99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

Hörspielmacher Arthur Welti

Radio-Allrounder, Autor, Dramaturg, Regisseur und Entwickler neuer Formate

Arthur Welti begann seine Arbeit für Radiostudio Zürich 1933 und spezialisierte sich im Laufe der Jahre auf die Bereiche Hörfolge und Hörspiel, die er von Grund auf kennen lernte und als Hörspielleiter während vielen Jahren prägte. Ich möchte ihn als «Hörspielmacher» bezeichnen, da sich sein Wirken auf alle Aspekte seines Fachgebiets erstreckte: Er war nicht nur Sprecher, Darsteller, Sänger, Dramaturg und Regisseur, sondern kannte sich auch bestens mit den technischen Bedingungen von Studio- und Aussenaufnahmen aus. Im Unterschied zu anderen Kolleginnen und Kollegen seines Fachbereichs war er auch Liedtexter und Autor eigener Hörfolgen und Hörspiele, und er arbeitete oft eng mit anderen Regisseuren und externen Hörspiel-Autorinnen und -Autoren zusammen. Aus dieser Kooperation entwickelte er in der Periode der weitgehenden Isolation von 1939-45 sogar eigene Formate, die für das Deutschschweizer Hörspielprogramm bis in die sechziger Jahre charakteristisch waren. Auf Welti traf also insbesondere die Personalunion von Autor und Regisseur zu, die später von Klaus Schöning mit dem Ausdruck «Hörspielmacher» in seiner engeren Bedeutung als «akustischer Ingenieur seiner eigenen Texte» bezeichnet wurde – allerdings nicht mit ausschliesslicher Geltung. Für Hörspielschaffende der «freien Szene», die sich seit der Jahrtausendwende entwickelt hat, ist die Beherrschung des gesamten Produktionsprozesses die Regel, was durch die Digitalisierung ermöglicht und erleichtert wurde.

Um das Ausnahmetalent dieses Allrounders der frühen Radiozeit verstehen zu können, ist es zunächst wichtig, seinen Werdegang zu überblicken. Arthur Welti (1901-61) entstammte der seit 1838 bis heute existierenden Fuhrhalter-, Transport- und Logistik-Dynastie Welti-Furrer, die auch Künstler wie den bekannten Maler und Radierer Albert Welti (1862-1912) und den Schriftsteller Albert J. Welti (1894-1965) hervorgebracht hat, also einer gut situierten, bürgerlichen Zürcher Unternehmerfamilie. Dank der musischen und musikalischen Neigungen der Mutter erhielt er früh schon Musik- und später Gesangsunterricht. Nach der Matura belegte er je ein Semester an den Universitäten Zürich und Berlin in den Fächern Germanistik und Geschichte. Danach begann seine Theaterlaufbahn, zunächst mit Gesangs- und Schauspielunterricht. Darauf folgten Engagements an Bühnen verschiedener deutscher Städte, mehrmals und für längere Zeit auch in Berlin, von wo er 1932 aus wirtschaftlichen und politischen Gründen nach Zürich zurückkehrte, da es für ausländische Schauspieler zunehmend schwierig wurde, ein Engagement an deutschen Theatern zu erhalten.

Arthur Welti am Regiepult (Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich)

Nach diversen Engagements als Schauspieler und kleinen Aufträgen beim Radio, unter anderem in der Hörspielgruppe von Radio Zürich, bewarb er sich noch im selben Jahr neben 15 anderen Kandidaten um die ausgeschriebene Stelle eines Radio-Reporters und erhielt diese nach einem intensiven Assessment, wie dies heute genannt würde. Nebst seinem Talent als Sprecher war wohl mitentscheidend, dass Welti soeben ein Hörspiel-Skript mit dem Titel «Richard Wagner in Zürich» eingereicht hatte, das vom Direktor des Zürcher Studios angenommen, produziert und 1933 gesendet wurde. Ob er wohl wusste, dass Richard Schweizer sechs Jahre zuvor mit einem ähnlichen Thema als Hörspiel-Autor debütiert hatte? Welti trat also seine Stelle beim Radio als Schauspieler und Hörspiel-Autor an, war aber zunächst ein Allrounder für fast alles: Reporter für alle möglichen Themen – Ski-, Rad- und Autorennen, das Zürcher Sechseläuten, Leben im Gefängnis… Als Sprecher verkörperte er die Stimme von Radio Studio Zürich. Besonders am Herzen lagen ihm aber die Erarbeitung von Hörfolgen sowie Hörspiel-Regie. Manchmal übernahm er selbst eine Rolle, wenn es sich ergab auch mit Gesang. Wie sein Sohn und seine Tochter in ihrer sehr lesenswerten Biografie zeigen, wurde er schliesslich zum eigentlichen Entwickler neuer Radioformate, die sich nach dem Krieg während mehr als zwei Jahrzehnten bewährten.

Das musikalische Hörspiel existierte in der Theorie schon lange, bevor bei Radio Zürich ein Werk dieser Art realisiert wurde: «Susi erobert Zürich» (1937) wurde in der Neu-Inszenierung 1955 sogar als «Radio-Operette» bezeichnet, war aber in Wirklichkeit eine Komödie mit Gesangseinlagen von Jürg Amstein. Die Musik komponierte Hans Steingrube. Regie führte  Arthur Welti, der wohl auch der Initiator dieser Produktion war und den Text für das Lied der Verse sprechenden «Lift-Mamsell» verfasste. Welti war in der Folge immer wieder mit Steingrube und anderen Komponisten zusammen an musikalischen Hörspielproduktionen beteiligt und sorgte dafür, dass dieses aufwendige und kostspielige Format gefördert wurde.

«Kaleidoskop: Miniaturen des Monats» hiess 1940 ein regelmässig ausgestrahltes Programm mit Wortbeiträgen der beiden Regisseure Arthur Welti und Albert Rösler sowie vieler externer Autorinnen und Autoren, das musikalisch geleitet wurde von Hans Steingrube. Diese bunten Monatssendungen, in gewisser Weise ein «Radio-Kabarett», welches auch zur Vermittlung belehrender Inhalte im Sinne der «Geistigen Landesverteidigung» diente, wurde danach zur heiteren Chronik eines Achtfamilienhauses mit der Adresse von Radiostudio Zürich weiterentwickelt: «Brunnenhofstrasse elfundzwanzig. Monatsgeschichte eines Hauses» (1941) war bereits ein Fortsetzungshörwerk im Stil der gegen Ende der dreissiger Jahre in den USA und in England beliebten family serials. Ein direkter angloamerikanischer Einfluss ist allerdings eher unwahrscheinlich. Die Reihe «Gross- und Kleinbäckerei Tünkli. Eine heitere Familienchronik» (1944) von Max Werner Lenz, Arthur Welti und Emil Hegetschweiler zeichnete sich schon durch eine vage strukturierte Spielhandlung aus, die sich über zwölf Folgen hinzog. Damit hatte sich ein erfolgreiches Autoren-Team gebildet, und ein Format war gefunden, das über Jahre weiterentwickelt werden konnte. Spezifisch schweizerisch daran waren das Lokalkolorit und der Dialekt, vorwiegend Züritüütsch. Ihren Höhepunkt erreichte dieser Serien-Trend schon nach zehn Jahren mit  Schaggi Streulis 17-teiligem Zyklus «Polizischt Wäckerli. Moralisches und Kriminelles aus Allenwil» (1950). Angesichts ihrer Popularität wurden die Fortsetzungsserien um Polizischt Wäckerli und andere Themen bald schon als «Strassenfeger» bezeichnet.

1939 wurde Welti von der SRG als Verantwortlicher für das gläserne Radiostudio der Landesausstellung in Zürich, der «Landi 39», designiert und machte dieses zum Publikumsmagneten. Damit fiel ihm, kurz nach der Erstsendung seines Hörspiels «Napoleon von Oberstrass», die zentrale Aufgabe zu, seine differenzierte Auffassung der «Geistigen Landesverteidigung» während eines halben Jahres mit persönlichem Engagement live vor Publikum zu vertreten. Von den meisten Exponenten der «Geistigen Landesverteidigung» unterschied sich Welti darin, dass er nicht monologisierte, sondern beharrlich den Dialog mit dem Publikum suchte und das akustische Medium an der «Landi» sichtbar machte. Durch diese Vermittler-Rolle wurde er so populär, dass man ihn fortan als »Radiolegende» bezeichnen konnte. Arthur Welti hatte wohl von da an für Radio Beromünster, zumindest für Studio Zürich, bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung Ende der fünfziger Jahre eine vergleichbare integrative Funktion und ähnlich wichtige Bedeutung wie Hans Flesch und Friedrich Walter Bischoff für den Weimarer Rundfunk, allerdings stets nahe am Mikrophon und nicht als Intendant wie diese.

Die Arbeitsweise von Welti als «Hörspielmacher» soll abschliessend am Beispiel dramaturgischer Besonderheiten seines erfolgreichen Hörspiels «Napoleon von Oberstrass» (1938) im Detail gezeigt werden. 1927 hatte Friedrich Walter Bischoff bei der Arbeit an seinem Hörspiel «Hallo, hier Welle Erdball» eine folgenreiche technische Entdeckung gemacht. Dazu berichtet er: «Man konnte mit Hilfe dieses einfachen Regelgliedes Szenen aus- und einblenden, steigern und gliedern, mit Hilfe von Schallplatten damals kompliziert erscheinende Überschneidungen entwickeln. In jener Nacht, da wir so zum ersten Male experimentierten, ich weiss es noch genau, waren die ersten Formen des wirklichen Hörspiels jenseits fader Geräuschkulissen, wie sie zunächst üblich waren, geboren.» Unter Verwendung des so beschriebenen Potentiometers wurde darauf ein erster primitiver Regietisch gebaut.

Weltis «Napoleon»-Hörspiel ist konsequent in dramatischen Dialogen ohne epische Einschübe gehalten und folgt sogar dem Aufbauschema des klassischen Dramas. Hörspielspezifisch sind nur mehrere lange, akustisch aufwendige Aussenszenen sowie die Übergänge zwischen den Szenen. Für den Wechsel zwischen verschiedenen Innenräumen und Passagen, die im Freien spielen, wird nun die während zehn Jahren weiterentwickelte Blendentechnik genutzt. Eine Abfolge von mehreren Szenen, während der Vater und Tochter einen längeren Weg von der heimischen Stube zum Gemeindehaus zurücklegen, inszeniert Welti mittels mehrerer solcher Überblendungen, die das Skript als «akustische Wechsel» beschreibt. Der (virtuellen) Bewegung des Mikrophons während der Spaziergangsszene würde im Film in etwa die Technik des «Travellings» entsprechen. Dies ist schon im Typoskript so vorgesehen und in Regieanweisungen aufwendig beschrieben.

Der Autor und Dramaturg weiss also am Schreibtisch schon, wie er als Regisseur diese Szenenfolge technisch umsetzen wird. Darin besteht die besondere Stärke des «Hörspielmachers». In der Praxis bediente man sich mehrerer Studioräume mit unterschiedlicher Raumakustik, von grossen ausländischen Radiostationen schon zu Beginn der dreissiger Jahre als «Hörspielkomplexe» gestaltet. Geräusche wurden oft vorgängig auf Wachsplatte aufgezeichnet und während der Live-Inszenierung eingespielt. Wenig später ging man dazu über, ganze Hörspielteile auf Wachsplatte, danach vereinzelt mit schweren Maschinen auf Stahlband und schliesslich auf Magnetophonband aufzuzeichnen. Sehr aufwendig war in Weltis Hörspiel im Hinblick auf Geräusch-Einspielungen die retardierende Szene der Generalmobilmachung mit Pferdegetrappel, Marschmusik, Fuhrwerken und Gruppen marschierender Freischaren. Die dritte Inszenierung seines «Napoleon von Oberstrass» zeichnete Welti 1942 in ganzer Länge auf, und so konnte man das Hörspiel 1945 in identischer Form wiederholen.

Eine ganz besondere räumliche Anordnung, die für das «Napoleon»-Hörspiel massgeschneidert war, ist in der Szene von Greuterts Volksrede auf dem Schulhausplatz zu beobachten. Man könnte sie in Entsprechung zum «akustischen Wechsel» als «akustische Perspektive» bezeichnen. Der oben beschriebene Ortswechsel liesse sich ohne grossen Verlust auch einfacher gestalten. Die akustische Perspektive in der folgenden Rede-Szene aber hat dramaturgische Bedeutung. Die Ansprache des Volksredners strebt auf ihren Höhepunkt zu:

Die Sprechtexte in zwei Spalten sind zwei Räumen zugeordnet: Greutert spricht im Hintergrund mit erhobener Stimme draussen auf einem weiten Platz vor versammeltem Volk. Die Mutter und mit ihr die Tochter und der deutsche Asylbewerber Grosse stehen am Fenster, also im Vordergrund an der Grenze zwischen Innen und Aussen, und kommentieren die Rede mit verhaltener Stimme. Die Zuhörenden vor dem Radioapparat erleben die Szene quasi neben den Personen am Fenster. Welti präsentiert uns so das Geschehen aus der Perspektive der Aussenstehenden: der Frauen, die kein Stimmrecht haben, und des Emigranten, für den eine Aufnahme in der sicheren Schweiz mehr als ungewiss ist. Die räumliche Anlage der Szene hat somit inhaltliche Bedeutung, sie impliziert einen distanzierten, wohlwollend skeptischen Blick auf den Prozess der Beschlussfassung durch den demokratischen «Souverän», der aus lauter Männern besteht. Eine derart mit Sinn geladene Dramaturgie muss man in anderen Produktionen lange suchen – und das gilt bis heute. Welti verwirklichte so, ohne dies kommentierend hervorzuheben, in konkreten Ansätzen, was Hans Flesch schon Jahre zuvor in der Formel einer «Synthese von Technik und Kunst auf dem Wege der Übermittlung» entworfen hatte.

Arthur Welti war ein äusserst kommunikativer, innovativer und kreativer Hörspielmacher, der die Entwicklung der Hörspieldramaturgie in der deutschen Schweiz entscheidend beeinflusst hat. Ein wichtiger Fortschritt, der damals noch undenkbar war und erst in jüngster Zeit gewagt wurde, besteht in der systematischen Einbeziehung von Improvisation. Dies lässt sich am Beispiel von «Bez beinebau» von Beat Sterchi und Hermann Bohlen sowie Claude Pierre Salmonys Hörspiel «64’40’’» beobachten.


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