«Heureka!» («Ich habe es gefunden») soll nach einer Anekdote der griechische Mathematiker und Physiker Archimedes von Syrakus gerufen haben, als er das Prinzip des Auftriebs schwimmender Körper entdeckt hatte. Der Ausdruck ist seither Synonym für einen «Geistesblitz», eine plötzliche Erkenntnis. «Heureka» ist auch der ironische Titel einer riesenhaften Eisenschrott-Plastik, die der Schweizer Jean Tinguely (1925-91) für die Landesausstellung «Expo 64» schuf und die seit 1967 in einem Park in Zürich am See steht und gelegentlich mit lautem Getöne in Gang gesetzt wird. Den Namen dieser Nonsense-Maschine verwendete Gerhard Meier (1917-2008) als Titel für sein erstes Hörspiel (1972) und schuf damit ein Symbol für dessen Form – und für die Form einer ganzen Hörspielgattung, die man als Montage-Hörspiele bezeichnet. Zudem steht das monumentale Werk des Schweizer Plastikers auch für die technisch erzeugte Abfolge von Geräuschen und Klangeffekten, die im Hinblick auf ihre Wirkung auf Produktionen des musikalischen Experimentalhörspiels bezogen werden kann.
Das «Zusammensetzen (einer Maschine, technischen Anlage) aus vorgefertigten Teilen zum fertigen Produkt» wird im Duden als primäre Bedeutung des Fremdworts «Montage» angegeben. Als zweite Bedeutung figuriert das Kunstwerk, «das aus ursprünglich nicht zusammengehörenden Einzelteilen zu einer neuen Einheit zusammengesetzt ist». Und an dritter Stelle wird die filmische Montage angeführt, auf welche die Verwendung des Begriffs im Bereich des Hörspiels letztlich wohl zurückzuführen ist.311 Bis Mitte der sechziger Jahre wurden die Begriffe «Montage» und «Collage» synonym verwendet. Danach setzte sich in der Literatur, analog zur Malerei und zur Musik, der Ausdruck «Collage» durch. Im Hörspiel wurde dieser vornehmlich für Originalton-Produktionen verwendet, was seine präzise Bedeutung – damals noch – im Aneinanderfügen von Tonband-Schnipseln durch Klebeband hatte. Als «Montage» im Neuen Hörspiel definierte Keckeis 1973
«die Zusammenfügung von in sich abgeschlossenen Szenen, deren Funktion in erster Linie die direkte Illustration einer übergeordneten Idee ist. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers soll dabei vom Fortgang der Handlung der einzelnen Szenenteile weg auf ihren Aussagewert in bezug auf ein ideelles Zentrum gerichtet werden.» (Keckeis 1973, S.77)
Schriftliche Textteile («Szenen») aus verschiedenen Quellen, die Disparatheit der Bestandteile sowie die Orientierung auf eine zentrale Idee hin sind also die wesentlichen Merkmale dessen, was wir hier als Montage-Hörspiel bezeichnen. Auf herkömmliche Kohärenz, wie sie aus der Interaktion von Figuren und aus einer fortschreitenden Handlung entsteht, wird verzichtet. Das Stilprinzip der Montage ist also mit einer Demontage der inhaltlichen Oberflächenstruktur verbunden. Für diese Form gilt in besonders hohem Mass, was Marc Valance für literarisch anspruchsvolle Hörspiele des zweiten Programms postuliert: Der Hörer muss hier «mit komplexen Formen und Erzählweisen zurechtkommen. Er muss die Form […] als eine Dimension des Kunstwerkes erkennen und imstande sein, sie als solche zu würdigen.»610 Die im Folgenden besprochenen Werke sind damit per definitionem auf ein sehr kleines Publikum zugeschnitten.
Montage-Hörspiele, produziert von Radio DRS
Anzeichen der «Stagnation in der Gattungsentwicklung» wurden in der deutschen Schweiz schon seit Mitte der fünfziger Jahre festgestellt.296 In Anbetracht der starken Ausrichtung auf die theoretischen Ansätze der bundesdeutschen Hörspieldramaturgie darf man davon ausgehen, dass auch hierzulande «um 1960 der Eindruck vorherrschte, man stehe am Ende einer Entwicklungsphase, wenn nicht am Ende der Hörspielentwicklung überhaupt.»297 Erste Anzeichen einer von jungen Kritikern und Autoren mit Sehnsucht erwarteten Erneuerung zeigten sich anfangs der sechziger Jahre zuerst in den Filmen der französischen nouvelle vague und traten im Hörspiel erstmals 1962 in einer «Experimentalreihe» des «Montagsstudios» in Erscheinung, welche die Zuhörenden mit ausgewählten, dramaturgisch durchwegs noch konventionellen, aber immerhin etwas weniger der schweizerischen Norm entsprechenden Beispielen aus bundesdeutscher Produktion konfrontierte, darunter so bekannt gewordene Werke wie «Knöpfe» von Ilse Aichinger (NDR, 1962), «Klopfzeichen» von Heinrich Böll (NDR, 1962) und «Russisches Roulette» von Alfred Andersch (SWF/RB, 1961). Von den späteren Hörspielen Günter Eichs, die seine Abkehr vom traditionellen illusionistischen Hörspiel offenkundig machen, befand sich keines darunter.
In der Dialektbearbeitung und Übertragung eines unkonventionellen dänischen Hörspiels von Leif Panduro (1923-77) auf schweizerische Verhältnisse zeigte sich schon 1963 erstmals ein Ansatz, der zu einer eigenständigen Richtung des Deutschschweizer Hörspiels führen sollte. Zwei Jahre danach, kurz vor der Einführung der Abteilung «Dramatik», wurden erste Hörspiele von jungen Autoren gesendet, die allerdings weniger durch ihre Gesamtform, als durch ihren zeitkritischen Inhalt auf künftige, auch in formaler Hinsicht experimentelle Produktionen hinwiesen. Christoph Mangold (1939-2014), der mit der Bearbeitung der dänischen Vorlage von Panduro Erfahrungen gesammelt hatte, integrierte in sein Kurzhörspiel «Stationen» (1965), das als Ganzes durchaus noch konventionelle Züge trägt, einzelne innere Monologe, in denen naturgemäss das Montageprinzip stark hervortritt. Dieses wird am Anfang eingeführt und motiviert, indem die Hauptperson Zeitungsausschnitte leiernd aneinanderreiht, unter die sich auch Fetzen eigener Gedanken mischen:
«Frostige Aussprachen. Hat es überhaupt einen Sinn? Ja ja doch. Zugkraft, angebliche Propagandavorteile, manövrieren nicht Methode des Abwartens bellikos, aufgestapeltes Eis wegschmelzen, ganz umsonst heisst es Vorurteile Erfolg bedroht, mit gewissem Mitgefühl, doch selbstredend. Solche Kreise hinter den Kulissen aufrüttelnde Mahner, Schwätzer, verdächtig, Tag des Liedes, nie war der Himmel blauer, Die Pforte der Einweihung, Frühlingsstimmung. Dieser Schritt ist jedoch im Rahmen der Vertragsbestimmungen nicht erfolgt. Es besteht die Gefahr, Sinn für schwülen Humor dennoch keine Illusionen zerronnen. Warum singst du nicht Mmmm mmm mm m ..» (S.2)
Stichworte und Satzfragmente, die als Ausdruck des flüchtigen Zeitungslesens plausibel erscheinen, ergeben eine sprachliche Textur, wie sie wenig später das Erscheinungsbild von Sprech- und Stimmenspielen prägen, die aber im Unterschied zu «Stationen» weitgehend auf eine Handlung und Figuren verzichten. Mangold rückt im weiteren Verlauf seines Hörspiels die Rezitation von Zeitungsinhalten In den Hintergrund und überlagert sie mit persönlichen Gedanken und Bildern des Reisenden, die in ihrer überspannten Metaphorik allerdings oft eher epigonal-expressionistisch als experimentell wirken.
Eine aussergewöhnliche Reihe von Hörspielproduktionen der Abteilung «Unterhaltung» nahm Walter Vogt (1927-88) zum Anlass, um ein integrales Montage-Hörspiel zu schaffen und damit die dezemberliche Festtagsstimmung zu unterlaufen. In seinem Beitrag «Weihnachten mit „Herz“» (1972)298 zitiert er den Beginn des Johannes-Evangeliums, der für die Dramaturgie des literarischen Worthörspiels von so entscheidender Bedeutung ist. Doch welch ein Unterschied im Gestus! Der Autor verlangt, dass es «ohne falsche Nebentöne, nicht pastoral, sehr einfach und überlegen» gesprochen werde. (S.23)
Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dieses war am Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe geworden, und ohne das Wort ist auch nicht eines geworden, das geworden ist. In ihm war Leben, und das Leben war das Licht für die Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht angenommen.» (S.23)
Was für Schwitzke dramaturgische Maxime war, erscheint hier explizit im Hörspieltext als ein Thema unter anderen, als Material, als Versatzstück in einer Montage von Ausschnitten aus Schriftdokumenten und originalen Textpassagen. Das Zitat kommentiert eine andere Stimme mit den Worten: «So einfach ist das», und eine dritte Stimme greift unvermittelt das Titelmotiv auf: «Das Herz ist nichts anderes als eine Pumpe». Darauf eine vierte Stimme: «Meint Dr. Barnard, der es ja wissen muss», gefolgt von der Wiederholung des ironischen Kommentars durch die zweite Stimme: «So einfach ist das.» Das Beispiel zeigt, wie das «neue» Hörspiel unter anderem auch Themen und Techniken des traditionellen Hörspiels aufgreift, montiert, kontrastiert, parodiert und manipuliert, um sie in Frage zu stellen. Montage nähert sich hier sogar der Komposition: «Ich hatte den Eindruck, dass mein Werk vor allem anderen einen „musikalischen“ Ablauf hat», erläutert der Autor im Interview: «Deshalb habe ich die Abschnitte als „Sätze“ bezeichnet. Es ging wie von selbst.» [tvrz 48/72, Interview] Damit hatte das Montage-Prinzip, mit etwas Verzögerung, auch in der Schweizer Hörspiel-Produktion Fuss gefasst.
Peter Bichsel: «Inhaltsangabe der Langeweile»
Der Abbau der Illusion von Fabel und Figuren war in einer frühen Phase des Neuen Hörspiels schon von Wolf Wondratschek (*1943) in «Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels» (WDR/BR/HR/SR, 1969) exemplarisch vorgeführt worden. Die Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden bescheinigte diesem gleichsam programmatischen Werk, dass es den Zuhörenden helfe, «die geläufigen Hörgewohnheiten zu verlassen und eine neue Hörfähigkeit zu entwickeln.»304 Dies wird einerseits erreicht durch Kommentare, welche die «Analyse der Illusion selbst» thematisieren.305 Andererseits wird die Montageform ohrenfällig gemacht, indem die ohnehin stark zur «Handlung» kontrastierenden Einschübe durch die expliziten Hinweise «Geräusch» oder «Zitat» angekündigt werden. Der Überrest einer elementaren Handlung dient nur dem Zweck, die Zerstörung – Demontage – dieses Beispiels eines Hörspiels zu ermöglichen. Wondratschek verwendet Sprachdokumente und Geräuschzitate verschiedenster Herkunft, «dokumentarisiert» aber auch seine eigenen Einfälle und Sprachwendungen, indem er sie konsequent dem syntaktischen Prinzip der Montage unterwirft.306
Bereits zwei Jahre vor der Sendung von Wondratscheks Hörspiel hatte Peter Bichsel (*1935) die Destruktion der erzählerischen Fiktion in seinem Romanerstling «Die Jahreszeiten» erprobt, der «keine durchgängige Fabel hat» und so zum «Buch mit keiner Fabel» wird.346 Für eine Lesung aus dem Manuskript war Bichsel schon vor der Publikation 1965 mit dem Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet worden. Elsbeth Pulver hat es als «eine literarische Negation aller geschlossenen Formen» bezeichnet und sich auf Bichsels Äusserung berufen, dass er es am liebsten auf lose Blätter gedruckt sähe, die in beliebiger Reihenfolge gelesen werden könnten.347 In der Verschiebung des Interesses von den inhaltlichen hin zu formalen Aspekten, die sich in der permanent misslingenden Figur Kieninger nur am deutlichsten ausdrückt, zeigt sich eine enge Verwandtschaft mit Frischs «Mein Name sei Gantenbein».348 «Ich kann ihn nicht mehr ausstehen, er langweilt mich, er ödet mich an», konstatiert der Schreibende in Bichsels Roman, und so beschliesst er: «ich schmeisse ihn raus».349 Damit bleibt ihm nichts anderes übrig, als entgegen seinem Vorsatz über sich selbst zu schreiben. Kieninger ist – ähnlich wie Wondratscheks Paul – als solche bewusst gemachte scheiternde Fiktion. Auch im Hinblick auf das verwendete Textmaterial entspricht Wondratscheks Hörspiel Bichsels «Roman»: Beide Werke sind Montagen von Beschreibung, Kommentar und Zitaten. Kennzeichnende Merkmale dieses Typus des Neuen Hörspiels sind im Hinblick auf die inhaltliche Intention also die demonstrative Auflösung der Illusion einer in sich geschlossenen Spielhandlung, in formaler Hinsicht das Prinzip der Montage von disparaten, über sich hinausweisenden Textblöcken, die von verschiedenen Stimmen gesprochen werden.350 Dieselben Prinzipien wendet Bichsel in seinem ersten und einzigen, mit dem «Prix Suisse» ausgezeichneten Hörspiel an.
Mit Formeln der Weigerung beginnt Peter Bichsels Hörspiel «Inhaltsangabe der Langeweile» (1972):
«nichts – erzählen
nichts – erfinden
sich nicht – erinnern
Dinge erzählen – damit nichts erzählt wird
Dinge erfinden – damit nichts erfunden wird
sich erinnern – bevor sich die andern erinnern» (S.1)
Das Hörspiel endet mit der Gegenposition: «ja, ich erinnere mich / wir erinnern uns und wir erzählen uns das, woran wir uns erinnern – weisst du noch?» (S.23) Die Paradoxie, die sich im Vorsatz, Dinge zu erzählen, damit nichts erzählt wird, ja früher schon im Gedankenstrich bzw. der diesem entsprechenden kurzen Pause zwischen den ersten Worten, ausdrückt, bestimmt als dialektische Spannung zwischen Form und Inhalt den ganzen «Hörtext» (351). Das Erzählen, die Erinnerung als Wert an sich ist dessen Gegenstand, der an die Stelle einer Handlung tritt. Das Dilemma ist unauflöslich, wie sich der Autor generell für den «Raum des Nicht-Entscheidbaren» ausgesprochen hat. (352) Da wir «in Geschichten leben» (353), ist ohne Inhalte nicht auszukommen. Das Geschichtenerzählen geht auf ein menschliches Grundbedürfnis zurück: auf den elementaren Drang, sich zu äussern. Der Betrunkene, der endlos über Eishockey redet, meint etwas ganz anderes, Persönliches. Dem Hund steht nur eine Form des Lautgebens für den Ausdruck aller Seelenregungen zur Verfügung. «Etwas schreiben und etwas zweites damit meinen» hat für Bichsel «etwas Literarisches». Der Zweck des Erzählens ist nicht primär «Information», sondern «Kommunikation», das Thema kann blosser Vorwand für eine Äusserung sein.(354) «Der notwendige Inhalt ist der Träger der Erzählung; nicht die Erzählung ist der Träger des Inhalts.» (355) Bichsels Interesse am Erzählen entspricht genau dem, was Franz Mon als Grundthematik experimenteller Hörspiele und als deren «Modellcharakter» erkannt hat: Sie «haben die kommunikative Situation direkt zum Thema», machen auf «Phänomene und Probleme unseres Kommunizierens, unserer Sprachverfassung» aufmerksam.(356)
«Literatur ist nicht das Leben, nicht die Beschreibung des Lebens. Man kann leben ohne Literatur. Literatur ist etwas Zusätzliches. In der Literatur übernimmt die Sprache eine andere Funktion als beim Sprechen. Literatur kann durch Sprachlosigkeit entstehen, durch Verweigerung des Sprechens.» (357) Geschichten werden erzählt, «damit nichts erzählt wird», nichts Konkretes, Wirkliches, Relevantes, nichts Aussergewöhnliches, aber «etwas Zusätzliches», was in der «Sprache vieler (Vergangener und Gegenwärtiger)» mitenthalten ist (358), eine Vielzahl von Realitäten, die mithin als «Möglichkeiten» bezeichnet werden können. (359) Solche Geschichten erfordern von den Leserinnen und Lesern – und im Falle des Hörspiels von den Zuhörenden – «Lange-Weile, lange Zeit», «Musse». (360) Verwandt mit Langeweile ist der Ausdruck «Längizyt», der auf Schweizerdeutsch «Sehnsucht» bedeutet. Bichsel meint damit eine durchaus romantische Sehnsucht des Lesers bzw. Hörers «nach einer anderen Welt» (361), die durch Erinnern, durch Erzählen um seiner selbst willen wachgerufen wird. In diesem Sinn darf sein Hörspiel als «ein romantischer Text» bezeichnet werden. (362) Urs Widmer hat den Gegensatz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, der bei Bichsel im Begriff der Langeweile zusammenfällt, in seinem Essay «Das Normale und die Sehnsucht» behandelt und zuvor schon in seinem Hörspiel-Erstling «Wer nicht sehen kann, muss hören» (WDR, 1969) gestaltet. Geschichtenerzählen entspricht nicht nur einem menschlichen Grundbedürfnis, Geschichten müssen auch erzählt werden, damit «die Tradition des Erzählens […] nicht ausstirbt». (363) Dies bezeichnet nicht eine formalistische, ästhetizistische Haltung. Bichsel meint, dass wohl nicht der einzelne Schriftsteller, aber die Literatur als Ganzes die Welt verändern könne. Als Ausdruck der Sehnsucht nach einer Gegenwelt ist sie subversiv. (364) Die Möglichkeit einer Vielzahl von Geschichten steht im Gegensatz zu der einen Wirklichkeit der Geschichte, deren Hauptexponenten, Politiker und Historiker, glauben, dass man sie «nicht in die Mehrzahl setzen könne.» (365)
Von den Personen, deren Namen die «subjektive, sentimentale Hörspielstimme» im Hörspiel «Inhaltsangabe der Langeweile» immer wieder nennt, kann der Hörer sich kaum eine Vorstellung machen. Es sind aber die Namen von wirklichen Freunden und Bekannten des Autors. (366) Auch die Figuren von Giuseppe Verdis «II Trovatore», dessen verwirrende Inhaltsangabe in Fragmenten nebst einzelnen Dialogpartien das einzige Moment einer Handlung in diesem Hörspiel darstellt, «sind nur Stimmen; was, für wen und aus welchem papierenen Anlass sie singen, ist ganz gleichgültig.» (S.21) Dass aber ihr Gesang zu erschüttern vermag, daran erinnert sich die «subjektive, sentimentale Hörspielstimme» (S.18; S.20), kurz bevor am Schluss sich Erinnerung als Monolog der subjektiven Stimme für einen Moment im Erleben erfüllten Daseins verwirklicht. Die Oper erscheint als Modell eines Werks, das Inhalte, Handlung primär als Anlass zum «Lautgeben», zur «Äusserung» braucht. Doch im Unterschied zum Sprachkunstwerk tritt in ihrer musikalischen Form das «Unsagbare» selbst in Erscheinung, dessen Oberfläche der Schriftsteller nach Max Frischs Bestimmung mit Sprache freizulegen versucht, so dass sie als «eine Art von tönender Grenze» wahrnehmbar wird. (367) Bichsel nennt die Form dieser Annäherung den «Erzählton», der lange nachwirken kann, die «Erzählatmosphäre». Im Gegensatz zu einer solchen Auffassung der schriftstellerischen Tätigkeit steht die Vermittlung blosser Inhalte, etwa in der Trivialliteratur. (368) «Inhaltsangabe der Langeweile» ist als Hörtext eine Art Geschichte «über die Unmöglichkeit, eine Geschichte zu schreiben», und er ist damit eine «Geschichte vom Leben, das man nicht leben kann.» (369) «Längizyt» und «lange Weile» sind aufgehoben in der «Langeweile». Die Pause zwischen «nicht» und «erzählen», die Schnitte zwischen den Textfragmenten der Montage sind der genaue Ort der Sehnsucht nach der Gegenwelt, nach dem Leben. Bichsels Hörspiel behauptet die Beschreibung der Unmöglichkeit des Erzählens gegen die Illusion einer in sich geschlossenen, fiktiven Welt, wie sie das traditionelle Hörspiel konstituiert. Dieser Prozess der Beschreibung ist nicht abschliessbar, wie die Reihung von «und» am Ende des Hörtextes andeutet.
Am Schluss fragt der Interviewer den greisen Verdi, warum er denn seine Einfälle niederschreibe, die dieser als «Experimente der Altersschwäche» (S.21) abtut. Der «Maestro» gibt eine Antwort, die eines Günter Eich würdig wäre: «Ich kann diese Dummheiten nicht ganz lassen.» Frisch hat die Frage mit einer knappen Gegenfrage beantwortet: «Warum nicht!»(370) Bichsel holt in einem Aufsatz etwas weiter aus, beharrt aber letztlich auf der «Unbeantwortbarkeit der Frage». (371) Seine Gegenfrage lautet: «Wann und warum hast du mit Schreiben aufgehört?» (372) Dass Schreiben, Erzählen auch für ihn wie für Günter Eich ein «Übersetzen» aus einem magischen Urzustand bedeuten könnte, wo Wort und Gegenstand eins sind, darauf deuten einige Passagen hin, in denen der italienische Text des «Trovatore» der deutschen Übersetzung gegenübergestellt ist. Auch hier markiert der Gedankenstrich den entscheidenden, nicht-sprachlichen Moment des Über-Setzens, des Nicht-mehr und Noch-nicht. Eine dieser Stellen findet sich am Schluss, wo die Vorstellung heraufzieht, wie zu Verdis Begräbnis neunhundert Sänger zu dem gewaltigen Chorgesang aus «Nabucco» anheben: «Eile dahin, du Gedanke auf goldenen Flügeln – Va pensiero sull’ali dórate» (S.23): ein Bild geglückter Imagination. Bichsels Hörtext lehnt Imagination, Er-Innerung nicht ab, er macht die Spannung zwischen ihrem Gelingen und Misslingen zum Thema. Und das Misslingen steht eher im Vordergrund. Es zeigt sich im Sammeln von gedanklichen Souvenirs, «die Gegenwart zur Vergangenheit machen» (S.22), als Lebensersatz dienen, blosser Ausdruck von «Enttäuschungen» (S.7) sind: «denn weil es Erlebnisse sein sollten, die wir im Gedächtnis zu speichern hätten, wird – wenn Erlebnisse fehlen – alles, was noch gespeichert ist, zum Erlebnis» (S.4). Sprachskepsis heisst im Falle Bichsels Gestaltung dieses Spannungszustandes zwischen Gelingen und Scheitern des Erinnerns, heisst Erzählen «als beständige Reflexion und Infragestellung des Erzählens» (373). Darin zeigt sich überraschend eine tiefe Gemeinsamkeit dieses experimentellen Hörspiels mit dem nur wenig später entstandenen, formal sehr schlichten, konventionellen Hörspiel von Rudolf Jakob Humm, das das Unsagbare einer grossen Persönlichkeit im Dialog zweier Personen über Rousseau zu fassen versucht.
Nachdem gezeigt wurde, welche Bedeutung der Form als Thema dieses Hörspiels zukommt, muss sich das Interesse auf dessen Form als solche konzentrieren. Durch die Tendenz zur Montage von teils vorgefundenem Material wird im Neuen Hörspiel allgemein «die formale Anordnung des Materials zum eigentlichen Problem des Hörspielschaffens.» (374) Bichsels Hörtext verkörpert insofern einen reinen Typus der Montage, als er sich auf Sprache beschränkt und auf Geräusche und Musik völlig verzichtet. (375) Das mag angesichts der Bedeutung, die Verdi und seinem Schaffen darin zukommt, vielleicht erstaunen. Doch würde auch nur ein Takt des Gefangenenchores als banale Illustration wirken und alle Ansätze zur Evokation des «Unsagbaren» zerstören. Peter Bichsel hielt seinen Text gar nicht für ein Hörspiel, da darin nicht eigentlich «gespielt» werde und die fünf Stimmen nicht miteinander in Kontakt kämen, was aber so nicht ganz stimmt. «Im Grunde genommen ist es ein Monolog einer einzigen Stimme und die andern Stimmen sind eigentlich nur Projektionen dieser einen Stimme.» (376) Der Eindruck soll entstehen, als ob «der ganze Text von derselben Stimme gelesen würde.» (377) Die fünf Stimmen durch Verwendung der Stereophonie im Raum zu positionieren, wäre deshalb sicher verfehlt. In gewissem Sinne kann man sogar sagen, «Inhaltsangabe der Langeweile» sei für die «innere Bühne» des monophonen Radios wie geschaffen. Darin zeigt sich eine weitere überraschende Gemeinsamkeit mit dem traditionellen Illusionshörspiel.
In den Stimmen verkörpern sich nicht die Charaktere von Figuren. Ihre Stilisierung und Typisierung wird zu Beginn ausdrücklich vorgeschrieben. Die erste ist eine männliche, «subjektive, sentimentale Hörspielstimme», deren Sätze «nicht etwa echt oder wahr wirken müssen», sondern eher als «sentimentaler Kitsch». Die fünfte erscheint als deren weibliche Projektion, soll aber «noch klischeehafter» klingen. Die übrigen drei männlichen Projektionen werden in der gesprochenen Ansage als «dramatische Stimme», als «Kommentarstimme im Plauderton» und als «pathetische Stimme» vorgestellt. Sie alle übernehmen mehrere Rollen, etwa die des Dirigenten, des Sängers und des Komponisten im Falle der dramatischen Stimme, «wobei es nicht nötig ist, dass er sich dabei stimmlich sehr unterscheidet.» Bei der pathetischen Stimme hatte Bichsel sogar in Betracht gezogen, «die Aufnahme leicht elektronisch zu verändern», also zu verfremden. Die Klischeehaftigkeit der Stimmen scheint für die Realisierung grossen Freiraum zu lassen, doch trügt dieser Eindruck. Zusammen mit Hugo Leber, auf dessen Bitte hin der Hörtext überhaupt entstand, hat Bichsel bei den Aufnahmen beratend mitgewirkt und so seine präzisen Vorstellungen in die akustische Endfassung mit eingebracht. Laut Aussage von Hans Jedlitschka, des Regisseurs, hat er die Zürcher Version allen späteren Inszenierungen durch deutsche Sender vorgezogen. (378) Unecht wirkt Fritz Lichtenhahns Interpretation der subjektiven Stimme keineswegs, sondern vielmehr berührend naiv und glaubhaft, und das verleiht dem Spiel mehr Reiz als durchgehende Verfremdung. Die Form, auch die akustische, soll ja tragen.
Die Teile des montierten Textes stehen in der Regel unvermittelt nebeneinander, doch zum Teil sind sie auch ineinander verzahnt, wie der zweite und dritte Abschnitt im folgenden Beispiel zeigen:
«I Ich erinnere mich du hast dich erinnert er erinnerte sich wir hatten uns erinnert werdet ihr euch erinnern werden sie sich erinnert haben
II wachen sie auf, sie können hier nicht schlafen wachen sie auf, gehn sie nach Hause aufwachen habe ich gesagt hörst du – hier wird nicht geschlafen
III Als ich einschlief am Tisch, wollte er mich rausschmeissen, nur weil er dieses Mal nüchterner war, dabei ist er immer betrunken, der Wirt ist seit Jahren betrunken. Wenn ich komme, abends um fünf, dann sagt er: „Hab ich dir gesagt, dass Peter Baal hier war.“ Das sagt er immer. Seit Peter Baal wieder hier war, sagt er immer: „Hab ich dir gesagt, dass Peter Baal hier war.“ „Er lässt grüssen“, sagt er. „Es geht ihm gut“, sagt er. „Er ist verheiratet“, sagt er. […]» (S.16)
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