Geistreiche Landesverteidigung in Form einer Parabel
«Geistige Landesverteidigung» (GLV) war eine staatlich sanktionierte Ideologie, die bis zum Ende des zweiten Weltkriegs ihre Berechtigung haben mochte, deren Fortschreibung bis Ende der fünfziger Jahre aber für das Schweizer Hörspiel weder notwendig noch sinnvoll noch förderlich war. Unter dem Einfluss der in einem Regelkatalog fixierten GLV-Doktrin wurden in den dreissiger und vierziger Jahren auffällig viele Hörspiele mit historischer Thematik im Programm von Radio Beromünster gesendet. Der Grund lag wohl vor allem in der Entrücktheit der entsprechenden Stoffe und in der Möglichkeit, politische Verhältnisse und Vorgänge zu thematisieren, ohne direkt Bezug auf die gegenwärtige Lage zu nehmen. Oft waren es Schlachtenbilder und Heldentaten, die aus Anlass historischer Jubiläen glorifiziert wurden.
In dieser Situation reichte 1937 der Zürcher Radio-Allrounder und Hörspielleiter Arthur Welti ein historisches Hörspiel zum dritten Hörspiel-Wettbewerb ein, den die Schweizerische Rundspruchgesellschaft (SRG) im Verbund mit dem Schweizerischen Schriftstellerverein (SSV) veranstaltete. Es wurde mit dem dritten Preis ausgezeichnet. Der erste Preis wurde für ein Weihnachtshörspiel verliehen, der zweite Preis für ein «dokumentarisches» Hörspiel, das eine aussenpolitische Krise im Zusammenhang mit dem «Neuenburger Handel» von 1856/57 zum Thema hatte und das geeignet war, die Einigkeit und Kampfbereitschaft gegenüber einer feindlichen Übermacht, in diesem Fall der preussischen, zu demonstrieren. Weltis Hörspiel nahm ein vollkommen unbedeutendes «Jubiläum» zum Anlass, eine Episode aus den Jahren der Regeneration vor dem Sonderbundskrieg und der Gründung des Bundesstaates 1848. Wie im Fall des Neuenburger Handels ging es um das Motiv der Standhaftigkeit gegenüber einer Grossmacht. Ein aussenpolitisches Geplänkel ergab sich 1838, als Frankreich die Auslieferung von Prinz Louis Napoleon verlangte, der auf dem Landsitz seiner Familie in Arenenberg weilte. Als thurgauischer Ehrenbürger und Hauptmann der schweizerischen Artillerie stand er unter dem Schutz des schweizerischen Asylrechts. Die unter sich zerstrittenen Eidgenossen sahen sich alsbald einer politischen Forderung gegenübergestellt, die ihre Staatsautonomie negierte. Ihr nachzugeben oder es auf eine kriegerische Auseinandersetzung ankommen zu lassen, das waren die möglichen Alternativen.
In dieser ungewissen Situation – und hier setzt die Handlung von Weltis Hörspiel «Napoleon von Oberstrass» (1938) ein – stimmen die Mitglieder des Gemeinderats von Oberstrass dem Vorschlag ihres Vicepräsidenten zu, dem prominenten französischen Flüchtling auch das Ehrenbürgerrecht ihrer Gemeinde zu verleihen. Damit bekräftigt die kleine Gemeinde vor den Toren der Stadt Zürich eigenmächtig die schweizerische Entschlossenheit, die Souveränität des Staates unter allen Umständen zu verteidigen. Angesichts der nun verschärften Kriegsgefahr sind sich die eidgenössischen Stände, die Kantone, mit einemmal einig. Eine Szene von fünf Minuten Länge ist erfüllt von Pferdegetrappel und Tritten aufmarschierender Truppen und Freischaren, Marschmusik und Volkes Stimme, bis die Nachricht eintrifft, die Gefahr sei abgewendet, der «Bougeois d’Oberstrass» habe die Schweiz aus Rücksicht auf das Land verlassen. Wir erleben eine Generalmobilmachung – aus durchaus fragwürdigem Anlass – sowie deren unerwarteten Abbruch. Der Ernstfall trat in der politischen Realität knapp ein Jahr nach der Ursendung von Weltis Hörspiel ein, und die allgemeine Mobilmachung vom 1.9.1939 wurde nicht vorzeitig abgebrochen, im Gegenteil: die zweite Stufe folgte am 20.4.1940, kurz bevor Ernst Bringolfs Inszenierung von Brechts «Lukullus»-Hörspiel gesendet wurde. Mehr als eine Million Schweizer Wehrmänner – und auch Frauen – standen damals unter Waffen im «Feld».
«Wehrhafte Schweiz», dies ist schon das Thema des mit dem zweiten Preis ausgezeichneten Hörspiels zum Neuenburger Handel. Wenn es dabei bliebe, wäre Weltis Werk keiner besonderen Erwähnung wert. Seine «komische Geschichte, die beinahe ernst wurde», so der Untertitel, ist aber eine in die Vergangenheit projizierte, höchst differenzierte Parabel des 1938 gegenwärtigen Zustandes der schweizerischen Demokratie. In Weltis Hörspiel ist buchstäblich alles politisch. Dies betrifft auch den privatesten Bereich der Liebelei von Anneli, der Tochter des Gemeindepräsidenten Rinderknecht, mit dem freisinnigen westfälischen Immigranten Dr. Grosse, dem heimlichen Urheber des «Prinzenhandels» um Louis Napoleon. Schon in der ersten Szene wird die Problematik auf dieser Ebene exponiert. Im Kreis der Familie des Gemeindepräsidenten werden darauf diese unerwünschte Liebschaft, aber auch schon die Auswirkungen von Grosses Aktivitäten auf die Gemeindepolitik diskutiert. Dabei sind die Frauen, Mutter und Tochter, in der Überzahl, und sie reden ein entscheidendes Wort mit. Vor allem Anneli, die heimliche Hauptperson der Geschichte, von Welti besonders sorgfältig und liebevoll charakterisiert, vertritt ihre eigene Meinung standhaft bis zur letzten Szene des Hörspiels.
Auf der dritten, der parlamentarischen Ebene belauschen wir die politische Debatte in der Gemeinderatssitzung, wo die Disputation des Pro und Kontra stattfindet, wo auch mitunter harsche Worte fallen. Der Antragsteller, Vicepräsident Greutert, erhält schliesslich den Auftrag, seinen Vorschlag an einer über Nacht einberufenen Landsgemeinde vor dem Stimmvolk, dem demokratischen Souverän, zu vertreten. Seine Rede auf dem Schulhausplatz verfolgen wir als Radiohörerinnen und -hörer neben Anneli und ihrer Mutter am Fenster – wie in einer Loge, aber eben doch aus der Perspektive der Aussenseiter, bezeichnenderweise auch jener des Asylbewerbers Grosse. Teil der Landsgemeinde sind eben nur die stimmfähigen Männer, und so blieb es in der politischen Realität der Schweiz auch noch weitere 133 Jahre.
Vom Logenplatz aus verfolgt das Hörspielpublikum den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung. «Denn was ist eine Republik, wenn nicht auch der kleine Bürger, der letzte Mann nach den allgemeinen Dingen schaut?» So die rhetorische Frage des Volksredners. Arthur Welti hütet sich aber, den Prozess der basisdemokratischen Beschlussfassung derart zu idealisieren, sind doch vom versammelten Volk nur ein paar zustimmende, teils gegrölte Zwischenrufe und Lacher zu vernehmen. Die formelle Volksabstimmung durch Handerheben wird ausgeblendet, da wenig radio-wirksam. Wer diese öffentliche Szene, die Peripetie des klassisch gebauten Stücks, kritisch verfolgt, wird feststellen, dass die Entscheidung zuvor schon im kleinen Kreis der Gemeinderatssitzung weitgehend vorgespurt wurde. Das wahre Subjekt demokratischen Handelns, so zeigt das Spiel, ist eben nicht das Mittelmass der volonté générale, sondern der vorgängige kontroverse Diskurs engagierter Protagonisten, der verantwortungsvolle individuelle Entscheidungen der Stimmbürger erst ermöglicht.
Die ausgefeilte Rhetorik, die den politischen Willen des Souveräns bündelt und in die gewünschte Richtung lenkt, ist im Ansatz populistisch und damit nicht über alle Zweifel erhaben. Der Vicepräsident appelliert zielbewusst an den lokalpatriotischen Stolz seiner Mitbürger: «Bis jetzt hat die Welt nicht gewusst, wo Oberstrass liegt. Aber übermorgen werden es in Paris die Spatzen von den Dächern pfeiffen: Oberstrass, c’est en Suisse, ou l’on sait ce que c’est que l’honneur et le courage! Oberstrass c’est la Suisse!» Damit ist der Durchbruch geschafft, und «gewaltige Begeisterung» bricht aus. Das elaborierte Französisch soll zeigen, dass wir es nicht mit plumper Demagogie zu tun haben. Greuterts Rede erreicht ihren Höhepunkt mit der Formel: «Oberstrass c’est la Suisse!» Darin drückt sich auch der Sinn und Grundgehalt von Weltis politischer Parabel aus.
Auf der fünften, der exekutiven Ebene betreten die Dörfler der Zürcher Landgemeinde das weltpolitische Parkett. Eine Delegation unter der Leitung von Präsident Rinderknecht überbringt Prinz Louis Napoleon die Ehrenbürger-Urkunde der Gemeinde Oberstrass. Die Herren fühlen sich spürbar unwohl in ihrer Festkleidung mit «Bratenrock» und «Angströhre». Beratend steht ihnen Dr. Grosse zur Seite, der sich mit internationaler Politik auskennt – aber er muss sich strikt abseits der offiziellen Szene halten. Den Herren ist bekannt, dass er nach erfolgreichem «Handel» gerne der zweite «Bourgeois d’Oberstrass» werden möchte. In seiner Person, aber auch in Nebenbemerkungen des Gemeindepräsidenten greift Welti ein politisch äusserst «heisses Eisen» auf, das gemäss GLV-Doktrin schweigend übergangen werden sollte: das Problem der in die Schweiz drängenden Asylbewerber, vor allem jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland. Latenter Antisemitismus drückt sich ganz nebenbei in den Worten von Vater Rinderknecht aus: «…dänn ebe, hät me eimal ja gseit, dänn chömed eso Jude und Schwabe und Prüsse, wo au niene dihei sind oder suscht Dräck am Stäcke händ und wänd au ibürgeret si.» An anderer Stelle wird klar, dass man nebst politischen Machenschaften à la Grosse vor allem die wirtschaftliche Konkurrenz ausländischer Gewerbetreibender fürchtet. Der Gemeidepräsident etwa erwähnt beiläufig »all die Jude, womer im ganze Land umenand händ. Was meinsch Du, was die für Gschäft mached und Euserne de Verdienscht ewegnähmed?« Seine Tochter widerspricht ihm vehement.
Anna Rinderknecht, im ganzen Spiel konsequent im Diminutiv und vom Vater und Grosse mehrmals als «Chind» angesprochen, bringt die Problematik in der Schlussszene auf den Punkt. Diese junge Frau ist es, der Welti die lachende Wahrheit in den Mund legt: Ihr Verehrer, der deutsche Emigrant, hätte durchaus das Zeug zu einem senkrechten Schweizer, «und als rächte Bürger müesst er dänn au gar nümme go so Ehrebürgerrächt vermittle und sottige Gschäftli mache…« Der Ausdruck »Gschäftli» ist ambivalent und bedeutet hier vordergründig einen parlamentarischen Vorstoss; zugleich klingt aber auch die bis heute geläufige kommerzielle Bedeutung an. Dasselbe gilt für den Terminus «Handel», der nicht nur, in seiner alten Bedeutung, für einen politischen Vorgang steht. Anna hat damit – fast – das letzte Wort. Dieses spricht ihr Vater, der Gemeindepräsident: «Mer wänd dänn luege… schwyg jetzt still und los de Glogge zue…»
Welti bekannte in einer Besprechung der Erstsendung, er habe aufgehört, «an absolut Gutes oder Schlechtes und unbedingte Dummheiten oder Gescheitheiten zu glauben.» Der Verlauf der Handlung zeigt, dass er damit keinem billigen Relativismus oder gar Opportunismus das Wort reden will. Vielmehr geht es um eine skeptische Haltung gegenüber demokratischen Prozessen, die mündige Staatsbürgerinnen und Zuhörer ansprechen will. Bei genauerem Hinhören zeigt sich auch, dass Greuterts Zivilcourage nicht das einzige Motiv ist, dass im Zusammenhang der Napoleon-Affäre vielmehr männiglich sein eigenes Süppchen kocht. Von den diversen Unzulänglichkeiten der Personen nährt sich die Komödie, die «Napoleon von Oberstrass» auch und in erster Linie ist. Die Verwandtschaft der Obersträssler mit Gottfried Kellers Leuten von Seldwyla ist offensichtlich. Den Frauen fallen eher die «Gescheitheiten» in Weltis Sinne zu, die der Komödie ein humanes Antlitz verleihen. Der Napoleon-Handel als Ganzes zählt aus heutiger Sicht nicht zu den Bravourstücken eidgenössischer Diplomatie und hätte durchaus Stoff für eine giftige Satire geboten. Die Männer spielen darin die weniger dankbaren Rollen und tendieren eher auf die Seite der «Dummheiten».
Im Konzept der Geistigen Landesverteidigung war jedenfalls ein solches Hörspiel, das ohne Helden auskommt und keine eindeutige Doktrin propagiert, sondern vielmehr «Fragen und in Frage stellt», nicht vorgesehen. Dafür ist es heute noch gültig.
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