99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

PopHörspiel goes prominent

Neue Wege nach 2000

Es gab schon früh Schweizer Hörspiele, die auch im Ausland beachtet, produziert oder gar ausgezeichnet wurden. Paul Langs Erstling «Nordheld Andrée» wurde 1932, ein Jahr nach seiner Ursendung im Beromünster-Programm, von Radio Hilversum und 1934 von einer New Yorker Sendestation produziert. Von Friedrich Dürrenmatt wurden sämtliche Hörspiele in den fünfziger Jahren von deutschen Stationen urgesendet. Mit der Premiere von Max Frischs «Herr Biedermann und die Brandstifter» kam der Bayerische Rundfunk (BR) 1953 dem heimischen Radio um drei Monate zuvor. Einige von Walter Oberers zahlreichen Hörspielen wurden von deutschen Hörspielabteilungen urgesendet, koproduziert oder übernommen. Neben Frisch, Dürrenmatt und Oberer nennt Schwitzke Walther Franke-Ruta und Peter Lotar als wichtigste Schweizer Autoren, deren Originalhörspiele Mitte der fünfziger Jahre von deutschen Sendern, teils als Auftragsarbeiten, produziert wurden. Heinz Schwitzke, Hörspiel-Pabst der Fünfzigerjahre, widmet dem Deutschschweizer Hörspiel in seinem Standardwerk immerhin ein paar Nebenbemerkungen und Fussnoten. Armin P.  Frank lobt in seiner bis heute massgebenden typologischen Studie die Serie «Es Dach überem Chopf» (1963) von Kurt Früh und Jean-Pierre Gerwig als gelungenen eigenständigen Versuch eines sozialkritisch-pädagogischen Mundarthörspiels.

Nach 1965 kam es, gefördert durch den neuen Abteilungsleiter Hans Hausmann, zu einem regeren, gegenseitigen Austausch mit deutschen Sendern. Nun fanden auch Autoren wie Rudolf Jakob Humm und Walter Matthias Diggelmann, die aus unterschiedlichen Gründen Radio Beromünster den Rücken gekehrt hatten, Aufnahme bei der neu gegründeten Abteilung «Dramatik». Hörspiele einer  Reihe prominenter Autorinnen und Autoren, zum Beispiel von Paul Pörtner, Erica Pedretti, Jürg Federspiel, Adolf Musch, Gerold Späth, Gertrud Wilker, Hansjörg Schertenleib, Lukas B. Suter und Jürg Amann, wurden sowohl in der Schweiz als auch in der BRD produziert, teils sogar koproduziert. Urs Widmer arbeitete mehrere Jahre als Hörspielmacher beim Hessischen Rundfunk (HR) und galt als ein wichtiger Vertreter des Neuen Hörspiels. Sein «Fernsehabend» wurde 1977 mit dem «Hörspielpreis der Kriegsblinden» ausgezeichnet. Diese Ehre hatte bis dahin nur Friedrich Dürrenmatt 1957 mit seinem Hörspiel «Die Panne» erfahren. 2015 wurde als dritte Schweizer Autorin Sibylle Berg für ihr Spiel «Und jetzt: Die Welt!», produziert vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR), mit diesem renommierten Preis bedacht. Bei allen drei prämierten Arbeiten handelt es sich natürlich um Erstproduktionen deutscher Sendeanstalten.

Dass aber einem in der Schweiz produzierten Hörspiel von einem Deutschschweizer Autor ein eigenes Unter-Kapitel in einer wissenschaftlichen Publikation der BRD gewidmet wird, ist ein Novum in der Schweizer Hörspielgeschichte. Günter Rinke befasst sich in seiner 2018 erschienenen Studie «Das Pophörspiel. Definition – Funktion – Typologie» im Kapitel «Medienkritische Hörspiele» ausführlich mit Michael Stauffers «Radio till you drop» (2006). Was das Pophörspiel sei, scheint mir etwa so leicht zu definieren, wie man einen Fisch mit blosser Hand fängt. Trotzdem bin ich dankbar für den Begriff, der ein Genre zu beschreiben versucht, das es schon lange gibt, das aber erst seit den neunziger Jahren unter diesem Namen breit diskutiert wird. Ich kann mich hier auf Rinkes gründliche Vorarbeit stützen und mich auf die Besprechung weniger Repräsentanten von Schweizer Autorinnen und Autoren beschränken und bin froh, dass ich damit keinen wissenschaftlichen Präzisions- und Vollständigkeitsansprüchen genügen muss. Damit lässt sich immerhin ein Pfad von den traditionellen und experimentellen Typen der Abteilungsära zur neusten Hörspielproduktion wenigstens andeutungsweise beschreiben.

Günter Rinke: Das Pophörspiel (358 Seiten), Transcript -Verlag, Bielefeld 2018, ISBN: 978-3-8376-4169-1

Rinke stellt in seiner Einleitung (S.9) nüchtern fest, dass die auf dem Collage-Prinzip beruhenden Ausdrucksformen des Neuen Hörspiels und des Orginalton-Hörspiels zu keiner Zeit ein Massenpublikum begeistern konnten und dass sich neben diesen experimentellen Strömungen das auf dramaturgischen Regeln, auf Plot und Figurenkonstellation basierende traditionelle Worthörspiel stets gehalten habe. Unter dem kontinuierlich wachsenden Einfluss des Popmusik-Angebots bildete sich ein junges Publikum heran, das für entsprechende Wort-Angebote sensibilisiert war: «Die Ausbreitung des Pop im Radio hat auch das Hörspiel verändert und neue Formen hervorgebracht, für die sich die Gattungsbezeichnung „Pophörspiel“ zu etablieren beginnt. Die Kunstform Hörspiel wurde dadurch bereichert, ohne dass die traditionellen und neueren experimentellen Formen dadurch verdrängt worden wären.» (S.12) Rinke nimmt sich vor, diese dritte Strömung als «Gattung der Kunstform Hörspiel zu definieren und gegenüber anderen Hörspielgattungen abzugrenzen.» (S.12) Die Merkmale des Pophörspiels leitet er teils aus der breit geführten Diskussion zur Popmusik, teils aus der wissenschaftlichen Analyse der seit den fünfziger Jahren existierenden und 1964 vom österreichischen Lyriker H.C. Artmann mit diesem Begriffsnamen benannten Popliteratur her und baut dabei auf der für das literarische Hörspiel bewährten Typologie von Armin P. Frank auf.

«Radio till you drop» konfrontiert die Zuhörenden mit dem billigen Dauerprogramm eines fiktiven Privatradios, dem «Sender ohne Ende», das aus endlos wiederholten Jingles, Werbespots für den Direktverkauf, interaktiven Spielen und anderen telefonischen Publikumsbeiträgen besteht, alles zusammengehalten von der toughen Moderation der Einsteigerin Anette, die von der Schauspielerin und erfahrenen Moderatorin Anette Herbst dargestellt wird. Während zwanzig Minuten wird der Hörer zunächst von «Interactive Human Touch Broadcasting» (IHTB) beschallt, buchstäblich «bis zum Umfallen» oder – alternativ – bis fast zum Entschluss abzuschalten, auch wenn es sich erklärtermassen um ein Hörspiel handelt. Ich erlaube mir hier die männliche Form für mein subjektives Hör-Erlebnis, aber nach der satirischen Intention des Autors sollte es auch jedem anderen Hörer und jeder Hörerin so ergehen. Es ist eine «vorsätzlich inszenierte Belastungsprobe», wie sich ein Kritiker treffend ausdrückt.

Allerdings fällt bei reflektierendem Hören auf, dass die Wort-Beiträge dominieren und (pop-)musikalische Einlagen auf ein absolutes Minimum beschränkt bleiben, grundsätzlich nur angespielt werden. Unter «Sampling» versteht man «die Zusammenstellung von Teilen digital gespeicherter Tonaufnahmen zu etwas Neuem (z. B. einer neuen Musik) mithilfe eines Computers bzw. Samplers.» Der Begriff trifft nicht nur auf einzelne Musikstücke, sondern auf einen grossen Teil des Programms von «Interactive Human Touch Broadcasting» zu. Besonders aufdringlich wirken vorproduzierten Pausen-Schnipsel, die dazu dienen, Leerstellen zu füllen oder stereotype Kommentare einzuspielen. «Die Jingles, die die Pausenzeichen seit der Etablierung der Privatsender ablösten, sind keine Ruhepole mehr, sondern sie treiben voran, heizen an, tragen zusammen mit der Musik und dem munteren Geplauder der Moderatoren zum erhofften, gleichbleibend hohen Stimmungspegel der Hörerschaft bei.» (Rinke, S.282) Genau genommen, sind aber auch (fast) alle «spontanen» Verlautbarungen der Dame am Mikrophon vorformulierte, in ihrem neokortikalen Sprachspeicher bereitgestellte und bei passender Gelegenheit abgerufene Phrasen, die Kommunikation mit den anrufenden Hörerinnen und Hörern bloss simulieren oder bei Bedarf auch verhindern: Moderation als sprachliches Sampling – ein Job, den heute schon «künstliche Intelligenz» übernehmen könnte. Anette wäre der Avatar einer Influencerin…

Hier setzt nun spätestens immanente Kritik ein. Wenn das interaktives Broadcasting sein soll, dann ist damit Brechts Forderung, den Rundfunk in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln, pervertiert. Die meist einsilbigen Reaktionen der zugeschalteten Hörerinnen und Hörer, die das Programm bestreiten sollten, zeugen von erschreckender Hilf- und Trostlosigkeit: «ja», «nein», «weiss nicht»… Weitergehende Antworten werden nach Bedarf provoziert und zurechtgebogen. Bis Berta in der Leitung ist und zunächst gar nichts sagen will. Dann: «Ich bin so alleine […] Kannst du mal kommen und mich ein bisschen halten?» Das ist erschütternd, passt aber gar nicht ins Konzept und wird mit Jingles zugedröhnt. Von da an läuft es interaktiv schief bis zur finalen Katastrophe: Anette verlässt am Ende ihren Posten am Mikrophon und macht sich auf den Weg zum Arbeitsamt. Diesen Verlauf beschreibt der Kritiker so gekonnt, dass er hierzu das Wort haben soll:

«Hei, ich hör’s knistern, ich spür euch da draussen», buhlt die Radiomoderatorin um die Gunst von potenziellen Kunden, die mittels flächendeckender Kaufgespräche für das interaktive Programmangebot garantieren. So lässt sich der 20-jährige Rob eine «Uhr mit Herz» und Claudia eine Digital Mint Gun in Rosa andrehen, Tom nach Wettbewerbspech in die «Loosergruft» schicken, derweil Siegerin Johanna eine CD von ACDC und den sendereigenen Plüschadler einheimsen darf. Hanna wiederum kann sich für einen auch «zärtliche Bestrafungsspiele» erleichternden Schneebesen erwärmen. Bloss Bettina sieht sich verschaukelt: Ewig schon ist sie in der Leitung, um «Ich weiss es besser» zu spielen. Erst recht nicht zu kaschieren sind die Tücken des anfälligen Konzepts nach Anettes Aufruf, am Radio eine Krankheitsgeschichte («vielleicht habt ihr postromantische Filzläuse») auszubreiten. Da sich «keine Seele» mitteilen mag, muss der von der Programmleitung ferngesteuerte Redaktor Udo flugs einen halbwegs willigen Anrufer besorgen. Der mit einem gewissen «Biber-Andy» verlängerte Störfall führt prompt zum Eklat: Die zunehmend entnervte Frontfrau lehnt sich auf und schmeisst ihren Job mit einem anarchischen Jingle-Beben, ehe Udo im Nachgang zu diesem «Ausrasterchen» selber den Mikrofon-Job übernimmt.

(Erne R., Epizentrum der Jingles und Superangebote, NZZ, zit. nach Stauffer.)

Ist aber ein Hörspiel, in dem Popmusik vorkommt, schon ein Pophörspiel? Ulrich Bassenge scheint Zweifel daran zu haben. In «Radio till you drop» spielt die Musik eine untergeordnete Rolle. Aber das Programm als Ganzes gibt sich populär und richtet sich an ein junges Publikum, das pop-artige Inhalte verlangt. Vor allem in seinem ersten Drittel wirkt es beinahe wie authentischer Trash, der zum Hörspiel deklariert wird, wie Andy Warhol seine Campbell Suppendosen-Bilder in Galerien und Museen als Kunst darbot. Aber der Eindruck der Spontaneität und Authentizität wurde durch den besonderen Herstellungsprozess bewusst erzeugt, wie aus den Angaben zur Produktion hervorgeht: «Michael Stauffer hat für das Hörspiel eine Textgrundlage geschaffen, die neben ausgeschriebenen Szenen auch knappe Anweisungen für szenische Improvisationen aufwies. Claude Pierre Salmony hat den Text mit Anette Herbst in der Hauptrolle der Moderatorin in einem Tag inszeniert. Die Aufnahmen fanden in einer Moderationskabine statt, die anderen Darstellerinnen und Darsteller riefen von zu Hause aus an. So entsprach die Produktionsform ganz der im Hörspiel gezeigten Situation. Vorgefertigt waren nur die Jingles, Werbespots und Musikeinlagen, mit denen der Audiodesigner Karl Atteln den fiktiven Sender ausgestattet hat.»

«Radio till you drop» ist also kein ready made und kein Abklatsch der Wirklichkeit, sondern kunstvoll komponierte virtuelle Medienrealität. Nach dem irritierenden Einstieg zeigt sich bald, dass die Handlung einem einfachen, linearen Plot folgt, der auf einen furiosen Showdown zusteuert. Oder klassisch ausgedrückt: Die «Heldin» scheitert «tragisch» am System, indem sie ihre Rolle aufgibt – allerdings nicht aus ethisch motivierter Empörung, sondern weil sie mit dem unprofessionellen Programm-Management nicht einverstanden ist. Damit wird nicht nur das Programm, sondern auch sie zum Objekt der immanenten Kritik. Stauffers Hörspiel entpuppt sich als bissige Satire auf die menschenverachtende Marktlogik eines privaten Radiosenders und seiner Macher. Das medienkritische Pophörspiel erweist sich als Anti-Pophörspiel mit durchaus konventionellem Aufbau. Strukturell echter Pop ist dabei allerdings das fast durchgehende Sampling von Werbe-, Musik- und Sprachschnipseln, das Stauffers Hörspiel zu einem prominenten Vertreter der Gattung macht. «Hörspiel kann Verfahren des Pop übernehmen. Pop kann ein Verfahren im Hörspiel sein.» Auf diese Formel bringt Ulrich Bassenge die beiden grundsätzlichen Optionen des Pophörspiels in seiner Rezension eines neueren Readers mit dem Titel «Pophörspiele. Interdisziplinäre Einzelanalysen», herausgegeben von Stefan Greif und Nils Lehnert (290 Seiten), München 2020.

«Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug», wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen «Grundlinien der Philosophie des Rechts» feststellte. Das gilt offenbar auch für die interdisziplinäre wissenschaftlich-kritische Reflexion über das Pophörspiel, das als Hörspielgenre nach Bassenge heute (2020) seine Bedeutung verloren hat und wie die Popmusik einer vergangenen Epoche angehört. Er unterlegt seine These eindrücklich mit Stimmen von Musiker-Kollegen:

«Ich mach keine Musik mehr. Ich bin irgendwie alt. Es ist vorbei. Es will auch keiner mehr Musik hören. Meine Tochter hört nicht Musik. Die hört irgendeine Spotify-Playlist. DAS ist Musik!? Das ist doch Scheisse.»

Repräsentativ ist dieser Befund allerdings nicht. Gewisse Zweifel kommen auf, wenn man etwa auf Kurz-Pophörspiele stösst, die junge Absolventinnen und Teilnehmer einer Lehrveranstaltung der Universität Paderborn produzierten, Outputs eines medienpraktischen Seminars zum Thema «Das Pop-Hörspiel» im Wintersemester 2018/19. Auch für die Schweizer Hörspielproduktion scheint das Kapitel noch nicht abgeschlossen zu sein. Es begann schon mit Verzögerung, was für neue Stilrichtungen und Tendenzen wie Dürrenmatt oder das Neue Hörspiel hierzulande üblich ist. «Radio till you drop» ist nicht das erste in der Schweiz produzierte Pophörspiel. Und «Hollydays from Suicide. Eine phantastische Reise mit Iggy Pop» (2020) von Birgit Kempker und Anatol Atonal, ausgezeichnet mit dem internationalen Grand Prix Nova, wird nicht das letzte sein: zwei Marksteine, aber nicht Eckpunkte. Über einige weitere, teils preisgekrönte Produktionen wird noch zu berichten sein.


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