99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

«Das Verhör des Lukullus»

Subversion im Beromünster-Programm und die Folgen

Der Schaffhauser Ernst Bringolf hatte wie sein Zürcher Kollege Arthur Welti und der Hörspiel-Autor Richard Schweizer viele Jahre im Berlin der Weimarer Republik zugebracht, das damals als Kulturmekka galt, vor allem auch für Radio- und Film-Interessierte. Er trat nicht nur als Schauspieler an verschiedenen deutschen Theatern auf, sondern arbeitete längere Zeit als Dramaturg und Regisseur beim Berliner Rundfunk und erwarb dabei die Grundlagenkenntnisse, die ihn später für seine Tätigkeit beim Schweizer Radio qualifizierten. 1934 kehrte er aus politischen Gründen in die Schweiz zurück und erhielt zwei Jahre danach eine feste Anstellung bei Radio Studio Bern als Regisseur und Dramaturg. Er produzierte dort nebst Reportagen vor allem literarische Hörfolgen und Hörspiele, darunter auch eigene Werke. Für sein Hörspiel «Ein Mensch allein» (6.3.1937) erhielt er einen Zusatzpreis im zweiten Hörspielwettbewerb, den die SRG zusammen mit dem Schweizerischen Schriftstellerverein veranstaltet hatte.

Hier geht es nicht um sein eigenes Werk, sondern um das Hörspiel eines Autors von Weltrang: «Das Verhör des Lukullus» von Bertolt Brecht (12.5.1940). Vermutlich hatte Bringolf Brecht in Berlin kennengelernt. Jedenfalls landete das Skript des «Lukullus»-Hörspiels auf seinem Berner Schreibtisch, nachdem für den Stockholmer Rundfunk eine Produktion dieser Auftragsarbeit aufgrund der politischen Zwangslage nicht mehr möglich war. Der grosse römische Feldherr Lukullus wird für seine Taten vor Gericht gestellt: nicht in dieser Welt, sondern – eine zusätzliche Brechung des Realitätsbezuges – vor das Totengericht im Hades.

Man konnte es als historisch-mythisches Stück zu einem Stoff aus der Antike missverstehen, wie etwa der Kritiker der Berner Tageszeitung «Der Bund». Allerdings fällt es schwer, an die Echtheit einer solch naiven Auffassung zu glauben. Vielleicht war sie auch nur vorgeschoben angesichts der bedrohlichen Kriegslage. Andere Kommentatoren wichen auf die Erörterung formaler Aspekte aus oder schrieben bedeutungsvoll, die geneigten Hörer wüssten «genau, um was es geht» (Die Radiowoche, Bern), oder raunten von dem «gerade heute bedeutungsvolle[n] Geschehen» (Basler Nachrichten). Der Schweizer Brecht-Forscher Werner Wüthrich hat diese von ängstlicher Subordination und freiwilliger Selbstzensur gezeichneten Urteile im Begleittext der von ihm konzipierten Ausstellung «Bertolt Brecht und die Schweiz» (2004) zusammengestellt.

Den Machern von Radio Bern und auch den meisten Hörerinnen und Hörern war aber sicher klar, dass der Eroberer, über den in Brechts Lehrstück Gericht gehalten wird, Adolf Hitler meint, dessen Truppen sich ausgerechnet in den Tagen von der Hauptprobe bis zur Ausstrahlung anschickten, Frankreich zu erobern. Es war die Zeit der grössten Kriegsgefahr für die Schweiz. Auf den Strassen stauten sich Autokolonnen der ins «Réduit» Flüchtenden, vor den Eingängen der Radiostudios waren militärische Wachen postiert, und man liest sogar, viele Radiomitarbeitende hätten eine Pistole neben dem Mikophon bereitgelegt. Man wundert sich über die tollkühne Zivilcourage des Regisseurs Ernst Bringolf, Brechts Stück in dieser hochbrisanten Situation auszustrahlen, und fragt sich, ob sich wohl seine Vorgesetzten bei Radio Bern über dessen Inhalt im Klaren waren. Das «Plakat» von Heinrich Danioth, das am Vortag vor der Sendung in der Radio-Zeitung erschien, lässt jedenfalls keinen Deutungsspielraum offen: Hinter dem Triumphbogen des Lukullus sieht man ein Bomber-Geschwader, und in dessen Fries ist ein Geschütz moderner Machart zu erkennen.   

Heinrich Danioth: Illustration zu Bertolt Brechts „Lukullus“-Hörspiel (Schweizer Radio-Zeitung, Zofingen, Nr. 19 vom 11.05.1940)

Für den Dramaturgen und Regisseur Bringolf hatte seine «subversive» Tat vorerst keine Konsequenzen, obwoh die Ausstrahung des Brechtschen Hörstücks eindeutig gegen die geltenden SRG-Richtlinien verstiess. Dr. Kurt Schenker, der Berner Studiodirektor, hatte sich durch besondere Linientreue in den dreissiger Jahren als Apologet der «Geistigen Landesverteidigung» (GLV) profiliert und 1938 entsprechende Richtlinien erlassen. Im ersten Punkt stand da klar und deutlich: «Wir möchten uns bewusst jeder Kritik an fremden Einrichtungen enthalten. Beromünster muss sich hüten, die politische Anstandstante Europas spielen zu wollen.» Werner Wüthrich referiert eine Passage aus einer Festrede von Schenker aus dem Jahr 1950, in der er die Verlängerung der GLV-Politik nach dem Krieg dekretiert: «Wir entschieden uns für Jeremias Gotthelf und nicht für Bert Brecht, wir wählten Franz Schubert und nicht den Neger Armstrong, weil der Mensch über der Hast des Tages das Grosse von gestern nicht vergessen darf.» Da hatte Bringolf die Berner Programmdoktrin längst verinnerlicht. 1948 musste er aber wegen einer Plagiat-Affäre und nachfolgender Pressepolemik seinen Posten in Bern verlassen. Er kam darauf im Studio Zürich unter und arbeitete dort als Regisseur und Ausbildner bis zu seiner Pensionierung 1954. Er starb im selben Jahr.

Eine Platten-Aufzeichnung von Bringolfs Inszenierung ist nicht erhalten und wurde vermutlich gar nicht angefertigt. 1945, kurz nach Kriegsende, und 1974 wurde Brechts Stück noch je einmal für das Deutschschweizer Radio inszeniert. 2018 taucht es nach langer Pause erneut im Programm auf, aber in einer Form, die es bis dahin – zumindest am Schweizer Radio – noch nicht gab: ein neues „Format“, wenn man so will. Das historische Hörspiel ist eine Hauptkonstante zumindest der Schweizer Hörspielgeschichte, besonders beliebt, weil in diesem Medium Zeitreisen ohne grossen Aufwand möglich sind. Und wohl auch, weil Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar und oft unmerklich ineinander übergehen können. Von den „Influencern“ der perpetuierten Geistigen Landesverteidigung wurde es missbraucht, um „das Grosse von gestern“ zu zelebrieren und damit von der Gegenwart abzulenken. Andere Autoren, zum Beispiel Arthur Welti, haben sich gerade dieser Gattung bedient, um die Zensur auf subtile Art zu unterlaufen. „Lukullus“ (2018) zeigt, dass sie Zukunftspotenzial hat.

Autor dieses ungewöhnlichen Remakes ist Samuel Schwarz, Regisseur der Digitalbühne Zürich (400asa), die das Hörstück zuvor in verschiedenen Abwandlungen auf der Theaterbühne erprobt hat. Trotzdem kann man «Lukullus» (2018), sofern die Produktion für das Radio inszeniert und vom Radio gesendet wird, als ein genuines Hörspiel betrachten, da sein Stoff ein originales Radio-Lehrstück ist, das in der Art des epischen Hörspiels präsentiert, kommentiert und kommentierend erweitert wird. Für Radio SRF wurde es unter der Regie von Samuel Schwarz in Zusammenarbeit mit Radio RaBe (auch dies ein Novum) produziert.

Der Text von Brechts Stück wird verkürzt und mehrfach gebrochen, u.a. durch zahllose Passagen in englischer Sprache und deren Simultanübersetzung sowie Ausschnitte aus der Opernfassung von Paul Dessau. Zwischen den Sequenzen der Collage ertönt oft atmosphärisches Rauschen und Schwirren wie beim Wechsel zwischen den Programmblöcken in Altheers «Fünflampenapparat», nur viel diskreter. Den Rahmen bilden die Ankündigungen eines Präsentators. Kommentierende Funktion hat auch eine Exkursion in die Bunkeranlagen im Gotthardmassiv. Hier, im Herzen des Réduits, referiert ein Touristik-Guide über die Inszenierungsgeschichte von Brechts Stück unter den Extrembedingungen des Kriegs und der Geistigen Landesverteidigung. Zu Helikopterlärm werden an anderer Stelle Reportageteile und Gesprächsfetzen von Zuschauern eines heutigen Staatsbegräbnisses eingeblendet. Soldaten des antiken Begleittrosses mutieren zu Milizionären der Bewachungstruppe am World Economic Forum in Davos, wo sich heute die Mächtigen der Welt treffen.

Brechts «Verhör» wird in diesem sehr freien Remake ergänzt durch den Schluss der Opernfassung «Die Verurteilung des Lukullus», die mit dem Richterspruch endet: «Ins Nichts mit ihm!» Dieser Verdammungsspruch wäre im Hörspiel von 1940 undenkbar gewesen. Aber auch in der neuen Version kommen einem die Verlegung von Totengericht und Verurteilung des Gewaltherrschers ins Jenseits gar nicht so Brechtisch vor. Wenn man es kritisch bedenkt, fühlt man sich eher an religiöse eschatologische Vorstellungen erinnert. Es gibt sicher kühnere Werke des Autors.

Brechts Stück lässt sich so keinesfalls mehr auf ein unverbindliches Historienspiel reduzieren wie in den meisten Pressekommentaren anno 1940. Es ist – lange nach dem Tod des Autors – in der aktuellsten Gegenwart angelangt, was Brechts Intention sicher nicht widerspricht. «Lukullus» ist ein unerhörtes Hörspiel-Experiment – vor allem auch insofern, als es aus der «freien Szene» hervorgegangen ist und den Weg ins Innere des traditionellen Mediums Radio gefunden hat.


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert