99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

«Nordheld» auf Polarfahrt

Ein Nazi-Sympathisant als Preisträger im Hörspiel-Wettbewerb

Seit 1925 waren vom Zürcher Privatsender Adaptionen von Bühnenstücken für das Radio, sogenannte «Sendespiele», produziert und ausgestrahlt worden. 1926 schrieb der Sendeleiter Paul Altheer einen satirischen Einakter zum Thema Radio, der als ein erster, noch zaghafter Schritt in der Entwicklung eines «radio-eigenen» Hörspiels gewertet wurde. 1927 wurde von Richard Schweizer ein Kammerspiel mit Musik von Richard Wagner gesendet, das diesem Ziel schon etwas näherkam. 1928 folgte von demselben Autor das Hördrama einer Fahrt über den Zürichsee, das sich an filmischen Gestaltungsprinzipien orientierte und zweifelsfrei als Hörspiel im heutigen Sinn bezeichnet werden kann. Derselbe Richard Schweizer war der Autor eines Monolog-Hörspiels, das 1929 den neusten Stand der Innovation in Deutschland erreichte und sogar vergleichbaren Werken von Kollegen wie Bertolt Brecht und Hermann Kesser um Tage voraus war. Aber Brecht wählte kein historisches Thema wie Schweizer, sondern entsprach der neusten Mode, indem er einen Pionier des technischen Zeitalters, den Atlantik-Überquerer Charles Lindbergh, auftreten liess. Besonders beliebt waren zu der Zeit Hörspiele über Polar-Forscher, u.a. von Walter Erich Schäfer («Malmgreen», 1929), Friedrich Wolf («S.O.S…. Rao Rao… Foyn» (1929), Arno Schirokauer («Magnet Pol», 1930), H.W.Anders («Polarkantate», 1932) und Hans Braun («Station D im Eismeer», 1932)

Hier knüpfte der Schweizer Paul Lang an, der 1931 auf Anhieb als erfolgreicher Hörspiel-Autor und Radio-Theoretiker in Erscheinung trat. Sein Hörspieltext «Nordheld Andrée» (6.7.31) erhielt den ersten Preis im ersten Hörspielwettbewerb, den die Radiogenossenschaften Zürich, Basel und Bern im Verbund mit dem Schweizerischen Schriftstellerverein (SSV) ausgeschrieben hatten. Noch immer war man der Meinung, ein «radiogerechtes und literarisch wertvolles Hörspiel» sei bis dato nicht gefunden, und erhoffte sich von den Einsendungen zum Wettbewerb ein erstes Beispiel, das auch im Ausland Beachtung finden würde. Langs Hörspiel liegt die Expedition des schwedischen Ingenieurs und Polarforschers Salomon August Andrée zugrunde, der 1897 mit zwei Begleitern von Spitzbergen aus aufgebrochen war, um zum ersten Mal den Nordpol mit dem Freiballon zu überfliegen. Das Unternehmen scheiterte, und erst 1930 fand man die Überreste der Expedition. Presseberichte sowie Andrées Tagebücher, die noch im selben Jahr in deutscher Übersetzung erschienen, dürften dem Schweizer Autor als Quellen für sein Hörspiel gedient haben. Dass der spektakuläre Fund noch lange nachwirken und das Publikum – nicht nur in der Schweiz – in seinen Bann ziehen würde, konnte er mit Sicherheit annehmen. Das Hörspiel ist in einen Prolog und 17 dialogische Szenen gegliedert. Der lineare Aufbau ist durch grosse Zeitsprünge geprägt, wird aber durch keinerlei Rückblenden unterbrochen. Drei grosse thematische Abschnitte lassen sich unterscheiden: 1. Vorbereitung und erster, abgebrochener Versuch (1896) 2. Aufstieg, Flug und Scheitern (1897) 3. Erinnerung an die Expedition in einer Geographiestunde (nach 1926); Auffindung der Überreste und Beisetzung in Stockholm (1930).

Andrée und Frænkel mit dem abgestürzten Ballon auf dem Packeis. Der Film mit dieser Aufnahme und einigen weiteren wurden erst 1930 aufgefunden. (Quelle: Wikipedia)

Als heroisch erscheint der «Nordheld» des Titels vor allem aus der Sicht der Nachwelt und des jungen Begleiters Strindberg, der Andrée in ungebrochener Bewunderung bis in den Tod folgt, während dieser selbst in seiner letzten Stunde Zweifel äussert. Männliches Heldentum wird auch scheinbar relativiert durch einen weiblichen Gegenpol, unter anderem in der Person der Verlobten Strindbergs. In Wirklichkeit wird aber der Glanz «prachtvoller Männer» durch die mehr leidende Haltung «prächtiger Frauen» nur noch erhöht. Der Domprobst von Tromsö fasst deren affirmative Funktion in die Worte: «Vielleicht spüren Sie dann auch etwas von der stillen Kraft, die solche Frauen ausströmen können.» Er denkt dabei nebst den Expeditionsteilnehmern «an die Hunderte, die Tausende von andern tapferen Männern, die hier oben froh und stark in den Tod gegangen sind. Ohne starke Frauen keine starken Männer, Herr Reporter. Und woher haben unsere Frauen ihre stille Kraft?» Einsetzendes Glockengeläut verweist auf die Art der Transzendenz, in der männlicher Tatendrang und passiver Heroismus der Frauen gründen. Von daher nur rechtfertigt sich, «dies schrecklich harte, entbehrungsreiche Leben zu ertragen» oder eben als «Held» für das Kollektiv zu sterben. Überlegt man sich, dass Andrées Unternehmen im Spiel viel mehr durch solch irrationale Impulse als durch rationale Beweggründe motiviert ist, so kommen Zweifel an dem Hörspiel auf, das da als bestes im ersten Schweizer Wettbewerb prämiert wurde und dessen tragischer Gehalt den Hörerinnen und Hörern als «etwas Schauerlich-Grosses» erscheinen und bei ihnen «tiefere Erschütterungen» bewirken sollte.

Langs Hörspiel riecht aber nicht von Weitem schon nach «Blut und Boden», auch wenn die ideologische Tendenz bei isolierter Betrachtung der zitierten Stellen klar erkennbar wird. «Nordheld Andrée» ist das Werk eines gewieften Dramatikers und Kenners der neusten Rundfunkentwicklung in Deutschland. Die hochdeutschen Dialoge wirken lebensecht, die Handlung der ersten beiden Teile erzeugt Spannung, unter anderem dank neuartiger Hörspieldramaturgie. Lang bezeichnet sein Werk als «Rundfunk-Epopöe», worunter er «die Art des Hörspiels» versteht, «bei der sich das Geschehen auf vielen Schauplätzen abwickelt». Er grenzt sich damit von den anderen preisgekrönten Arbeiten ab, die nach seiner Auffassung «Hördramen» sind, welche letzten Endes auf das Sendespiel zurückgehen. «Epopöe» ist allerdings nur eine neue Bezeichnung für den mediengerechten Typus, den Richard Schweizer schon drei Jahre zuvor mit seinem «Klopstock»-Hörspiel im Programm von Radio Zürich eingeführt hatte. Im Unterschied zu Schweizers Hörspielen greift Lang ein zeitgeschichtliches Thema auf, das angesichts der Aufarbeitung der Andrée-Expedition aktuell war. Die Eroberung und Erforschung der Pole entsprach zudem einem lang anhaltenden internationalen Thementrend der Zeit.

Politisch war Paul Lang ein eindeutiger Fall. Schon 1930 schloss er sich der «Neuen Front» an und entwickelte sich zu einem wichtigen Exponenten dieser anti-demokratischen, dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus nahe stehenden schweizerischen Bewegung. In seiner staatstheoretischen Schrift «Lebendige Schweiz» vertrat er 1935 unter anderem die Auffassung, die Schweiz müsse sich der gesamteuropäischen Entwicklung anpassen, der siebenköpfige Bundesrat sei durch einen mit autoritären Vollmachten ausgestatteten «Landammann» zu ersetzen. Unter den «Geistesarbeitern» des Schweizerischen Schriftstellervereins (SSV) befand er sich allerdings in guter Gesellschaft, reisten doch schon im Herbst 1933 der Präsident und der Sekretär des SSV zu Verhandlungen mit der Reichsschrifttumskammer nach Berlin, um vorteilhafte Publikationsbedingungen für SSV-Mitglieder in Nazi-Deutschland auszuhandeln.

Lang war in den dreissiger Jahren der wohl radio-aktivste Schweizer Autor, der sich immer wieder mit Informationen über in- und ausländisches Hörspielschaffen, Polemiken und Anregungen zuhanden der Programmschaffenden bemerkbar machte. Öffentlich tat er sich besonders hervor mit seinem Aufsatz «Bausteine zu einer Rundspruchästhetik», dem Versuch einer theoretischen Systematisierung von radiophonen Sendeformen, die Ende 1931, kurze Zeit nach der Ausstrahlung seines preisgekrönten Hörspiels, in der Radio-Zeitung erschien. Diese baut in der Sache und begrifflich auf Hermann Pongs’ Schrift «Das Hörspiel» (1930) auf, die teilweise nationalsozialistischem Gedankengut nahestand. 1932 übernahm Lang die Leitung der Radiokommission des SSV von seinem sozialdemokratischen Antipoden Jakob Bührer, der sich von da an in der Diskussion um Radio- und Hörspielfragen eher zurückhielt.

Das Deutschschweizer Hörspiel war damit auf der Höhe der Zeit angekommen und hatte entsprechenden Erfolg im In- und Ausland. Schon die mehrmalige Wiederholung durch das Zürcher Studio in den Jahren 1932 (in gekürzter Fassung als Schulfunksendung), 1933, und 1942 war für die damalige Zeit höchst ungewöhnlich. 1934 wurde das Werk in Übersetzung vom Genfer Studio, 1935 von Studio Lugano gesendet. Dass ausländische Sender aber ein Schweizer Hörspiel übernahmen, war bis dahin noch nie vorgekommen und wurde auch bis Ende des Krieges keinem weiteren Werk zuteil. Hilversum produzierte «Nordheld Andrée» 1932, New York 1934.  In Deutschland gestaltete Carl Haensel denselben Stoff 1935 in seinem Hörspiel «Ballon Oernen verschollen». 1944 sendete Beromünster eine neu einstudierte Fassung unter dem Titel «Nordpolflieger Andrée». Die «Helden» hatten bis dahin wohl etwas von ihrem Glanz verloren. 1952 wurde das Spiel noch einmal, zusammen mit mehreren anderen «Repertoire»-Hörspielen, unter dem alten Titel wiederholt. Bis 1943 wurden acht weitere Hörspiele von Paul Lang gesendet, eines davon, ein Schulfunk-Hörspiel, »Die tragische Südpolexpedition des Kapitäns Scott« (7.12.42), lehnt sich nicht nur thematisch, sondern auch in dramaturgischer Hinsicht eng an den erfolgreichen Erstling an. Nach der Reprise 1952 gab es keine weiteren Pionier-Hörspiele à la «Nordheld Andrée» mehr. Das Element des Abenteuerlichen, das zu allen Zeiten zieht, übernahmen wohl vor allem Kriminalhörspiele und «unheimliche Geschichten», zwei Genres, die bis heute überlebt haben und die sich zum Teil sogar – wie die Kasperle-Hörspiele – im freien Handel verkaufen.

Aber mit Langs Erfolg war das Schweizer Hörspiel formal, thematisch und indirekt sogar politisch in eine fatale Abhängigkeit von der ausländischen Produktion geraten. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 musste dieses unter dem Diktat der «Geistigen Landesverteidigung» seinen eigenen Weg finden. Die Ausrichtung auf nationale Inhalte und Werte gelang sehr bald schon unter Führung der Programmschaffenden von Radio Beromünster. Arthur Welti spielte dabei eine herausragende Rolle und verstand es sogar, die geltende Doktrin auf kreative Art zu unterlaufen: In seinem Hörspiel «Napoleon von Oberstrass» (1938) inszenierte er die Anliegen der «Geistigen Landesverteidigung» in kritischer Perspektive und ohne tabuisierte Themen auszublenden.


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