifisch schweizerischen Ursprung: Es entstand in den zwanziger Jahren aus einer Fülle von damals äusserst populären Dialekt-Lustspielen, meist einaktigen Satiren und Grotesken, die für die Aufführung durch Laien auf Vereinstheaterbühnen konzipiert waren. Adaptionen solcher «Vereinsstückli» wurden im Radioprogramm ab 1925 in grosser Zahl gesendet. Man einigte sich dafür auf den Begriff «Sendespiele». Das eigentliche «Hörspiel» trat 1927 als kulturell ambitionierter Gegenentwurf zu diesen trivialen Unterhaltungsproduktionen – und bezeichnenderweise in hochdeutscher Sprache – auf: Richard Schweizer schuf mit seinem Erstling «Ein Abend im Hause Wesendonck» einen Hörraum für die Stimmen von Richard Wagner, Gottfried Keller und weiteren prominenten Kulturschaffenden der Vergangenheit.

Der anspruchsvollste Autor von Laientheaterstücken der damaligen Zeit war Jakob Bührer (1882-1975). In seinem auch im Radio oft gespielten satirischen Einakter-Zyklus «Das Volk der Hirten» (1914/25) ging es ihm darum, die politischen Spannungen abzubauen, die während des ersten Weltkriegs zwischen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz vorherrschten und die zu gleicher Zeit Carl Spitteler in seiner berühmten Rede von 1914 anging. Bührer konfrontiert in seiner Serie von politischen Satiren eine Gruppe von Zeitgenossen auf Schweizerreise mit der Idee des «schweizerischen Nationalgedankens». Mitreisende sind im ersten Spiel ein Nationalrat aus Basel, ein Kantonsrat aus Stäfa, ein Bildhauer aus Bellinzona und eine Lehrerin aus Estavayer le Lac. In den folgenden Stücken werden sie verstärkt durch zwei weitere Nationalräte von Lausanne und Schaffhausen. Bührer überspringt so ganz bewusst «le fossé», wie der «Röschtigraben» von den Welschen genannt wurde, und bezieht auch einen Tessiner als Vertreter der zweiten sprachlichen Minderheit mit ein. Das Rätoromanische wurde erst 1938 als vierte Landessprache eingemeindet. Statt sich auf einen Dialekt zu beschränken und sich gegen aussen abzugrenzen, lässt er ein landesweites Potpourri von Idiomen erklingen, das die Vielfalt in der helvetischen Einheit akustisch zum Ereignis macht. Die Ausstrahlung im Radio konnte die Wirkung dieser sprachlichen Polyphonie nur verstärken.

In der Reihe «Das Volk der Hirten» wurden die Parts der Lehrerin und des Nationalrats aus der Romandie und des Tessiner Bildhauers in radebrechendem Deutsch gesprochen, da die Stücke sich an ein Deutschschweizer Publikum richteten. 1937, im unmittelbaren Vorfeld des zweiten Weltkriegs, sendete Studio Lugano von Jakob Bührer die Produktion «Schweizer Solidarität», die im Untertitel als ein «Hörspiel in den drei Landessprachen» bezeichnet wurde. Dies war vermutlich das erste Hörspiel, das Schweizerdeutsch, Französisch und Italienisch unmittelbar miteinander konfrontierte. Ob Teile in irgend einer Form in die jeweils anderen Sprachen übersetzt wurden, ist aus der Programmzeitschrift nicht zu erfahren. Die innenpolitische Situation war ähnlich wie zu Beginn des ersten Weltkriegs: In der deutschen Schweiz waren die Frontisten, Sympathisanten des NS-Staats, aktiv, und das Tessin und Teile Graubündens standen unter dem Einfluss des vom italienischen Faschismus gesteuerten Irredentismus. In der Romandie gab es ähnliche zentrifugale Tendenzen, die Mehrheit befand sich in der Defensive dagegen.

Sechzig Jahre später nimmt ein Hörspiel das Problem der nationalen Identität trotz sprachlicher Disparität wieder auf – und stellt fest, dass es keines mehr ist. Stattdessen dominiert als Thema nun das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union, das uns heute nach wie vor beschäftigt. «Eine Schweizer Hochzeit – un mariage Suisse» von Amélie Plume und Charles Lombard wurde 1997 mit dem ersten Preis der Stiftung Radio Basel ausgezeichnet. Es wird hier in Form einer Rede vorgestellt, die ich als Laudatio zur Preisverleihung hielt:

  • Mini Dame-n-und Herre
  • Mesdames et Messieurs
  • Ladies and gentlemen
  • Meine Damen und Herren

Mit dieser mehrteiligen Anrede bin ich schon beim Thema des Hörspiels, das dieses Jahr mit dem ersten Preis der Stiftung Radio Basel ausgezeichnet wird: «Un mariage Suisse – Eine Schweizer Hochzeit» von Amélie Plume und Charles Lombard, produziert unter der Regie von Charles Benoit. Als vorbildlicher Deutschschweizer müsste ich wie der Vater des Bräutigams im Spiel meine Rede nun Satz für Satz ins Französische übertragen, damit alle Anwesenden sie en detail verstehen. Da ich aber kein so vorbildlicher Deutschschweizer bin, halte ich es mit dem Brautvater, der sich darauf verlässt, dass seine anderssprachigen Zuhörerinnen und Zuhörer ihn der Spur nach schon verstehen werden, wenn nötig mit ein bisschen Hilfe einer Dolmetscherin aus dem Publikum.

Ich halte es auch mit dem Werk selbst, um das es hier geht. Wie die Personen im Spiel werden die Hörerinnen und Hörer mit zahlreichen fremdsprachigen Äusserungen konfrontiert, die nicht alle übersetzt werden. «Un mariage Suisse – Eine Schweizer Hochzeit» ist nicht nur bilingue – solche Produktionen gab es im Programm von Radio DRS schon vor Jahren -, das Hörspiel von Amélie Plume und Charles Lombard ist ein vielsprachiges Werk: Da wird nicht einfach nur «Schwizertüütsch» und «Wälsch» gesprochen und gedolmetscht. Neben dem Schweizerdeutsch und dem entsprechend getönten «Schriftdeutsch» ist auch das «bon allemand», wie sich die Grosseltern der Braut ausdrücken, durch einen Gast aus der Bundesrepublik vertreten.

Die verschiedenen alemannischen Mundarten darf man nicht einfach als «Tubeli­sprachen» mit primitiver Grammatik betrachten, das steht für die Gäste aus der Deutschschweiz auf jeden Fall fest. En passant vernehmen wir auch etwa, dass eine Deutschschweizerin nicht alle Dialekte diesseits der Saane gleich gut mag. «Hesch e Mouggere gmacht!» Solche Köstlichkeiten aus dem Schatzkästlein berndeutscher Alltagssprache kommen vor. Trotzdem wird in diesem Spiel das «Bluemete Trögli» nicht neu angepflanzt. Aus dem allgemeinen Sprachengewirr sticht durch ihr amerikanisches Englisch – und auch wegen der Unbeschwertheit ihrer Äusserungen – eine junge Frau aus Boulder/Colorado hervor, die uns über die Vorgeschichte der Hochzeit informiert. Ein «multikulturelles» Stück ist dieses Hörspiel aber noch lange nicht. Dazu fehlen beim Hochzeitsfest die Türken und die Tamilen, wie eine Stimme im Nachspann treffend bemerkt.

Aus dem Gesagten wird schon deutlich, dass über die sprachlichen Verständigungsschierigkeiten hinaus unterschiedliche Mentalitäten verhindern, dass man sich ohne weiteres näherkommt. In seiner Tischrede ruft der Vater des Bräutigams die berühmte Rede von Karl Spitteler in Erinnerung, der 1914 warnte, die Schweiz könnte auseinanderbrechen, wenn man sich nicht auf die nationale Einheit und Neutralität zurückbesänne. Seine Formel: «einig fühlen, ohne einheitlich zu sein» hat gewiss ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren. Aber in anderer Hinsicht haben sich die Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt. Heute müssen wir uns vor unseren Nachbarstaaten nicht mehr wie vor Raubtieren fürchten, die nur auf die Gelegenheit warten, über uns herzufallen. Der Redner im Spiel fragt denn auch, was Spitteler heute sagen würde. Das Problem ist weniger leicht zu fassen: «Die einen blicken nach Europa und die andern – auch, aber sie sehen nicht das Gleiche.» Bei dieser Lage scheint es schwieriger, «einig zu fühlen, ohne einheitlich zu sein.»

Zu Recht ruft Vater Zürcher dazu auf, den Ausdruck «Röschtigraben» nicht mehr zu verwenden, zu Recht aber nicht nur, weil es ein nichtssagendes und dummes Wort ist – «un mot trop bête» -, sondern vor allem, weil heute die mentalen Grenzen kreuz und quer durch die Nation verlaufen. Das wird dann am deutlichsten, als das Stichwort «Blocher» fällt. Es ist die einzige Stelle in diesem Hörspiel, wo die Lage wirklich ernst wird, wo es keinen Scherz mehr leiden mag und wo nicht mehr viel zu fehlen scheint, bis die Fäuste sprechen. Der Brautvater knüpft an seinen Vorredner an, indem er die Hoffnung ausspricht, dass sein Grosskind ein europäischer Bürger wird und dass alle Anwesenden das auch hoffen. «Also ich nöd – moi pas», sagt einer der Ostschweizer halblaut. Trotz allem Pluralismus im Spiel spürt man dabei, dass die Hoffnung des Redners von den Autoren geteilt wird. Die Schweizer Hochzeit ist «un mariage symbolique». Dazu passt ganz gut, dass die beiden Brautleute während des ganzen Spiels nur ein Wort sagen: «Ja! – oui!»

Viele Gründe – bewusste und unbewusste – führen zum Urteil einer Jury, das in diesem Fall übrigens einstimmig ausfiel. Wenn ich mir nachträglich überlege, welche davon für mich entscheidend waren , so komme ich letztlich auf die Form dieser Produktion. Auf Anhieb wirkt die Sendung wie der naturalistische Abklatsch eines Familienfestes: ein Neben- und Nacheinander von Gesprächsfetzen, die gelegentlich im allgemeinen Stimmengewirr untergehen. In Wirklichkeit ist sie ein kunstvoll gemachtes und gegliedertes radiophones Werk. Wenn man genauer hinhört, bemerkt man, dass die harten Schnitte und die teils überlappende Montage verschiedener Szenen auf getrennten Kanälen alles andere als realistisch sind. Dass in alltäglicher Kommunikation nicht immer nur eins nach dem andern und nicht alles vollständig und grammatisch richtig gesagt wird, hat vor zwanzig Jahren schon Hanspeter Treichler in seinen Hörspielen gezeigt. Seither nehmen sich die Dialoge der meisten Deutschschweizer Produktionen weniger brav aus.

Aber im Hörspiel von Amélie Plume und Charles Lombard werden wir als Zuhörer zum Teil regelrecht und mit Absicht überfordert. Selbst wenn jemand alle vertretenen Sprachen perfekt beherrscht, kann er nicht zu hundert Prozent erfassen, was alles durch- und nebeneinander gesprochen wird. Schon die Zahl der Stimmen übersteigt unser Unterscheidungsvermögen, was in den Anfangszeiten des Hörspiels noch die Frage provoziert hätte, ob man dem Radiopublikum ein solches Spiel zumuten dürfe. Auf einen mühelos erfassbaren Handlungsfaden müssen wir verzichten. Die eine versteht das, der andere jenes aus dem Angebot von Fragen und Antworten, Geschichten, Aufforderungen, Zwischenrufen und Nebenbemerkungen. So konsequent wurden die Hörspielhörerinnen und -hörer noch selten auf sich selbst verwiesen. Der schlichte symmetrische Bau des Spiels sorgt dafür, dass man die Orientierung trotzdem nicht verliert.

Dieses kunstvolle Durcheinander ist aber nicht ästhetischer Selbstzweck. Es steht bildlich für das Durcheinander unserer Zeit, für die politische Lage in unserem Land am Ende des 20. Jahrhunderts. Dieses Hörspiel redet nicht nur über Probleme, es bildet sie nach, indem es für uns ein zunächst sprachliches Problem ist. Indem es uns zutraut, dass wir uns dennoch zurechtfinden werden – im Hörspiel wie in der Wirklichkeit -, vertraut es auf uns als mündige Bürgerinnen und Bürger, die ihre Probleme anpacken und lösen können: «Alle Leute haben Probleme, manche wissen’s nur noch nicht.» Aber das Hörspiel endet mit einem optimistischen Gedanken: «Ds Bébé wird jedefalls bilingue, das finde-n-i guet», sagt eine der Frauen. Ganz am Schluss, wenn man schon meint, das Spiel sei nun vorbei, wird man durch einen originellen Nachspann überrascht: Jede Person äussert hier noch einen Gedanken. «Die hei no vil Problem, das isch sicher», sagt da eine der Deutschschweizerinnen. Gemeint sind damit nicht nur die Frischvermählten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und gratuliere Amélie Plume und Charles Lombard zu ihrem Preis.

Basel, 25.8.1997 / Paul Weber


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