99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage Quellenangaben, detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

Protokolle der subjektiven Realität

Das epische Hörspiel ist per se eine Mischform, bestehend aus Bericht, Beschreibung und szenischer Darstellung. Obwohl es grundsätzlich auch auf der «inneren Bühne» spielt, überschritt es die Toleranzgrenze der puristischen Vertreter eines Worthörspiels der Innerlichkeit, die nach dem Krieg für längere Zeit den Ton angaben. Ernst Bringolfs «subversive» Inszenierung von Brechts «Verhör des Lukullus» (1940) hatte im Beromünster-Programm jedenfalls zunächst keine Nachfolge. Epische Ansätze, etwa in der Figur des «Schriftstellers» im Spiel, kamen aber dennoch gelegentlich vor, vor allem bei Autoren wie Dürrenmatt, Frisch und Oberer, die sich an der internationalen Produktion orientierten und über die Landesgrenzen hinaus bekannt waren. Das Prinzip der Präsentation eines Spiels in seiner Entstehung, das sich durch stark verfremdenden Effekt auszeichnet, prägt auch die Dialekt-Serie «Es Dach überem Chopf» (1961) von Kurt Früh und Jean-Pierre Gerwig, die sogar von einem ausländischen Experten lobend erwähnt wurde. Mit der Gründung der «Abteilung Dramatik» erweiterte sich das Spektrum der Möglichkeiten, so dass nun das epische Hörspiel ohne Weiteres seinen festen Platz im Programm fand.

Man kann zwei Arten des epischen Hörspiels unterscheiden: das «objektiv epische Hörspiel» und das «Hörspiel der subjektiven Epik». Im objektiven Typus wird die dramatische Handlung «gebrochen durch das Medium eines oder mehrerer Referenten, in dem oder in denen der Autor ganz deutlich anwesend ist.»1 Die präsentierende Figur muss nicht unbedingt als auktorialer, allwissender Erzähler auftreten, sie kann auch in der Art der personalen Situation gewissermassen neben der Handlung stehen oder sogar teilweise in diese hineingezogen werden. Sogar wenn eine Person der eigentlichen Spielhandlung, meist eine Nebenfigur, als Ich-Erzähler auftritt, kann es sich um ein «objektiv episches Hörspiel» handeln. Entscheidend ist für diesen Typus allein, dass «der Abstand zwischen geschilderter Welt und Referent» deutlich zum Ausdruck kommt und dass der Referent sich der Handlung unterordnet.2 Ein typisches Hörspiel der objektiven Form ist Werner Schmidlis «Die Geschichte des Matthias» (1966), die von einem aussenstehenden Erzähler in der Rückschau präsentiert wird. Seine Ausführungen unterbrechen die Spielhandlung sehr häufig und machen etwa ein Drittel des ganzen Textes aus. Die Beschreibung dieses Hörspiels ist einem anderen Blog-Artikel vorbehalten.

Dieser Essay soll sich auf das «Hörspiel der subjektiven Epik» konzentrieren, das sich vom «objektiv epischen Hörspiel» wesensmässig durch die Erzählsituation unterscheidet. Der Ich-Erzähler ist hier mit der Hauptfigur der Handlung identisch und lässt seine Anteilnahme am Geschehen erkennen, so dass «sich die Elemente der objektiven Präsentierung eines Vorgangs mit den Elementen der Offenbarung eines Bewusstseins das Gleichgewicht halten.»3 Typisch für das subjektiv epische Hörspiel ist die Situation der Lebensbeichte oder des Rückblicks auf das vergangene Leben, wie er etwa in den kanonischen Hörspielen «Der Klassenaufsatz» (1954) von Erwin Wickert und «Die japanischen Fischer» (1955) von Wolfgang Weyrauch präformiert ist. «Hörspiele der subjektiven Epik» kommen weit seltener vor als «objektiv epische Hörspiele». Im Folgenden werden keine eindeutigen Repräsentanten dieses Typus vorgestellt, sondern eher Grenzfälle, die sich besonders gut eignen, um zu zeigen, dass das Strukturprinzip der subjektiven Epik «eine Übergangsform, eine Form der Schwebe [ist], die nicht mehr die Objektivität der Epik hat, aber auch noch nicht die introvertierte Weltsicht eines stream-of-consciousness-Spiels aufweist.»4

Franz Böni: «Der Radfahrer» (1985)

Mitentscheidend für die Wahl von Franz Bönis (1952-2023) erstem und einzigem Hörspiel «Der Radfahrer» (1985) war der singuläre Charakter und die besondere Qualität dieser Produktion, die nach Auffassung des Regisseurs, Mario Hindermann, «gegen den Strich geht» und «eine neue Farbe in den Radio-Spielplan bringt».5 Seiner kongenialen Inszenierung ist es zu einem guten Teil zu verdanken, dass Bönis Hörspiel die Jahrzehnte überdauert hat und heute so aktuell wirkt wie zu seiner Entstehungszeit – obwohl es in der äusseren Realität kein Telegrafenamt, keine Telegrammboten mehr gibt und die Nachtwächter sich Security nennen.

Mit Schmidli ist dem Autor, der bis dahin ausschliesslich Romane und Erzählungen veröffentlicht hatte, seine Neigung zum Epischen gemeinsam. Dass in diesem Hörspiel die Grenzen zwischen Objektivität und Subjektivität verfliessen, wurde im Hörspiel-Programmheft mit folgenden Worten vorweggenommen: «Einsam und daher unbeholfen, zu überzeugender Selbstdarstellung kaum fähig, beschränkt sich Eiler darauf, minutiös seinen Alltag zu protokollieren oder aber Geschichten zu erzählen: erlebte, erlauschte, erfundene. Sachliche Information und poetische Vision verschmelzen so zu einem ebenso faszinierenden wie beunruhigenden Weltbild, in welchem Realität sich leicht als Sinnestäuschung, der Wachtraum als Wirklichkeit erweist.» Das Hörspiel wurde von der Kritik mit grossem Interesse aufgenommen. Je nach Blickwinkel wurde entweder Bönis «epische Auffassung»6 oder der Charakter des «inneren Monologs»7 und die «Dimension des Träumerischen»8 hervorgehoben. Beide Aspekte erfasst eine Kritikerin am genauesten, die feststellt, dem Monolog hafte «etwas Instruktives» an, doch bleibe Bönis Radfahrer nur «das Abgleiten in eine Vorstellungswelt» als «einzige Möglichkeit zu überleben.»9

Das beinahe 75 Minuten lange Hörspiel «Der Radfahrer» besteht aus zwei etwa gleich umfangreichen, gleich gebauten Teilen, deren äussere Handlung je eine Tour der Hauptfigur Anton Eiler als Telegrammbote und als Nachtwächter repräsentiert. Das Spiel beginnt mit sonoren Saxophonklängen, die Eilers nah am Mikrophon gesprochene Worte, eine Art kurzen Prolog, untermalen. Die Stimme bleibt unverändert, vom Musikhintergrund wird in Strassenambiance übergeblendet, von der sich das nahe, leise Knarren von Velopedalen, vielleicht auch des im Rhythmus des Tretens sich bewegenden Sattels, abhebt. «Seit Monaten bin ich unterwegs – als Eilbote», erzählt Eiler (S.1), und er nennt Ziele seiner früheren Botengänge. «Am liebsten aber bin ich unterwegs hier in den Kalkbreiten.» Man hört den kurzen Pfiff einer Lokomotive und, einmal während der folgenden Worte, das leise Quietschen von Eisenbahnrädern auf den Geleisen.

«Eiler: […]
Güterbahnhof.
Die Gegend kenne ich gut.
Hier hat Ruckstuhl mich seinerzeit angelernt.
Eine Woche waren wir unterwegs.
Er ist parallel neben mir hergefahren
und hat seine Lehranweisungen
in die Luft gerufen:
Ruckstuhl: Trag immer genügend rote Anzeigeformulare auf dir!
Und vergiss nie den „Leitfaden für Eilboten“!
Er ist nützlich.
Ich geb dir den guten Rat:
Lies den Ratgeber gut durch,
dann kann dir nichts passieren!
Eiler: Nun bin ich schon fünf Monate dabei.
Meistens fahr ich jetzt allein.» (S.2)10

Immer wieder bezieht sich Eiler auf die äusseren Umstände seiner momentanen Fahrt, die teils, wenn auch betont zurückhaltend, durch Geräusche signalisiert werden. Einen wesentlicheren Anteil am Aufbau der Vorstellung von der Umgebung haben Wortkulissen wie hier etwa «Güterbahnhof». Im Zusammenspiel mit entsprechenden Geräuschen evozieren sie trotz der Reduktion auf zeichenhafte Andeutungen das Bild einer durchaus realen, sinnlich wahrnehmbaren Aussenwelt, in der sich Eiler auf seinem Fahrrad bewegt. Den Anschein von Konkretheit verstärken noch die zahlreichen Gebäude- und Ortsnamen – das «Hotel Baur au Lac», das «Kaffeehaus „Zum grünen Heinrich“», die «Kalkbreiten», der «Bullingerplatz», «die Gegend von Herdern und Hardturm» –, die den wirklichen Verhältnissen der Stadt Zürich entsprechen oder sich doch daran anlehnen.

Eilers Monolog, der vier Fünftel des ganzen Spiels ausmacht, ist nicht an einen bestimmten Gesprächspartner gerichtet, aber er ist zumindest in den Teilen, die sich auf die Aussenwelt beziehen, auch kein reines Selbstgespräch. Dazu enthält er zu viele sachliche Informationen, die für den Sprechenden selbst von untergeordneter Bedeutung sind und von den Bilder- und Gedankenfolgen eines Bewusstseinsstroms mit Sicherheit überdeckt würden. In seiner instruktiven Art gleicht der Monolog stellenweise sogar den «Lehranweisungen», die Eiler selbst von Ruckstuhl in der im obigen Zitat eingebetteten Rückblende erhält. «Ein Blindenführer protokollierte dem Blinden, was es zu sehen gab», heisst es am Anfang der Erzählung «Die Kalkstecher», die dem ersten Teil des Hörspiels zugrunde liegt.11 Adressaten all dieser Schilderungen, Berichte und Gedanken sind niemand anderes als die Hörerin, der Hörer, die damit zu «blinden» Weggefährten des Radfahrers werden. Dieser unterscheidet sich von einem objektiv epischen Erzähler einerseits durch die Vertraulichkeit und den persönlichen Charakter dessen, was er erzählt, und andererseits durch seine Nähe zu den Zuhörenden. Die Intimität dieser subjektiv epischen Erzählsituation wird dramaturgisch durch den geringen Abstand des Sprechenden vom Mikrophon und damit vom Ohr der Zuhörenden unterstrichen.

Der Monolog des ersten Teils bezieht sich nicht nur auf die Gegenwart, sondern greift auf Erlebnisse der vergangenen fünf Monate zurück, die teils in rudimentären Dialogszenen dargestellt werden. Etwa in einem Drittel dieser Rückblenden kommt Eiler selbst zu Wort. In den restlichen ist er entweder als Angesprochener oder bloss als ein Zuhörender unter anderen vorzustellen. In der Regel bildet, wie im obigen Zitat, der Name eines Kollegen und eine damit verbundene Erinnerung den Anlass zur szenischen Repräsentation der betreffenden Episode, die auch mit der entsprechenden akustischen Ambiance versehen ist. Im ersten Teil spielen die meisten im halligen Raum der Telegrammzentrale, der vom Ticken der Telegraphen erfüllt ist, im zweiten Teil sind das Wachlokal und die Büros von Vorgesetzten die häufigsten Spielorte.

Gelegentlich geht die monologische Präsentation auch fliessend in die Repräsentation einer aktuellen Handlung über, deren Hauptfigur Eiler selbst ist, so zum Beispiel, als er ein Telegramm dem Empfänger nicht persönlich übergeben kann und den Verwalter anzurufen versucht, um Instruktionen zu diesem Problem zu erhalten, das in seinem «Leitfaden» nicht vorgesehen ist. (S.22 ff) Während dieser Etappe seines Botenganges konzentrieren sich seine Gedanken ganz auf die Lösung seiner Aufgabe, was durch eine Folge von realistischen Geräuschen und den dreimaligen Wechsel der Raumakustik verdeutlicht wird: Die Saxophonklänge, die nebst dem knarrenden Fahrgeräusch und dem Verkehrslärm seine schweifenden Gedanken begleitet haben, dauern noch an, während man hört, wie Eiler die Türe öffnet und die Treppe emporsteigt. Danach ist ohne musikalische Begleitung in einer Art kommentiertem Hörfilm zu vernehmen, wie er an der Türe läutet, die Treppe wieder hinuntersteigt, das Telegramm in den Briefkasten wirft, im «Leitfaden» blättert, mit dem Fahrrad durch verkehrsreiche Strassen fährt und schliesslich eine Telefonkabine (gab es damals noch) betritt, deren gedämpfte Ambiance sich merklich von der lärmigen Umgebung draussen abhebt. Das Telefongespräch mit der Zentrale, das nach kurzer Dauer unterbrochen wird, ist als realistischer Dialog gestaltet.

Die radiophone Umsetzung dieser Folge von Spielszenen, in die Eilers Monolog fliessend übergeht, erinnert an das Verfahren des «akustischen Wechsels», das Arthur Welti 1938 bereits angewandt hat. Solche Passagen der Repräsentation gegenwärtigen Geschehens kommen nur vereinzelt vor. Sie rufen für kurze Zeit die Vorstellung konkreter äusserer Wirklichkeit wach, die ansonsten durch die diskrete Folie der Fahrgeräusche, des Verkehrs und signalartig eingesetzter einzelner Schallereignisse einerseits und durch die Nennung der verschiedenen Stationen der Fahrt andererseits mehr angedeutet als vergegenwärtigt wird. Oft knüpft sich an Beobachtungen während der Fahrt eine Kette von Assoziationen, die teils szenisch dargestellt, teils erzählt werden. Eilers Missgeschick beim Telefonieren etwa bringt ihn über den allgemeinen Satz: «Keine Erfindung ist so unfertig wie das Telefon» (S.24) auf das Beispiel einer falschen Verbindung, das er kürzlich selbst erlebt hat. Das betreffende Gespräch wird ohne Überleitung in seinen Monolog eingeblendet.

An einer anderen Stelle fährt er am «Wilden Mann», dem «Parteilokal der „Schwarzen“» vorbei. (S.18) Das lenkt seine Gedanken auf die «Kardianer», die Partei der Eilboten, und auf die «Grünen», zu denen eine junge Frau gehört, die er gerne kennengelernt hätte. Einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen «Kardianern» und «Grünen» hat er sich neulich entziehen können, weil er auf den betreffenden Nachmittag bereits mit seiner Tante verabredet war. Damit schiebt sich die Erinnerung an diesen Ausflug und an missratene Fotoaufnahmen als kleine Groteske in die Schilderung des Parteienzwists ein. (S.19) Die Sequenz wird abgeschlossen durch eine Szene im Parteilokal der Eilboten, gegen deren Vorwürfe sich Eiler verteidigen muss. In die Enge getrieben, hält er den Kollegen den bemerkenswerten Satz entgegen: «Die Parteien bekämpfen sich gegenseitig nur und vergessen den gemeinsamen Feind.» (S.20) Dieser bleibt als sein Credo stehen, da nun die Waschanstalt als neuer äusserer Fixpunkt auf Eilers Fahrt in Sicht kommt. Dass er unterwegs ist, wurde während des gesamten Gedankenganges mit Ausnahme der Dialogszene durch das verhaltene Geräusch des Fahrrads markiert.

Obwohl Bönis Radfahrer dies alles erzählt, als ob er sich unmittelbar an die Zuhörenden wendete, wirken solche Gedankensequenzen wie Teile eines Bewusstseinsstroms, dessen Subjektivität ja auch durch die Wahrnehmung äusserer Vorgänge nur noch intensiver zur Geltung kommt. In Herbert Meiers Hörspiel «Salsomaggiore» sind beide Züge beispielhaft verwirklicht. Aber aus dem Vergleich mit dieser Produktion gehen auch die Unterschiede deutlich hervor. Während in Bönis Hörspiel die Gedanken sich zu Assoziationsketten fügen, die früher oder später abreissen und durch die äussere Realität wieder verdrängt werden, verbinden sich in Meiers Hörspiel die immer wiederkehrenden Gedanken zu einem alles überspannenden Geflecht. Das hat seine Entsprechung in einer starken Tendenz zur syntaktischen Reduktion, wohingegen Eilers Äusserungen aufgrund ihrer sprachlichen Präzision mit der Bezeichnung «Protokolle» treffend charakterisiert werden. Während «Salsomaggiore» durch seine durchgehend subjektive Perspektivik zu einem reinen «Hörspiel des inneren Monologs» wird, scheinen in Bönis Hörspiel die Verhältnisse gerade umgekehrt: Hier sind alle Gedankengänge, die das Innere der Hauptfigur auf ähnliche Art wie in einem inneren Monolog hörbar machen, auf die gegenwärtige äussere Situation bezogen. Dennoch ist Böni, wie ein Kritiker treffend feststellt, «kein Realist, sondern ein Hyperrealist: ein Kritiker des gegebenen Realen, das Ihm zunehmend unwirklich, unwahrscheinlich und damit auch unwahr wird.»12

Die innere Welt, in die Eiler sich in Gedanken absetzt, stellt für ihn, wie eine Kritikerin festhält, die einzige Möglichkeit dar, «einer schnellen, technisierten und automatisierten Welt» zu entfliehen.13 Eiler ist Einzelgänger aus freiem Willen. Seine Kollegen, die Ruckstuhl als «Kleinbürger» bezeichnet, betrachtet er aus grosser Distanz. Ihre Kleidung, ihre Haartracht, ihre Sprache, ihr gesamtes Verhalten erscheinen in Eilers Schilderung und auch in den Spielszenen, die ja seiner subjektiven Auswahl unterliegen, als fremd, ja geradezu grotesk. Die Entwicklung seines Verhältnisses zu ihnen beschreibt er so:

«Eiler: […]
Am Anfang habe ich mit meinen Kollegen
noch geredet.
Heute will Ich meine Ruhe haben.
Ich habe zuerst geglaubt, ich könne sie
wachrütteln, sie beeinflussen.
Doch warum soll ich sie beeinflussen?
Seit ich schweige,
sind sie allerdings unsicher.
Offenbar beeinflusse ich sie
jetzt erst recht.
Deshalb drängen sie sich so auf.
Ich hasse es, wenn sie plötzlich
neben mir herfahren
und mich aus meinem Grübeln herausreissen.» (S.2 f)

Im anfänglichen Vorsatz, die Kollegen wachzurütteln, sie zu beeinflussen, zeigt sich, dass all den Beobachtungen und Grübeleien nicht ein von vornherein apolitisches, bloss auf das eigene Private gerichtetes Bewusstsein zugrunde liegt. In der Schilderung der beengten sozialen Verhältnisse, in die Eiler durch seinen Job mitunter Einblick erhält, ist seine Anteilnahme durchaus spürbar. Indem er während der Arbeitszeit einen entlassenen Kollegen besucht, der in seiner Verzweiflung dem Alkohol verfallen und zum Kriminellen geworden ist, nimmt er sogar aktiv Partei für einen Deklassierten und verstösst damit bewusst gegen die Dienstvorschriften. Seinem Vorgesetzten, der ihn wegen seiner Abwesenheit zur Rede stellt, begegnet er sehr keck und leugnet seine Verfehlung. »Er glaubt», so denkt Eiler rückblickend, «die Angst vor Ihm sei riesengross, man wage gar nicht, ihn zu beschwindeln.» (S.12)

Eilers Rückzug aus der Kleinbürgerwelt, in der er lebt, ist nicht durch Hochmut, sondern durch eine philosophische Haltung motiviert. Über die schwankende Stimmung seiner Kollegen sagt er:

«Eiler: […]
Sie erwarten eine Steigerung,
und wissen nicht,
dass es für bewusstes Leben
gar keine Steigerung gibt.
Egal was passiert,
wichtig ist allein, dass man mit all
seinen Sinnen
diesen einen Moment lebt und erkennt.
Das Leben – das ist der Alltag
und nicht der aussergewöhnliche Tag.» (S.15)

»Bewusstes Leben» besteht für Eiler in seinen Fahrten, die den Alltag bedeuten. Das rhythmische Pedalen versetzt ihn in einen quasi meditativen Zustand, in dem Ort und Zeit aufgehoben sind und sein ganzes Leben im Moment gegenwärtig erscheint. Die Sinnlosigkeit des Strebens nach äusseren Zielen ist in der letzten Beobachtung des Nachtwächters kurz vor dem Ende des Spiels festgehalten, die als Parabel zu verstehen ist. Eiler beschreibt das Verhalten der ersten Pendler am Bahnhof, die alle vorne in den Zug einsteigen, weil sie hoffen, dort allein zu sein. «Doch weil fast niemand hinten einsteigt, sind die vordersten Wagen immer voll besetzt.» (S.51) Durch beobachtendes Abwarten unterscheidet sich der Einzelgänger von der Masse. Seine Freizeit verbringt er mit Vorliebe am Fluss, wo er den Fischern zuschaut. Trotzdem ist der Weg nicht das Ziel, denn die äusseren Ziele von Eilers Botengängen sind ja nicht die seinen.

Sein Revier, das er als Nachtwächter durchstreift, das Eidental, ist hinten durch eine ihm unüberwindlich erscheinende Felswand abgeschlossen, die ihn zum Gefangenen macht: «Den Berg werde ich nie überwinden. Dort ist die Grenze meiner Tour», bemerkt Eiler resigniert. (S.43) Ebenso unüberwindbar sind die Grenzen seiner engen Welt, einer «Welt der Abhängigkeiten», in der er und seine Berufskollegen wie Robert Walsers Gehilfen und Franz Kafkas Untergebene einem Apparat von anonymen Kräften und Interessen ausgeliefert sind.14 Diese literarische Verwandtschaft äussert sich während des ganzen Spiels auch In der Darstellung der äusseren Welt, in die Eiler anscheinend nie eindringt und die doch auf befremdliche Art Züge einer inneren Welt an sich hat. Von hier aus ergibt sich eine Verbindungslinie zu Jürg Amanns Hörspiel «Der Sprung ins Wasser» und zum «Hörspiel der poetischen Realität», das in einem anderen Artikel dieses Weblogs behandelt wird.

Eilers Unterwegssein auf dem Fahrrad drückt aus, dass er keinen festen Boden unter den Füssen hat, ein Entwurzelter ist wie so viele Figuren des Autors. Doch ist er nicht der einzige Einsame in diesem Spiel. Er lebt in einer Gesellschaft von Sonderlingen: Telegrammboten und Nachtwächtern, die ihre Arbeit nicht lieben, aber dennoch stets Angst haben, sie zu verlieren. Fallen lauern hinter allen Türen: Vorgesetzte, deren Gesichter niemand kennt, lassen sich Telegramme zustellen, um das Benehmen der Boten zu kontrollieren. Bleibt einer mit knurrendem Magen erwartungsvoll vor der Villentüre stehen, so gibt sich der Empfänger als Chef zu erkennen, «ergreift den „Leitfaden“ und zitiert daraus: „Der Bote hat pünktlich und zuverlässig zu sein. Er soll nie nach einem Trinkgeld schielen.“» (S.8) Der Verlust der Stelle kommt einer Ausstossung aus der Gesellschaft gleich: «Wer entlassen wird, verkommt In kürzester Zeit.» (S.15) Ihm bleibt nur noch die Arbeit auf dem Schlachthof oder das Absinken In Alkoholismus und Kriminalität. Als Nachtwächter beobachtet Eiler eine ausrückende Polizeistreife. In seinem Kommentar spiegelt sich die Hoffnungslosigkeit des Opfers angesichts der Hüter von Recht und Ordnung:

«Eiler: […]
Zu viert werden sie irgendeinen kleinen
Einbrecher festnehmen,
der gerade ein Lager ausrauben wollte –
um auf seine Welse das Eidental
zu überwinden.» (S.46)

Wenn in diesem Werk eine merkliche Veränderung stattfindet, dann im Übergang vom ersten zum zweiten Teil. Am Ende seines Botenganges begegnet Eiler einem ehemaligen Kollegen, der jetzt Nachtwächter ist: «Man verdient dort besser. Und die Nacht ist gnädiger als der Tag.» (S.27) Er beschliesst überraschend, ab nächster Woche als Nachtwächter zu arbeiten, nachdem ihm bewusst geworden ist, dass einem «in der Stille der Nacht» mehr Zeit bleibe, «sich selber zu erkennen und den Sinn des Lebens zu finden.» Entstehungsgeschichtlich ist dieser Einschnitt durch den Wechsel der Vorlage bedingt. Der zweite Teil beginnt wie der erste mit einem Prolog, der seine neuen Berufskollegen charakterisiert. Sie sind noch menschenscheuer als die Telegrammboten, kommen wie viele von Bönis Gestalten «von den Bergen herunter» (S.28), fühlen sich tagsüber unter Städtern «minderwertig», die älteren «sind vom Leben enttäuscht, suchen in der Nachtwelt ein besseres Leben, eine Welt, in der sie von keinem verletzt werden.» Zwischen der Tour, die Eiler in diesem Teil fährt, und dem Botengang des ersten Teils sind ein paar Wochen vergangen, so dass er über neue Erfahrungen während seiner Anlehrzeit berichten kann.

Bönis Hörspiel beschreibt also zwei zeitlich geraffte Rundfahrten seiner Hauptfigur und weist damit dieselbe zyklische Struktur auf wie etwa Gerold Späths Hörspiel «Heisse Sunntig». In der Bauform dieser insgesamt durchaus konventionellen Hörspiele zeigt sich damit eine Verbindung zu experimentellen Typen, deren oft kreisförmige Anlage im «Sondercharakter» der Radioarbeiten von Frisch und Dürrenmatt in den fünfziger Jahren bereits vorgebildet war. Die Saxophonklänge, die schon im ersten Teil über weite Strecken die Aussen-Ambiance überlagert und ihre realistische Wirkung gedämpft haben, sind im zweiten Teil etwas seltener, reduzieren sich gelegentlich auf eine Folge einzelner verklingender Basstöne mit Pausen dazwischen, welche die Stille bewusst machen. Die andere Seite der Stille, die Eiler gesucht hat, besteht in der Angst, die hinter Fässern und in dunklen Kellerräumen lauert.

In der Nacht scheint sich der Monolog mehr nach innen zu verschieben. Das drückt sich etwa unscheinbar in einem Gedankengang aus, der mit entsprechenden Geräuschen unterlegt wird (S.32). Erstmals erscheint damit ein innerer Vorgang so wirklich wie sonst nur Passagen, in denen die Aufmerksamkeit des Radfahrers der Aussenwelt gilt. Diese Tendenz nimmt  auch eine der letzten Spielszenen auf, in welcher sich Eiler als Grossvater sieht, der seinen Enkeln aus seiner «Nachtwächterzeit» erzählt: «Wenn einmal das Fahrrad zusammenbrach», so phantasiert er, «fuhr ich ohne Lenkstange weiter – wie ein Akrobat im Zirkus» (S.46), fast wie einer von Kafkas Künstlern, möchte man dazusetzen. Nicht nur musikalisch, sondern auch durch das Ticken einer (imaginären) Standuhr werden diese Schwärmereien von der empirischen Realität nun vollends abgehoben. Vom «Hörspiel des inneren Monologs» ist Bönis Arbeit immer zu unterscheiden, aber an solchen Stellen steht sie dem «Hörspiel der poetischen Realität» sehr nahe. Allerdings folgt bald darauf die Rückkehr in die – freilich auch als recht poetisch-phantastisch beschriebene – Realität des nächtlichen Eidentals, wo in der «Obermühle» die Lastwagen «wie grosse Tiere im Stall» stehen. (S.48)

Jens Nielsen: «Ihre Stelle ist gesichert» (2024)

Beinahe vierzig Jahre später entstand Jens Nielsens Hörspiel «Ihre Stelle ist gesichert» (2024), bestehend aus drei inhaltlich voneinander unabhängigen Teilen von je etwa 20 Minuten Dauer, die als «Protokolle» deklariert werden. Regie führte für den ersten Teil Susanne Janson, für den zweiten Henri Hüster und für den dritten Bettie I. Alfred. Gemeinsam ist allen drei Monologen die Situation der Hauptperson, die aus dem «normalen» Arbeitsprozess ausgeschieden ist und eine neue, auf sie zugeschnittene «Stelle» gesucht und scheinbar gefunden hat. Dem Titel vorangestellt ist in der Art eines Mottos die erste Strophe von Nielsens «Arbeiterlied»:

«Wir kommen uns mechanisch vor
Man zieht uns früh am Morgen auf
Mit einem Schlüsselchen am Rücken
Dann rattern wir tagein tagaus
Bis unser Uhrwerk fertig abgeschnurrt
Sind wir im Kistchen und zuhaus»

Bild rechts: Der Trom­peter, gebaut von Vater und Sohn Kauf­mann in den Jahren 1810 bis 1812. Deut­sches Museum, München
(Foto: © Deut­sches Museum)

Der männliche Protagonist des ersten Spiels hat seine Lebensstelle vor mehr als elf Jahren gefunden. Er ist als «Leiter» eines Schlafwagenabteils tätig und verharrt seit seinem ersten Arbeitstag fast bewegungslos auf seinem Posten, einem Hocker unterhalb des Fensters, zwischen den vier Etagenbetten und seitlich des Durchgangs zur Toilette des Abteils. Im Laufe der langen Zeit ist sein Oberkörper geschrumpft, so dass er den grösseren Passagieren nur noch bis zu den Knien reicht, wenn sie vor ihm stehen. Sein Auftrag ist strikt auf sein Abteil beschränkt, in anderen Abteilen gibt es seines Wissens keine Kollegen in ähnlicher Funktion. Seine Aufgabe sieht er darin, den Reisenden mit Gesten zu zeigen, wie sie ihre Betten benutzen und sich bequem für die Nacht einrichten können, auch wenn man dies eigentlich niemandem erklären muss und auch niemand danach fragt. Gelegentlich wird er im Dunkeln versehentlich geschubst und getreten, aber er macht sich so klein und verhält sich so unauffällig, dass die Fahrgäste keinen Anstoss an seiner Anwesenheit nehmen. Er wird im Gegenteil als leicht skurrile Attraktion betrachtet und vom Schaffner den Passagieren anderer Abteile auf Wunsch vorgeführt. In all den Jahren wurde er nur einmal von einem Jungen angesprochen, der fragte, ob es in der Toilette auch einen kleinen Mann gebe. Diesen Raum betritt er aus Diskretionsgründen nie. Von dem Jungen hat er aber erfahren, dass es dort keine Aufsicht gibt. Seine Umgebung beobachtet der gnomenhafte Mann genau. So schildert er das ausgelassene Treiben in der Silvesternacht realistisch und in allen Farben und Tönen.

Der Monolog ist aufgeteilt auf mehrere Sprechpositionen desselben Darstellers, die meist hart geschnitten sind, gelegentlich aber auch ineinander überblendet oder als Chor inszeniert werden. Die Hauptstimme erklingt nahe beim Mikrophon und erweckt, entsprechend dem Konzept der subjektiven Epik, den Eindruck eines vertraulichen Berichts zuhanden der Zuhörenden: insgesamt einer Rückschau auf die jahrelange Arbeit der «Dienstbereitschaft», die der Mann beharrlich und bereitwillig leistet. Weiter entfernt, rechts und links hinten, teils mit Nachhall, ertönen Passagen, die etwas objektiver wirken. Der ganze Monolog mit verteilten Stimmen ist unterlegt von diskreten Anklängen an Spieldosen-Melodien. Die drei Monologe werden am Ende des Hörspiels abgeschlossen durch eine fünfminütige Komposition aus Automatenklängen und einzelnen Satzfetzen aus den Zwischentexten.

Von den Mitreisenden sind nur unartikulierte, a-semantische Äusserungen zu hören. Die Frage des kleinen Jungen und sein Bericht werden vom Mann selbst zitiert. Durch diese Konzeption erscheint der Mann völlig isoliert, gefangen in seiner engen Welt, und trotzdem ist jederzeit klar, dass wir es nicht mit einem inneren Monolog zu tun haben. Das gepflegte, leicht rhythmisierte Hochdeutsch ist offensichtlich auf ein äusseres Publikum zugeschnitten. Auch von einem «Hörspiel der poetischen Realität» unterscheidet sich Nielsens Monolog klar, da die Umgebung des Mannes realistisch dargestellt ist. Am Ende allerdings bemerkt er, dass einer der aussteigenden Fahrgäste die Bahnhofsumgebung als «Bühnenbild» bezeichnet. Daran schliesst sich seine Vermutung, der Zug stehe möglicherweise in einem Depot, seit er hier seinen Dienst versieht. Dies zeugt aber nur von seinem unsicheren Bezug zur umgebenden Realität, die ihrerseits keine surrealen Züge trägt. Die Bahnfahrt ist auch nicht als Parabel zu verstehen wie etwa in Walter Oberers Hörnovelle «Phantastische Fahrt» (1953), eher als huis clos-Situation wie im ersten Traum von Günter Eichs epochalem Hörspiel «Träume» (1951). Aber im Unterschied zu Eichs Gefangenen kapselt sich Nielsens kleiner Mann aus freiem Willen von der Welt ab und ist mit seiner Situation ganz zufrieden. Die Gattungsbezeichnung «Protokoll» schliesst auch jede billige Traumlösung aus, wie sie in den fünfziger Jahren oft in Szene gesetzt wurde. Protokolliert wird hier die mentale Situation und der Weltbezug eines menschlichen Wesens unserer Zeit in seiner ganz besonderen Situation.

«Drei Protokolle aus dem immerfort weiter vorauseilenden Zeitalter der Arbeit» nennt Nielsen seine Hörszenen im Untertitel. Es geht also um das Thema «Arbeit» in deren aktuellster, auch in die Zukunft weisender Erscheinungsform. Die drei Monologisierenden sind keine klassischen Industriearbeiter, sie leiden nicht unter entfremdeter Arbeit, sondern eher im Gegenteil: «Meine Arbeit ist die Dienstbereitschaft», bekennt der Hüter des Schlafwagenabteils, der sich in «leitender Position» wähnt, obwohl er keine besonderen Kompetenzen hat, nicht einmal über einen Schlüssel zum Abteil verfügt und auch gar nicht gebraucht wird. Aber er steht Tag und Nacht zu Diensten. Seine «Bereitschaft», sich, ohne nach dem Sinn zu fragen, mit Haut und Haar für den «Dienst» aufzuopfern, entspricht einer Arbeitsmoral, die Freizeit und Privatsphäre kolonisiert.

Mechanische Automaten, wie sie das «Arbeiterlied» vorstellt, scheinen auf den ersten Blick nichts mit permanenter Verfügbarkeit im digitalen Zeitalter zu tun zu haben. Aber sie sind das symbolische Schreckbild von total deklassierten, ihrer Rechte und Würde beraubten Arbeitstätigen, die zugunsten der Arbeit auf alle persönlichen Ansprüche verzichten müssen. Der tschechische Ausdruck robota, der dem Begriff des Roboters, des heutigen Automaten, zugrunde liegt, bedeutet unter anderem «Frondienst, Knechtsarbeit, Untertanenarbeit». Das entspricht der Selbstaufgabe qua totaler «Dienstbereitschaft» vollkommen. Die Metamorphosen der Figuren, Schrumpfung im ersten, Riesenwuchs im zweiten und Vertierung im dritten Beispielfall, sind ebenfalls symbolische Bilder der Selbstaufgabe. Jochen Meissner versieht seine Besprechung des Hörspiels mit dem Titel «Verpuppungszusammenhänge» und postuliert als dessen Quintessenz die Kritik der «Ökonomisierung aller Lebensbereiche, nämlich permanenter Verfügbarkeit und/oder Dienstbereitschaft, disruptiver Zerstörung und deren therapeutischer Kompensation.»15

Das wirkt auf Anhieb überzeugend und mag auf Extremfälle der heutigen Arbeitsrealität zutreffen. Im Normalfall wird aber wohl doch eher eine work-life-balance angestrebt, die möglichst viel Raum für ein Privatleben lässt – das heute allerdings zu einem wesentlichen Teil durch social media vereinnahmt wird, wo sich auch Firmen präsentieren müssen. Hier ist Selbstdarstellung das grosse Thema, und breite Akzeptanz in Form von likes und followers wird angestrebt. Aber was betreiben Nielsens Figuren Anderes? Der kleine Abteilleiter meint schon gehört zu haben, seine Dienstbereitschaft «sei ein Vorbild für die vielen Angestellten bei der Bahn, und in den Korridoren würde [er] mit Lob erwähnt». Er geniesst offensichtlich seine Bekanntheit und Beliebtheit. Nur Fragen werden ihm nie gestellt. Sein Monolog wirkt wie ein gesprochenes selfie, das er ins Ungewisse versendet: eine bizarre Pose, aber – ausnahmsweise – ungeschönt und ehrlich. Uns als  Adressaten scheint es allerdings eher plausibel, dass er und die anderen Monologisierenden der drei Hörszenen sich ihr setting nur einbilden. In Wirklichkeit sind sie ausgemustert, stehen am Rande oder ausserhalb der Arbeitswelt in einer Ecke.

Der zweite Monolog ist der einer von Corona-homeworking Betroffenen. Sie schildert ihre Ausgangslage so:

«Damals nannten viele ihre Wohnung „Arbeitswohnung“. Denn zur Arbeit ging man kaum nach draussen, dafür war man am privaten Tisch in permanentem Einsatz,  hoch agil, gefordert, ideal entfaltet, wohl informiert und dankbar, eine sinnerfüllte Zeit. Und durch Hüpfen auf der Stelle, aufmerksames Schnaufen sowie Reissen an den Gliedern auf der Yogamatte, zwischen Telefongesprächen, hielt man sich gesund, ah, vorzüglich, attraktiv. Ein eingesperrter Beitrag an die Mitmenschheit.»

Die Frau benutzt den Telefonhörer eines altmodischen schwarzen Bakelit-Tischapparats für ihre geschäftlichen Anrufe in alle Welt, dessen Kabel jedoch durchtrennt ist. Auf diese Art kommuniziert sie «drahtlos», obwohl sie kein Smartphone mehr besitzt. Damit wird bildhaft klargestellt, dass ihre Verbindung zur Realität unterbrochen ist. Früher schon als in der ersten Hörszene wird hier signalisiert, dass alles, was die Frau nun von ihrem Balkon aus beobachtet, von ihr phantasierte «Realität» ist. Eine Schar Kleinkinder taucht auf, die sich auf einer Wiese nahe der Autobahn tummeln. Ungewöhnlich ist nur, dass die windeltragenden Knirpse riesengross sind, grösser als die blühenden Birnbäume auf der Wiese. Sie beginnen mit den Autos zu spielen, was eine Massenkarambolage verursacht. Passagiere werden ergriffen und über der Leitplanke geknickt, Fahrzeuge mitsamt den verletzten Insassen zusammengeknüllt und auf der Wiese aufgeschichtet, ein Helikopter wird vom Himmel geholt und auf den Parkplatz der nahen Raststätte geworfen, wo Panik ausbricht. Die kindlichen Monster erscheinen der Frau «beispielhaft für eine neue Kraft, für den Impuls, der uns am Arbeitsmarkt so dringend fehlte». Es ginge ihr «um die Nutzung dieses Kinderpotenzials».

Foto: © Elischeba Wilde

Das Radio sendet eine Reportage, Polizei und Rettungskräfte fahren vor, die Armee greift mit Nervengas ein. Die Beobachterin flieht aus ihrer Wohnung und wird von Leuten aufgegriffen, die sie für Evakuierungsbeauftragte hält. Sie berichtet, dass sie nun in einer Art «Hotelzimmer» ohne Verbindung zur Aussenwelt einquartiert sei. Nach wochenlangem Dahindämmern wird sie unvermittelt wieder «ausgecheckt». In ihrer Wohnung wohnen nun fremde Leute, die ihr den Zutritt verwehren. Die Obdachlose bezieht in einem der demolierten Fahrzeuge auf der Wiese Quartier, muss aber bald einsehen, dass dessen Kofferraum für sie zu klein ist, da sie immer grösser wird – so gross wie die Riesenkinder, die auf der Wiese spielten. Man fühlt sich an Kafkas Erzählung «Die Verwandlung» erinnert, wo sich auch nur die Hauptperson verwandelt, während deren Umgebung den normalen Status beibehält. Nur endet der Monolog im Hörspiel, ohne dass jemand «das Zeug», die Überreste, wegräumen müsste. Diese zweite Szene rückt Nielsens Hörspiel in nächste Nähe zum «Hörspiel der phantastischen Realität». Aber es handelt sich immer noch um das Protokoll der subjektiven Weltsicht eines menschlichen Individuums, dessen Verhältnis zur Welt allerdings stark gestört ist.

Dasselbe gilt auch für die dritte Szene, die in ihrer Banalität noch schockierender wirkt. Hier erfährt eine Stellensuchende in einer Firma, dass sie nicht gebraucht werde. Sie bleibt im Gebäude, wird immer kleiner, krabbelt auf allen Vieren, kriecht schliesslich auf dem Bauch nur noch millimeterweise vorwärts, findet Unterschlupf unter einem Pult und schläft lange Zeit. Als das Wesen wieder aufwacht, stellt es fest, dass seine Augen seitlich auf die Höhe der Schläfen hochgewandert sind. Das überflüssige menschliche Subjekt ist vollends zum Tier mutiert. Die Angestellten stehen «gross und vollbeschäftigt» über ihm. Es nistet sich schliesslich in einer Ecke des Lifts ein, wird von den Fahrgästen mit Nahrungsresten und Insekten gefüttert und erhält Trinkwasser in einem Napf. Das Reinigungspersonal hebt es gelegentlich an, um seinen Bauch vom Strassenstaub zu befreien. Einzelne Angestellte setzen sich zu ihm, erzählen ihm von ihrem Leid und Überdruss, weinen oder fluchen manchmal. Andere treten ihm auf die Hände, weil sie finden, dass so etwas nicht in ihre saubere Arbeitswelt passt.

«Wer entlassen wird, verkommt In kürzester Zeit.» Dieses beiläufige Statement von Anton Eiler in Bönis Hörspiel drückt lakonisch aus, was in Nielsens Monologen zum bestimmenden Thema wird. Bönis Gescheiterte verfallen aus Verzweiflung in Alkoholismus und Kriminalität. Nielsens Protagonisten, allesamt Opfer der ökonomischen Durchrationalisierung, wählen einen anderen Weg, dessen minutiöse Protokollierung durch die Betroffenen den Inhalt der drei Monologe ausmacht. Meissner bezeichnet ihre Lösung als «Verpuppung» zwecks «therapeutischer Kompensation». Ihre Selbst-«Therapie» besteht in der Flucht in eine – für uns als Zuhörende – faszinierende und zugleich beängstigende Eigenwelt. Die Nüchternheit der epischen Darstellung steigert ihre Wirkung. Die Welt von Bönis Radfahrer wirkt im Vergleich dazu wie eine Idylle.

  1. Frank, Armin P., Das Hörspiel. Vergleichende Beschreibung und Analyse einer neuen Kunstform, durchgeführt an amerikanischen, deutschen, englischen und französischen Texten, Heidelberg (Winter) 1963, S.144 ↩︎
  2. ib., S.144; vgl. S.145 ↩︎
  3. ib., S.180 ↩︎
  4. ib., S.155 ↩︎
  5. zit. nach Siegrist, U., Beklemmende Rundgänge, in: Solothurner AZ, 12.11.85 ↩︎
  6. Eichmann-Leutenegger, B., Franz Bönis Hörspiel »Der Radfahrer«. Eine Welt der Abhängigkeiten, in: Vaterland, 15.11.85 ↩︎
  7. Kägi, U., Erstes Hörspiel des Zürcher Autors Franz Böni. Das leise Girren der Pedale, in: zürl-tip, 8.11.85 ↩︎
  8. che., Die Einsamkeit des Radfahrers, in: NZZ, 14.11.85 ↩︎
  9. Gisi, R., Monolog eines Radfahrers, in: Basler Zeitung, 14.11.85 ↩︎
  10. Seitenangaben gemäss Typoskript, greifbar im Bestand der „Schweizerischen Literaturarchivs“ (SLA), Bern ↩︎
  11. Böni, F., Die Kalkstecher, in: Alvier, FfM. (Suhrkamp) 1982, zit. nach: Am Ende aller Tage, FfM. (Suhrkamp) 1989, S.77 ↩︎
  12. Moser, S., Franz Böni, 34,Nlg. (1990), S.7, In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.), Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München (text + kritik) 1978, S.5 ↩︎
  13. Gisi, R., a.a.O. ↩︎
  14. Eichmann-Leutenegger, B., a.a.O. ↩︎
  15. Meissner, Jochen, Verpuppungszusammenhänge. Jens Nielsen: Ihre Stelle ist gesichert, KNA Mediendienst, Rezension Hörspielkritik.de ↩︎

Kommentare

Eine Antwort zu „Protokolle der subjektiven Realität“

  1. Jens Nielsen hat mich mit wichtigen zusätzlichen Informationen zur Entstehung seines Hörspiels versehen, die ich hier, teils zitierend, nachtrage. Der Bericht zeigt eindrücklich, wie heute Hörspiele entstehen (können). Eine solche Koproduktion über alle Grenzen hinweg mit kreativen Beiträgen von so vielen Beteiligten war zu Zeiten der Abteilung «Dramatik» noch undenkbar.

    Mir war vor allem die Dreiteiligkeit aufgefallen, nach deren Ursache ich den Autor fragte. Sie spiegelt sich auch im Untertitel «Drei Protokolle aus dem immerfort weiter vorauseilenden Zeitalter der Arbeit», der vom Produktionsteam stammt. Susanne Janson, die als SRF-Mitarbeiterin für die Gesamtregie verantwortlich war, hatte zudem die Idee, den einheitlichen Eindruck durch einen Rahmen zu verstärken. Vor- und Nachspann sollen durch elektronisch verfremdete Sprechweise und Sound-Design signalisieren, «dass ein Computer in der Zukunft einen historischen Blick auf die Arbeitswelten in unserer Zeit zurückwirft», was für die Zuhörenden allerdings in dieser Deutlichkeit nicht ohne Weiteres erkennbar ist. Nielsen hat seit seinem letzten Originalhörspiel den Auftrag, ein neues Hörspiel zu schreiben, doch fand er bis anhin noch keinen geeigneten Stoff. Um die Kontinuität seiner Hörspielarbeit zu wahren, schlug er vor, «bestehende Texte von mir für ein Hörspiel zu bearbeiten. Die Idee, zum Thema Arbeitswelt etwas zu machen, stammte glaube ich von Susanne Janson. Und ich fand daraufhin in meinem Buch „Ich und mein Plural“ [Der gesunde Menschenversand, Luzern, 2018] drei Texte, die ich über eine Bearbeitung als verwendbar befand für eine Produktion.» Es sind die Erzähltexte «Leiter», «Im Wohngebiet» und «Aus der Bodenperspektive».

    In der Programm-Ankündigung von play SRF fehlt allerdings ein Hinweis darauf, dass es sich bei diesem «Triptychon» um eine Bearbeitung durch den Autor handelt. Offenbar hielt man es nicht für wesentlich, dem Publikum diesen Hintergrund zu kommunizieren. Nach den langen Geburtswehen des medienspezifischen Hörspiels in den zwanziger Jahren galt die Differenzierung zwischen Adaption und «Radio-Eigenkunstwerk» als essenziell. In der noch fernsehlosen Zeit nach dem Krieg wurde dieses durch eine Flut von Bearbeitungen literarischer Vorlagen etwas in den Hintergrund gedrängt. Ein wesentliches Element des Neubeginns war 1965 der Vorsatz, das Originalhörspiel von Schweizer Autorinnen und Autoren besonders zu fördern und jeden begabten Nachwuchs «wie eine seltene Pflanze» zu pflegen. Diese Auffassung hat sich bis heute gehalten. Jens Nielsen ist einer der produktivsten «Hausautoren» von Radio SRF, der nach einer Reihe von Originalhörspielen bereits den Auftrag zu einer weiteren radiophonen Produktion erhalten hat. Das Fehlen eines Hinweises in der Ankündigung des «Triptychons» ist, so gesehen, nur ein publizistisches Versäumnis. Auf Nielsens neues Hörspiel, ein Werk mit langer Inkubationszeit, darf man gespannt sein.

    Die Dreiteiligkeit wirkte sich inspirierend auf die Produktionsweise aus. Die inhaltlich nur durch das Thema «Arbeit» zusammengehaltenen Teile wurden von drei voneinander unabhängigen Teams produziert, die ersten beiden Teile von Radio SRF, der dritte in Berlin von Bettie I. Alfred, einer Autorin und Hörspielmacherin der unabhängigen Szene, die die Hauptrolle selbst sprach und zur Produktion ihren «Hausregisseur» Henri Hüster beizog. Damit erhält das Projekt nicht nur eine internationale Dimension, sondern überschreitet auch die engen Grenzen der Institution Radio. Die produzierende Darstellerin beschreibt den nach wie vor ungewöhnlichen Herstellungsprozess so:

    «Die ersten beiden Teile sind, soweit ich weiss, ausschließlich im SRF produziert, mein Teil (der letzte) dagegen in meinem eigenen sogenannten BALKONSTUDIO in Berlin. Dort sprach ich alles ein und mischte meine eigens hergestellte Klangwelt – in die ich wie abgesprochen, Teile der „Bergwerker“ aus dem Studio Wernicke einbezog –, und am Ende wurde nochmal alles zusammen in Anwesenheit des ganzen Regieteams – und also auch mit mir in Basel beim SRF mit dem Tontechniker Björn Müller endgemischt. Für mich schlussendlich eine wunderbare neue Erfahrung, da ich bis dato alle meine Hörspiele ausschließlich im Alleingang produziert hatte.»

    Die «private» Produktionsweise hatte Auswirkungen auf die Vortragsweise, die Nielsen lobend erwähnt: «Ich fand ihren langsamen Zugriff auf den Text ganz herrlich traurig schön.» Seine schauspielerische Erfahrung hatte ihm bestätigt, dass Pausen und Langsamkeit am Radio heikler sind als auf der Bühne. Nielsen machte aber die Beobachtung, dass die Musik mithilft, die negativen Auswirkungen des gedrosselten Tempos zu kompensieren. Die vom Team Florentin Berger-Monit und Johannes Wernicke für das ganze Projekt produzierten Kompositionen bilden zusätzlich zu Thema, Titel und futuristischem «Rahmen» eine starke Klammer, welche die einheitliche Wirkung unterstützt. Seit dem Ende der «lärmfreudigen» Pionierzeit der zwanziger Jahre galt als dramaturgische Hauptregel, dass Musik und Geräusch alternierend zum gesprochenen Wort verwendet werden sollten. Nielsen fällt auf, dass im Gegensatz dazu die Musik in seinem Hörspiel oft den Monologen unterlegt wird, was er auf einen generellen Wandel in der dramaturgischen Praxis zurückführt. Er selbst zieht die traditionelle Form vor, die nach seinem Empfinden weniger vom Geschehen ablenkt und den Genuss der musikalischen Teile ermöglicht.

    «Ihre Stelle ist gesichert» wurde etwa einen Monat nach der Erstsendung einer besonders interessierten Hörerschaft im «sogar»-Theater in Zürich präsentiert und zur Diskussion gestellt. Solche Publikumsevents hatten ihren Ursprung in der Zeit der Abteilung «Dramatik und Feature», als Kritiker und Zuhörende in unregelmässigen Abständen in allen drei Studiostädten zur «Hörspiel-Werkstatt» und später zum «Hörspiel-Apéro» eingeladen wurden und oft zahlreich daran teilnahmen. Seit Anfang der neunziger Jahre konnten solche aufwendigen Veranstaltungen nicht mehr mit Eigenmitteln des Radios finanziert werden und schliefen allmählich ein. Heute werden ähnliche Events gelegentlich von externen Institutionen organisiert – ein Zeichen, dass das Hörspiel nun sein Publikum im allgemeinen Kulturbetrieb findet und so lebendig ist wie eh und je.

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