99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage Quellenangaben, detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

Monolog auf der «inneren Bühne»

Das Hörspiel des inneren Monologs – ein literarisches Produkt

Der innere Monolog lässt sich als partielle dramatische Technik mindestens bis zu Shakespeares Werk zurückverfolgen. «To be or not to be» ist in diesem Verständnis ein gedankliches Selbstgespräch Hamlets. Die Einführung als integrale Literaturform wird Arthur Schnitzler zugeschrieben, seine Erzählungen «Leutnant Gustl» und «Fräulein Else» werden meist als paradigmatische Beispiele genannt. Weniger bekannt ist, dass ein entsprechendes Werk am Anfang der europäischen Hörspielgeschichte steht: «Agonie», der innere Monolog eines Sterbenden, von Paul Camille wurde 1924 von der Pariser Jury des «Concours Littéraire Radiophonique» mit dem ersten Preis ausgezeichnet – ex aequo mit «Marémoto» von Pierre Cusy und Gabriel Germinet. Diese fiktive Live-Übertragung einer Schiffskatastrophe, die ganz auf äussere Aktion setzte, wurde für ihre spezifisch radiophone Qualität gelobt. Der innere Monolog von Camille hingegen erhielt die Auszeichnung für die beste literarische Leistung.

In der deutschen Schweiz wurde das erste originale Hörspiel des inneren Monologs 1929 gesendet: In «Napoleon auf St.Helena» liess Richard Schweizer den Feldherrn mit den Elementen der Natur und mit seinem eigenen Schatten sprechen, um die grenzenlose Einsamkeit des Verbannten darzustellen. In neuerer Terminologie würde man diese spezifische Variante als «Hörspiel der absoluten Stimmen» bezeichnen. «Letzten Endes ist alles, was gesagt und erwidert wird, Selbstgespräch, eine Äusserung von Selbstspott, Selbstanklage und Selbsttrost, wie sie nur der einsamsten Seele entspringen kann», heisst es dazu in der Programm-Zeitschrift. Heinz Schwitzke sah im Monologhörspiel, beginnend 1929 mit Hermann Kessers Hörspiel «Schwester Henriette», das in seiner deutschen Version zu gleicher Zeit wie Schweizers «Napoleon» gesendet und 1932 auch von Radio Beromünster inszeniert wurde, einen wahrscheinlich «für immer gültigen Formtypus». Darin erkannte er einen Neuanfang und den Auftakt zu dem von ihm favorisierten literarischen Worthörspiel der Nachkriegszeit: «Innere Handlung, innerer Monolog, imaginärer Dialog, Dialog mit sich selber: das sind die Begriffe, von denen her man auch die Form des Hörspiels verstehen muss.» Daraus leitet sich direkt die «mit konkreter Wirklichkeit und konkreten Handlungsvorgängen in Spannung befindliche Innerlichkeit» ab, die zur Kategorie des sogenannt «traditionellen» Worthörspiels wurde. Schweizer war also mit Kesser zusammen einer der ersten deutschsprachigen Hörspielautoren, die sich in diese Richtung bewegten. Noch näher verwandt ist sein «Napoleon»-Hörspiel in formaler Hinsicht mit Brechts ebenfalls 1929 gesendetem Radiolehrstück «Der Flug der Lindberghs», in welchem auch Naturelemente als «absolute Stimmen» und Gegensprecher des Fliegers auftreten.

Franz Xaver Sandmann (1805-56): Napoleon auf St. Helena (Bild: Wikipedia)

Innerer Dialog – «Ein Mensch allein»

Ernst Bringolf (1889-1954) hatte schon vor dem ersten Weltkrieg als Schauspieler und Regisseur an verschiedenen deutschen Theatern gearbeitet. In den zwanziger und frühen dreissiger Jahren lebte er in Berlin und lernte als Hörspieldramaturg und -regisseur und Autor beim Berliner Rundfunk das neue Medium Radio von Grund auf kennen. Er hatte in der vom «Radiofieber» erfassten Metropole die experimentelle Phase der Hörspielentwicklung aus nächster Nähe miterlebt und war ein erfahrener Hörspielmacher, als er 1934 in die Schweiz zurückkehrte. Schon ein Jahr zuvor hatte er offenbar bei Radio Zürich sein Hörspiel «Ein Mensch allein» eingereicht, das aber nicht produziert wurde und im dortigen Archiv lagerte, bis der Autor es für den zweiten Schweizer Hörspielwettbewerb einreichte und dafür neben drei anderen AutorInnen einen Zusatzpreis erhielt. Bringolf hatte inzwischen nach zwei Jahren Tätigkeit als Darsteller auf verschiedenen einheimischen Bühnen eine feste Anstellung als Dramaturg und Regisseur bei Studio Bern erhalten, wo er 1937 seinen Erstling selber live inszenierte.

Der Sterbende in Camilles «Agonie» ist allein mit seinen Gedanken und monologisiert ohne Unterbruch während der ganzen Dauer des Hörspiels. Schweizer konfrontiert seinen Protagonisten mit absoluten Stimmen, die der Phantasie des Verbannten entspringen. Bringolf bedient sich desselben Kunstgriffs, um die Monotonie des Monologs aufzulösen, indem sich unvermittelt eine «innere Stimme» des einsamen Mannes meldet. Auf die verblüffte Frage, wer da spreche, antwortet sie: «Ich bin … in dir. Ich bin du. […] Ich habe oft zu dir gesprochen, aber du hörtest nicht. Wolltest mich nicht hören.» Sie bietet ihm Hilfe an, um seine Isolation und Einsamkeit zu überwinden. Neu kommt nun hinzu, dass von aussen Geräusche, Musik und Stimmen ins Zimmer des Mannes dringen. Bringolf löst nicht nur den inneren Monolog im Dialog auf, sondern konfrontiert das Innere mit der umgebenden Aussenwelt. Dies entspricht dem Vorsatz, der dem Typoskript vorangestellt ist: «In diesem Hörspiel wird im Rahmen der Handlung versucht, alle akustischen Möglichkeiten auszuschöpfen.» Bald schon wendet sich die Aufmerksamkeit des Mannes einem geöffneten Fenster auf der anderen Strassenseite zu, von wo das Lachen einer Frau herübertönt. Eine erstaunliche Wendung tritt nun ein, wie die Regieanweisung in damaliger Terminologie vorschreibt: «Langsames Umschalten: in den Raum, aus dem das Lachen dringt.» Die Raumblende versetzt die Zuhörenden in ein ganz anderes Setting. Die junge Frau unterhält sich mit ihrem Freund und kommentiert das aufdringliche Verhalten des Beobachtenden am Fenster vis à vis. Die akustische Perspektive hat sich damit um 180 Grad verkehrt.

Danach wechselt die Raumakustik erneut, und wir folgen wiederum dem Dialog des Mannes und seiner inneren Stimme. Es wird klar, dass er sich für die Frau interessiert und sich ihr vor einiger Zeit zu nähern versucht hat. Es folgt eine Zeitblende mit kompliziertem Geräuschübergang, wie er in Paul Langs Pionierhörspiel «Nordheld Andrée» standardmässig angewendet worden war: «Das Klappern der leise zu hörenden Schreibmaschine geht allmählich über in das rhythmische Schlagen eines fahrenden Eisenbahnzuges.» 1937 war dieser manierierte Blendenstil bereits definitiv aus der Mode. Nach Abschluss dieser Rückblende verlassen die weiter dialogisierenden Protagonisten das Zimmer des Mannes. Sie machen sich nun auf den Weg durch ein eher ruhiges Quartier der Stadt: eine akustische Reise, die alle möglichen Effekte erprobt, wie es sich der Autor vorgenommen hat. Passanten gehen plaudernd vorbei, ein Lied mit Klavierbegleitung ertönt aus einem Haus, es beginnt zu regnen, man betritt ein Lokal mit viel Lärm, Musik und Gesang. Die Ansage des Conférencier macht deutlich, dass wir uns in Berlin befinden. Das Hörspiel endet in einem Park. Das Problem des Mannes wird auf überraschende, etwas erzwungen wirkende Weise gelöst: eine Selbstheilung als Ergebnis des Zusammenwirkens zwischen innerer Stimme und äusserem Zufall. Trotz intensiver Einwirkung äusserer Schallquellen wird der innere Dialog von der ersten bis zur letzten Zeile durchgehalten. Die «innere Stimme» vertritt unterdrückte Gefühle, Intuition, das alter ego des Mannes, ist aber nicht zu verwechseln mit den Freudschen Instanzen des «Es» oder «Über-Ich».

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass alle Wendungen der inneren und äusseren Handlung dieses Werks vor allem dem Zweck dienen, die aktuellen radiophonen Möglichkeiten des Mediums zu demonstrieren, die Bringolf in Berlin kennen gelernt hatte. Im Unterschied zu den Hörspielen von Lang und Welti wurde «Ein Mensch allein» nie wiederholt. Die Besonderheit dieses Hörspiels besteht im Versuch, der äusseren Realität eine alternative Dimension entgegenzustellen, welche die «innere Stimme» der Hauptfigur repräsentiert. Darüber hinaus schreibt der Autor in Regieanweisungen zu einzelnen Passagen («denkt») auch echten inneren Monolog vor. Bringolf hat in diesem frühen Versuch all das ausprobiert, was er wenige Jahre später in seinen dramaturgischen Ausführungen als «Regiekünsteleien» ablehnte.

Zugleich weist dieser Versuch, mit grossem radiodramaturgischem Aufwand Innerlichkeit zu inszenieren, die Richtung, die er schon kurz nach seiner Anstellung im Studio Bern einschlagen wird. Sein zunehmend entschiedeneres Eintreten für das illusionistische Worthörspiel ging mit einer allgemeinen Erstarrung der dramaturgischen Vorstellungen beim Deutschschweizer Radio einher, die so absolut war, dass in den vierziger und fünfziger Jahren auch das ganz auf dem Wort basierende epische Hörspiel, dessen Bedeutung Bringolf als Folge seiner Brecht-Inszenierung intuitiv erfasste, keine Chance hatte. Geradezu tragisch wirkt Bringolfs Versagen im Zusammenhang mit Dürrenmatts brillantem Erstling, einem Worthörspiel reinster Ausprägung, das überdies die Skepsis gegenüber Geräuschkulissen zum Thema macht. Rudolf Jakob Humms Manuskript «Der Prophet gegen Ninive» wurde 1953 nicht angenommen, obwohl Bringolf, etwas mutiger geworden, es wohlwollend besprach und auf die besondere «Diktion des Autors» hinwies, die ihn an den «Brecht’schen Stil» erinnerte.

Huis clos, wie in einem Käfig – «Salsomaggiore nochmal!»

Eine moderne Erscheinungsform des «Hörspiels des inneren Monologs» stellt «Salsomaggiore» (1984) von Herbert Meier (1928-2018) dar. Von ihm waren im Abstand von je zehn Jahren schon zwei Hörspiele von Radio Beromünster/DRS produziert worden. Im Spiel «Skorpione» (1964), dessen Stoff der Autor vorgängig bereits als Fernsehspiel gestaltet hatte, geht es um die Unfreiheit des Menschen unter der «Herrschaft des Geldes«. «Die langen Jahre der Anna Erismann» (1974) hat den Kampf einer entmündigten Frau zum Thema, die sich als Opfer ihres Besitzes fühlt. Zu einem ihrer Anwälte sagt sie: «Was ich besitze, macht mich zu einer Gefangenen. Es ist wie ein Käfig.» – «Bin wie in einem Gehäuse. Geh in einem Gehäuse, schalldicht, abgeschirmt…», so beginnt auch der innere Monolog des Hans Ott in «Salsomaggiore». Im Unterschied zu den früheren Hörspielen ist Ott nicht ein Gefangener seines Besitzes, sondern seiner Biographie. «Salsomaggiore» wurde 1986 mit dem «Prix Suisse» ausgezeichnet, der allerdings für die Inszenierung von Radio Svizzera Italiana (RSI) verliehen wurde.

Drei Ebenen lassen sich – ganz in Entsprechung zu Bringolf – in Meiers Hörspiel unterscheiden: erstens die Ebene der gegenwärtigen äusseren Realität, auf der Ott mit seiner Frau und anderen Personen spricht, deren Geräusche aber auch von aussen in seinen Bewusstseinsstrom eindringen; zweitens die Ebene seines inneren Monologs als Teil des Bewusstseinsstroms; drittens die Ebene der in den Monolog eingelagerten Spielszenen, die Erinnerungen an Vergangenes, an einer Stelle auch an einen Traum, durch Repräsentation vergegenwärtigen. Neu ist eine dramaturgische Besonderheit, die aufgrund der mikrophon-technischen Entwicklung seit kurzer Zeit möglich war: Die besagten drei Bereiche wurden in der Inszenierung von Walter Baumgartner durch die Kombination von Monophonie und Kunstkopfstereophonie separiert und zugleich miteinander in Beziehung gesetzt. Die Kunstkopfstereophonie, die für alle «Aussenszenen» sowie für die Erinnerungs- bzw. Traumszenen verwendet wurde, versetzt die Zuhörenden ins Innere der Hauptfigur und lässt sie das Geschehen aus deren Perspektive erleben. Der innere Monolog, der in Mono aufgenommen und teils mit Hintergrundambiance in Kunstkopfstereo kombiniert ist, wird durch die Kontrastwirkung vom Hörer im Innern des eigenen Kopfes lokalisiert.

Kunstkopf in einem echoarmen Raum (Bildquelle: Wikipedia)

«Salsomaggiore» ist also ein modernes Beispiel eines «Hörspiels des inneren Monologs», in dem Kunst und Technik eine echte Synthese eingegangen sind, wie sie sich Ende der zwanziger Jahre einige Pioniere der Rundfunkkunst vorgestellt haben mögen. Dass es sich um einen gelungenen Versuch handelt, wurde vom Autor selbst und von der Kritik ausdrücklich bestätigt. Dass sich die Illusion der «inneren Bühne» mit Hilfe der naturalistischen Stereowirkung perfektionieren liesse, lag anfangs der sechziger Jahre, als der innere Monolog als Kernstück des monophonen Radiokunstwerks empfunden wurde, noch nicht im Bereich des Vorstellbaren.

Das Spiel setzt mit einer äusseren Szene ein, die das imposante Geräuschpanorama einer Bahnhofshalle vermittelt. Der zweiundsechzigjährige Hans Ott wechselt letzte Abschiedsworte mit seiner Frau, die nach Salsomaggiore Terme zur Kur fährt. Eine Wahrnehmungstäuschung wird zum Bild für das trügerische Verhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität, das für das «Hörspiel des inneren Monologs» wesensbestimmend ist: Die Frau meint, ihr Zug fahre schon, doch es ist der Zug auf dem Nebengeleise: «Der andere fährt, und man glaubt, man fahre selbst.» Nach der Abfahrt denkt Ott zunächst an eine frühere Italienreise zurück, während er den Bahnhof durchquert. Die Erinnerung an ein Gespräch mit seiner Frau über den bevorstehenden Kuraufenthalt blendet sich in Dialogform ein und wirkt so noch präsenter, unmittelbarer als das Selbstgespräch des Mannes. Auf seinem Weg durch eine Einkaufsstrasse macht sich Ott Gedanken über die gleissenden Kostbarkeiten in den Schaufenstern der Bijouterien und über die Sprünge in den Scheiben. Auf der äusseren Ebene wechselt er ein paar Worte mit einem Bekannten, der zufällig seinen Weg kreuzt.

Ein Stück Zeit wird übersprungen. Zu Hause kramt der Strohwitwer in einer Schachtel, die «Otts gesammelte Freizeit» auf Fotografien enthält: Erinnerungen an einen Ausflug mit der Frau werden durch solche an eine Liebesszene in jungen Jahren abgelöst. «Wühl in den Schachteln, Ott, es muss sein. Wer weiss, solche Andenken sind geheime Medikamente.» Damit taucht der Gedanke an Krankheit auf. Vom Arzt, der seine Frau zur Kur geschickt hat, ohne ihn um seine Meinung zu fragen, hat Ott in der letzten Nacht geträumt. Die Szene einer Konsultation steigt in sein Bewusstsein auf. Diagnose: Morbus Ott, multipler Liebesschwund, epidemisch; Hausmittel dagegen: Re-mi-fa-sol, zu beziehen über seine Frau. Eine Szene zeigt Ott an einem der nächsten Tage an seinem Arbeitsplatz. In einer weiteren belauscht er in einem Restaurant das Gespräch zweier Herren. Das Stichwort Salsomaggiore macht ihn hellhörig, die Beschreibung ausschweifender Abenteuer mit einer Frau, deren Beschreibung auf die seine zutrifft, löst blinde Eifersucht aus. Betrunken taumelt Ott Stunden später durch die Strassen und fährt schliesslich mit dem Taxi nach Hause. Eine weitere Szene auf seiner inneren Bühne erinnert ihn daran, wie er auf die Ausbildung an einer Ingenieursschule im Ausland verzichtet hat. Seine Braut hatte ihn gebeten, bei ihr zu bleiben, da ihr Vater soeben gestorben war. «Junges Paar mit totem Vater beschäftigt.» Er liegt im Grab, «aber im Grunde nicht begraben. Lebendig ist er, kommt täglich von den Toten wieder, der urmächtige Vater.» Damit ist Ott, wie es scheint, auf die Fundamente des «Gehäuses» gestossen, das ihn einengt, ihm die Luft nimmt.

Im neunten und letzten Teil des Hörspiels ist Frau Ott von ihrem Kuraufenthalt zurückgekehrt. Sie hat sich gut erholt, ist zufrieden, gut gelaunt. Für sie war Salsomaggiore «ein Segen». Ihn dagegen «hat Salsomaggiore ruiniert.» Verdächtigungen gehören, wie er weiss, zum Bild der Krankheit, die rasch fortschreitet. Obwohl sie aller Wahrscheinlichkeit nach unbegründet sind, kann er sich ihrer nicht erwehren. Die Welt dieses Hörspiels konstituiert sich grundsätzlich aus den subjektiven Wahrnehmung der Hauptfigur. Das gilt auch für die äusseren Dialoge, die zwar im Verhältnis zu den erinnerten Gesprächsszenen als «objektiv» erscheinen, aber ohne Ausnahme durch den Filter von Otts Bewusstsein rezipiert werden. Dieser Effekt wird durch die technisch-dramaturgische Konzeption der Zürcher Inszenierung unterstützt. Im letzten Gespräch nun ist es dem unbefangenen Hörer kaum mehr möglich, die Frau, die sich offensichtlich keiner Schuld bewusst ist und die Anspielungen ihres Mannes gar nicht versteht, ausschliesslich aus dessen Perspektive zu sehen. Die Filtrierung wird aufgrund der allzu grossen Diskrepanz spürbar, was ein Abrücken der Zuhörenden von Ott zur Folge hat. Dieser schafft es nicht mehr, sich auszusprechen, wünscht von seiner Frau nur Musik, das Heilmittel, das ihm der Arzt im Traum verordnet hat. Doch er muss sich selbst eine Platte auflegen.

Die Frau, die Ott nicht helfen kann, die gar nicht weiss, dass sie ihm mit Musik helfen könnte, hilft den Zuhörenden in letzter Minute, der Ansteckung durch die epidemische Krankheit zu entgehen. Auch das epische Mittel der Raffung – die gespielte Zeit erstreckt sich wohl über zwei bis drei Wochen – wirkt unmerklich distanzierend. Dennoch ist der Hörer bis zum Schluss gezwungen, das Abgleiten des seelisch zerrütteten Mannes aus unmittelbarer Nähe, nach wie vor in dessen Perspektive, mitzuerleben. Der Frage, was dieser absonderliche Prozess, der in sinnlosem «Herumexistieren» endet, mit seiner eigenen Existenz zu tun hat, kann er nicht ausweichen. Eine Antwort gibt das Hörspiel: Morbus Ott – Degeneration, Trägheit, Liebesschwund – soll laut Statistiken «sehr verbreitet sein», wird aber, wie Ott in seinem Alkoholrausch erkennt, «im allgemeinen verdrängt. Alles ist happy, nicht wahr. Schau dir die Parties an, lauter, lauter Happyehen … Ehen mit Sekt, Schmuck und Schminke, Lächeln, Happygetue, aber alles krank.» Doch wieweit ist Verlass auf diese Antwort eines Kranken? Der Hörer ist auf sich selbst verwiesen, seinerseits gefangen im Käfig der Subjektivität.

Ungeachtet der «überdeutlich druckfertigen Formulierungen», zu denen Ott nach Ansicht eines Kritikers neigt, verfügt Meier über die sprachlichen Mittel, um den Bewusstseinsstrom seiner Figur glaubhaft zu gestalten. Die Syntax der Monologpartien ist gekennzeichnet durch Reduktion, die von der Auflösung der Kohärenz zwischen den Sätzen über Anakoluthe und Fragmente bis zu Wiederholungen führt. An die Stelle des syntaktischen Zusammenhangs tritt eine motivisch assoziative Verknüpfung aller Textteile einschliesslich der äusseren Dialoge. Das Selbstgespräch im Weinrausch lässt diese Züge in verstärktem Mass hervortreten:

«Keinen Schritt mehr, Ott… stehen bleiben, aufrecht, sage ich, an nichts lehnen, bitte. Frei dastehen, sage ich, weg von der Wand. Aufrecht! Salsomaggiore nochmal! (Schritte. Stille) Geht nicht, es geht nicht. Du hast den aufrechten Gang verloren, Ott. Die letzte Würde, sage ich, im Eimer, meine Herren.»

Betrunken monologisierend erfasst Ott hier, dass seine Krankheit ihn an die Grenze der menschlichen Existenz gebracht hat. Salsomaggiore war nur der äussere Auslöser.

«Innere Bühne» heute

Für die integrale Form des inneren Monologs ist wohl das Selbstgespräch eines Sterbenden eine idealtypische Situation. Der auf die Insel St. Helena verbannte Napoleon in Schweizers frühem Hörspiel befindet sich in einer ähnlichen Huis-clos-Situation. Dass Einsamkeit bis hin zu pathogener sozialer Isolation oft die Voraussetzung für inneren Monolog ist, wurde in der Literaturwissenschaft schon festgestellt. Bringolf erzwingt eine Selbstheilung durch Einwirkung der «inneren Stimme», in Meiers Hörspiel hingegen lässt sich der Verlauf der Krankheit nicht aufhalten. Innerlichkeit ist eine hörspielspezifische Kategorie – das haben die Apologeten des traditionellen Worthörspiels wohl richtig erkannt. Schwitzke konzediert sogar, dass sie in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis mit der akustischen Repräsentation äusserer Wirklichkeit steht. Einseitig ist nur die Annahme einer absoluten Geltung der Kategorie der Innerlichkeit, die zur etwas schiefen Metapher der «inneren Bühne» führte. Der Fall Ott in Herbert Meiers Werk hat klar gemacht, dass im Hörspiel zwar grundsätzlich alles auf dieser «inneren Bühne» spielt, dass es aber dramaturgische und technische Mittel gibt, um Innen und Aussen je nach Intention mehr oder weniger scharf zu differenzieren.

Eine seltene Form eines Dialekt-Hörspiels mit innerem Monolog ist «Härzstillstand» (2011) von Stephan Mathys. Der soeben Verstorbene erinnert sich an Episoden aus seinem Leben und reagiert gelegentlich mit seiner inneren Stimme auf das Verhalten seiner Partnerin und seines Freundes, denen er zuhört, die ihn aber ihrerseits nicht hören können. Ihr (äusserer) Dialog spiegelt ein Wechselbad der Gefühle, wie es in der Extremsituation eines solchen unerwarteten Ereignisses nicht anders zu erwarten ist. Sie tauschen sich aber auch über Erlebnisse mit ihrem Freund und Lebenspartner aus, inszenieren eine kleine Gedenkfeier und planen die zu treffenden Massnahmen.  Am Schluss sagt der Verstorbene: «Ich bi jetzt aachoo, tief unne, am Grund von dem Blüetemeer. Macheds guet, ihr zwei. Und, ja – bis bald.» Danach tritt Stille ein.

Eine interessante Produktion aus neuester Zeit, die thematisch einen Bogen zu Camilles «Agonie» schlägt, ist «Holydays from Suicide. Eine phantastische Reise mit Iggy Pop» (2020) von Birgit Kempker und ihrem Sohn Anatol Atonal. Die vielseitige Autorin spielt die Hauptrolle selbst, Regie führte Johannes Mayr. Das Hörspiel wurde mit dem zweiten Preis des «Grand Prix Nova» in der Kategorie radio drama ausgezeichnet und müsste eingehender besprochen werden, als es hier möglich ist. Die Untersuchung, inwiefern es sich um ein Pophörspiel handelt, ist einem anderen Beitrag vorbehalten. Im Zusammenhang der Reihe von Hörspielen des inneren Monologs ist hier die Situation der Protagonistin von besonderem Interesse, die sich mit dem Prozess des Sterbens in all seinen Stufen und Aspekten auseinandersetzt. Ihr Bewusstseinsstrom umfasst den permanenten Dialog mit dem Popsänger Iggy Pop, der in gesampelten Ausschnitten von Videos, Interview und Songs während der ganzen Spieldauer präsent ist. Die O-Ton-Ebene wirkt hier aber nicht als Kontrast, sondern wird integriert in den Monolog der Frau. Iggy Pop erscheint so verinnerlicht als Bewusstseinsinhalt und fiktiver Gesprächspartner der Protagonistin. Aber auch andere Ich-Instanzen, etwa «das Mädchen, das ich nie war», werden angesprochen.

Die in äussere Handlung integrierte Form des inneren Monologs eignet sich nicht nur für extreme Situationen wie bei Bringolf oder Meier, sondern auch für alltägliche Handlungskonzepte. Gesucht wäre zum Abschluss ein neueres Hörspiel, das die Darstellung äusserer Realität um eine innere Dimension erweitert und beide kontrastierend aufeinander bezieht. Dies gelingt zum Beispiel auf signifikante Weise Claude Pierre Salmony in seinem Hörspiel «64’40’’» (2016), das in einem anderen Beitrag dieses Blogs ausführlich beschrieben wird. Salmony unterbricht und gliedert die Handlung durch einzelne innere Monolog-Passagen, schaltet aber auch mitten in die Teamarbeit an einem Hörspielprojekt zweimal eine Serie von inneren Monologen der Beteiligten ein. Durch den Gegensatz zur äusseren Handlung wird offenkundig, dass eigentlich niemand bei der Sache ist. Die innere Dimension kommentiert so das äussere Geschehen. Es ist eine Art kollektiver stream of consciousness, wie er selten in dieser Konsequenz realisiert wurde, eigentlich aber ein altbewährtes Verfahren, das Goethe in seinen «Wahlverwandtschaften» wohl als Erster erprobt hat. Ein Ausschnitt dieser multiplen Extremform des inneren Monologs soll das open end dieses Beitrags darstellen. Kohärenz erschliesst sich, wenn man die getrennten Äusserungen der einzelnen Personen lesend aneinanderfügt:

Alina [Tontechnikerin]: Kommt dieses fitnesstriefende Männchen von seiner Joggingtour über Mittag
Paula [Schauspielerin]: Der Typ heute am Speisewagentisch:
Hat zwei Listen mit klitzekleinen Namen
Ronny [Rapper]: ‘Drei, zwei, eins. Hallo Welt. Tschau Frau. Tschau Chicks. Hier ist Niemand-Nennt-Mich-Nix.
Polly [Schauspielerin]: Fünfzigtausend Euro in Schweizer Währung.
Und am Hinterhofbau
in der Josephstrasse
selber Hand anlegen
Otto [Schauspieler]: „DER PULLED PORK BURGER“
Paula: Entmutigend lange Listen.
Eine auf lindengrünem Papier
Die andere auf weissem.
Ronny: ‚In einer Welt, in der alles oft genug bloss viel zu viel ist, bin ich gern mal weniger Bitch, denn da wo wer nicht zwingend mehr ist, bin ich wer, je.‘
Alina: Zitiert mich zu sich
Stinkt
Otto: Weich geschmorter
und gezupfter
Schweinebraten
in Sesambun
Ronny: Ein unbestimmter
Polly: Und Subventionsgesuch an Schweizerischen Nationalfond? Zürich Performance-Galerie
Alina: Kringelt sich ein wenig vor Bedauern
Man will ja dann dabei immer ein anständiger Mensch geblieben sein
Otto: Barbecuecountry cut Sauce
mit Beilagen
Ihrer Wahl
Paula: Auf der lindgrünen setzte er der Reihe nach Haken hinter die Namen
Sucht die abgehakten auf dem weissen Blatt
Schwierig
Andere Reihenfolge
Ronny: Ein unbestimmter, über sich selbst hinausdenken könnender Punkt
Komma
Am Boden fieser Tatsachen
Über denen ein Himmel thront.
Alina: ZWAR
Nur noch Vertrag auf Zeit
Ein halbes Jahr
«dann sehen wir weiter»
ABER
«Nimm’s doch als Motivation!»
[…]


Kommentare

Eine Antwort zu „Monolog auf der «inneren Bühne»“

  1. Ein paar weiterführende Gedanken, Ideen und persönliche Meinungen zum Thema hänge ich als Kommentar an, da der Beitrag schon sehr lang ist. Der innere Monolog scheint im Hörspiel wie in der Literatur eine eher rare Spezies zu sein. Der Gedankenstrom ist wegen seiner assoziativen, fragmentarischen Form schwer zu strukturieren. Dies ist vermutlich der Hauptgrund, weshalb man schon früh darauf kam, durch Inputs von aussen ein dramatisches Gerüst zu integrieren. Dass die Bandbreite der möglichen Themen bisher eng begrenzt war, wenn der Schwerpunkt eines Hörspiels beim inneren Selbstgespräch liegt, wurde gezeigt. Interessante Perspektiven ergeben sich aber, wenn die äussere Realität dominiert.

    Die Welt wurde in jüngster Zeit um Dimensionen erweitert, mit denen das Ich permanent konfrontiert ist. Die äussere Nicht-Ich-Realität kann heute durch zusätzliche, mehr oder weniger informative Komponenten zur augmented reality (AR) erweitert werden. Diese sind schon ein Teil der scheinbar grenzenlosen virtuellen Realität (VR), von der behauptet wird, sie umgebe den Nutzer so vollständig, dass die faktische, physische Realität ausgeblendet werde. Und für viele scheint dies, mindestens zeitweilig, zuzutreffen. Innerhalb dieser computergenerierten, interaktiven Umgebung findet sich das Individuum in meist streng separierten Sphären von communities, Ethnien mit je eigenen Regeln der Interaktion. Die exponentielle Steigerung der Rechenleistung von Computern konfrontiert uns neuerdings mit der Kombinatorik von fast unbegrenztem gespeichertem Wissen, die unkritisch als (künstliche) «Intelligenz» (AI, KI) deklariert wird. Oft begegnet uns die derzeit boomende KI in Form von humanoiden Robotern oder sprachfähigen Avataren, die sich wie echte Kommunikationspartner verhalten und zum Teil auch täuschend echt wirken.

    Die Wahrnehmung der physischen Welt, wie sie immer noch unausweichlich in Form von Unfall, Krankheit oder Tod, Personenverkehr, Ernährung, Wetter und Naturkatastrophen begegnet, wird mehr und mehr durch Akteure eines virtuellen Zwischenreichs gefiltert und verzerrt vermittelt. Immer mehr reale InfluencerInnen betreiben im virtuellen Raum ihr persuasives Geschäft und berechnen dessen Wert nicht nach dem Wahrheitsgehalt, sondern nur nach Anzahl likes und followers. Demagogen und notorische Lügner behelfen sich mit dem sinnigen Euphemismus der «alternativen Wahrheit», um ihr destruktives Tun zu legitimieren: eine Virtualität eigener Machart.– Journalistische Berichterstattung ist von fake news durchsetzt und kommt heute nicht mehr ohne aufwendige «Faktenchecks» aus.

    Die künstliche Welt des cyberspace hat ihren eigenen Klang, an den sich die user gewöhnt haben. Radiohörerinnen und -hörer können die verschiedenen Sphären der Nicht-Ich-Realität aber immer noch voneinander unterscheiden, obwohl dies zunehmend schwieriger wird. Bis vor Kurzem waren klassische Roboter und Avatare zweifelsfrei an ihren künstlichen Vocoder-Stimmen zu erkennen. Heute wirkt ihre Sprechweise dank künstlicher «Intelligenz» täuschend echt. Oft sind es eher subtile inhaltliche Unstimmigkeiten, die erkennen lassen, dass der virtuelle Gesprächspartner nur versucht, mit gesampelten Bausteinen unsere Rezeptionsbedürfnisse zu befriedigen. Aber gerade solche Subtilität könnte das Hörspiel des inneren Monologs nutzen. Die neuen Dimensionen der Nicht-Ich-Realität können nicht nur zur Kontrastierung und Gliederung des Bewusstseinsstroms dienen, sondern wirken sich auch auf Denken und Fühlen der Protagonisten aus. Der Dialog mit virtuellen Akteuren und seine Spiegelung im inneren Monolog eignen sich, um ungeahnte dramatische Prozesse in Gang zu setzen: Komik und Tragik, die ausreichen für eine ganze Epoche – bis zum nächsten retour à la nature.

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