Ein Filmkritiker als Hörspiel-Autor
1926 war Paul Altheers Groteske «Der Fünflampenapparat» gesendet worden, die sich als Versuch eines ersten richtigen Radiohörspiels verstand, aber eher ein «Sendespiel» war. Ein weiteres Jahr verging mit theoretischen Diskussionen um das «radioeigene» Hörspiel, das nun dringend realisiert werden sollte. Das Kind hatte einen Namen, bevor es geboren wurde. Da taucht, ohne dass man vorher am Radio von ihm gehört hätte, Richard Schweizer im Programm auf mit zwei «Hörbildern aus Zürichs Vergangenheit»: erste Produktionen, die man als Original-Hörspiele im heutigen Sinn betrachten kann. 1929 folgt ein weiteres Hörspiel über Napoleon im Exil auf St. Helena. Danach verlässt Schweizer die Hörbühne – für immer.
Wer war dieser Richard Schweizer, der später bekannt wurde als Autor von Drehbüchern erfolgreicher Schweizer Filmproduktionen? Seine Arbeiten für den Film sind bestens dokumentiert, über seine Hörspiele hingegen weiss man nur wenig. Die Textbücher der drei Hörspiele wurden bis heute nicht aufgefunden, deren Inhalt ist nur bekannt durch ausführliche Beschreibungen in der Radio-Programmzeitschrift. Etwas mehr ist über die Laufbahn des Autors in den zwanziger Jahren überliefert.
Schweizer war kein Radio-Insider wie Altheer, sondern verfolgte die Entwicklung des Hörspiels in Deutschland aus der Sicht des radio-unabhängigen Journalisten und Kenners des zeitgenössischen Stummfilms. Er hatte in Zürich Literaturgeschichte studiert und war schon vor der Entstehung des Radios als Filmkritiker für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) tätig. Danach berichtete er als Korrespondent und Fotoreporter für verschiedene Schweizer Tageszeitungen aus Berlin, wo er vermutlich vom «Radiofieber» der goldenen zwanziger Jahre infiziert wurde. Deutsche Literaturgeschichte, Literatur- und Filmkritik gehören also zu den Kernkompetenzen von Schweizer. Sein Hörspiel «Ein Abend im Hause Wesendonk» (25.11.27) war sein Début als Autor: als ein Autor, der mit seinen Film-Drehbüchern weltweiten Erfolg haben sollte. Für diese erhielt er später zweimal einen Oscar sowie einen Golden Globe Award.
Welch ein Unterschied zu Altheers Dialektlustspiel «Der Fünflampenapparat»! Das «Wesendonk»-Hörspiel spielt in der grossbürgerlichen Ambiance der Villa Wesendonk in Zürich um 1857. Die Personen sind Mathilde Wesendonk, Richard Wagner, Hans und Cosima von Bülow, Gottfried Semper und nicht zuletzt Gottfried Keller. Ein Komponist, ein Architekt und ein Dichter, drei prominente Kulturschaffende im Dialog, abwechselnd mit Wagners Musik: das war neu als Thema des Hörspiels. Bisher hatte man nur Werke grosser Dichter für das Radio adaptiert. Schweizers Erstling war ein einaktiges Kammerspiel wie unzählige bis dahin produzierte Sendespiele und wie «Der Holzwurm» von Arthur Manuel, ein Mini-Drama, das knapp zwei Monate vorher gesendet worden war und vom Autor als ein Beitrag zur Lösung der 1927 heiss diskutierten «Hörspielfrage» vorgestellt wurde. Bei genauerer Betrachtung würde sich aber zeigen, dass erst das zweite Werk von Richard Schweizer ein eigentliches Hörspiel war.
In Schweizers zweitem Hörspiel «Klopstocks Fahrt nach der Au» (9.5.28) treten gleich zwei berühmte Exponenten der Literaturgeschichte auf: Friedrich Gottlieb Klopstock und Johann Jakob Bodmer. Wie im ersten Spiel treffen in dieser freien Dramatisierung einer wahren historischen Begegnung deutsche und lokale schweizerische Kultur aufeinander. Das Klopstock-«Hörbild» – eigentlich sollte man von einem «HörFilm» sprechen – spielt aber unter freiem Himmel in einem Festkahn auf dem Zürichsee und auf der Halbinsel Au. Es schien dem Kommentator der Radio-Zeitschrift als besonders geeignet, «durch akustische Mittel die bildschaffende Phantasie des Hörers anzuregen.» Hier dringt die filmische Erfahrung des Autors durch, der sich nicht mehr auf ein einaktiges Dialogstück beschränken mag, das ausschliesslich im Salon einer Villa spielt. Die Einheiten des Ortes und der Zeit sind aufgehoben. Ohne hörbare Sequenzierung und Überblendung ist ein solcher Ausflug nicht darstellbar. Paul Lang, der erste Schweizer Radio-Theoretiker, sprach drei Jahre später von der «Ubiquität» des Hörspiels. Zudem hat Schweizer eine Hörspiel-Universalie entdeckt: Durch akustische Reize – wie auch durch das gesprochene Wort – werden innere Bilder evoziert, was ohne wesentliche strukturelle Veränderungen in keinem anderen Medium möglich ist. Das Original-Hörspiel war damit erfunden.
In seinem dritten Hörspiel «Napoleon auf St. Helena» (12.7.29) experimentierte Schweizer mit einer radiophonen Grundform, die auf den Tag fast zur selben Zeit der grosse Bertolt Brecht in seinem Radiolehrstück «Der Flug der Lindberghs» erprobte. Wer da wen beeinflusste, kann wohl nicht geklärt werden. Schweizer lässt den verbannten Feldherrn mit dem Meer, dem Wind, der Sonne, ja mit dem eigenen Schatten sprechen, um dessen grenzenlose Verlassenheit auszudrücken und ihm als einer Figur von weltgeschichtlicher Bedeutung adäquate »Gesprächspartner« gegenüberzustellen. Die Naturelemente werden aber auch historisch motiviert durch Napoleons mythische Auffassung, dass sich Wasser, Luft und Feuer seiner Welterneuerung feindselig entgegengestellt hätten. In Brechts Lehrstück treten Nebel, Schneesturm, die Wasser des Atlantik, aber auch der Schlaf, die Stadt New York, die Kontinente Amerika und Europa als Gegensprecher des Fliegers auf. Inhaltlich ging es in seinem Hörstück allerdings um etwas ganz Anderes als um mythisches Raunen eines gestürzten Welteroberers. Formal ist Schweizer hier im innersten Bereich des Original-Hörspiels angelangt, den er als Drehbuch-Autor wieder verlassen musste. Aber im Spiel mit den Möglichkeiten des Mediums zeigt sich schon sein kreatives Potenzial.
Der Anfang des Original-Hörspiels in der deutschen Schweiz liegt im Halbdunkel. Die Besprechungen seiner Hörspiele in der Radio-Programmzeitung werden in einem anderen Beitrag in extenso zitiert. Am Ende stehen aber viele Fragen ohne Antwort im Raum: Waren Schweizers Hörspiele Auftragsarbeiten, oder ging die Initiative auf den Autor zurück? Kannte er die Hörspielversuche von Gunold, Flesch, Bischoff, Brecht/Weill/Hindemith, Ruttmann, Kesser und anderen deutschen Autoren? War der ganze Text der Zürcher Hörbilder hochdeutsch, oder gab es schweizerdeutsche Passagen (Keller, Bodmer)? Welche Rolle spielten Geräusche, und wie wurden diese produziert? War die Musik in die Spielhandlung integriert oder eher revueartig eingestreut? Gab es bereits blendenartige Übergänge, und wie wurden diese technisch realisiert? – Der Anfang war jedenfalls gemacht, die Eigenproduktion von Hörspielen kam nun in Gang.
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