99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage Quellenangaben, detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

«Der Sender ist verrückt geworden!»

Von einer Störung des Programms zur Katastrophe eines Hörspiels

«Alles ist möglich. Alles ist erlaubt. Das gilt auch für das Hörspiel.» So lautet der euphorische Schluss von Helmut Heissenbüttels programmatischer Schrift «Horoskop des Hörspiels», schon um 1970. Zwanzig Jahre später  stellte ich fest, dass dies grundsätzlich auch für das Deutschschweizer Hörspiel galt, dass aber längst nicht alles realisiert wurde, was denkbar, möglich und erlaubt war. Bei den Produktionen von Hörspielen, die ich im Studio Zürich mitverfolgte, zwei davon unter Mitwirkung der Autorin bzw. des Autors, fiel mir auf, wie minutiös die Inszenierung dem Wortlaut des Manuskripts folgte. Kleine Änderungen gab es nur in direkter Absprache mit dem Autor. Improvisation kam noch lange danach nicht in Frage, vor allem wohl auch, weil man Verzögerungen im terminierten Ablauf der Produktion scheute. Die besten Autoren, etwa Hanspeter Treichler oder Gerold Späth, schrieben Dialoge, die nah an wirklich gesprochene Sprache herankamen. Die handschriftlich ergänzten Typoskripte von Adolf Muschgs Hörspielen konnten beinahe unverändert beim Reclam-Verlag publiziert werden und sind so kohärent, dass jeder Leser, jede Leserin die Handlung lesend nachvollziehen kann. Authentische Alltagssprache gelangte nur via Originalton-Hörspiel, in der Schweiz meistens als «Feature» bezeichnet, von der Strasse ins Hörspielstudio.

2016 wird im Basler Studio von Radio SRF ein Hörspiel produziert, das nur etwa zur Hälfte auf einem ausformulierten Text basiert. Die andere Hälfte des Skripts besteht aus zu improvisierenden, bloss stichwortartig umschriebenen Passagen – was die Lektüre des geschriebenen Textes schwierig macht. Eine Veröffentlichung in Buchform wäre ausgeschlossen. Autor und Regisseur dieser Produktion ist Claude Pierre Salmony, der beinahe vierzig Jahre im Studio Basel für das Hörspiel gearbeitet hat. Schon seit etlichen Jahren hat Salmony Improvisation in die Hörspielproduktion integriert. Das Hörspiel «64’40’’» ist seine «Abschiedsproduktion». Danach geht er in Pension.

Wir werden nicht den Fehler machen, Handlung und Personen eines Hörspiels mit der Realität gleichzusetzen, obwohl… Der Untertitel von «64’40’’» heisst «Hörspielvariation über ein Thema von Federico Fellini». Damit ist offensichtlich das Thema von Fellinis autobiographischem Werk «8½» gemeint, das mit hochpoetischen Bildern Schaffenskrise und Selbstzweifel des Regisseurs behandelt. In der Eingangsszene von Salmonys Hörspiel tritt Wolfgang auf und bittet um Einlass ins Radio-Studio. Er ist seit vierzig Jahren Hörspiel-Regisseur im Haus und hat seinen Batch vergessen, den elektronischen Schlüssel, der Angestellten sofortigen Zutritt verschafft: Die Satire nimmt ihren Lauf. Kevin – der Radio-Chef lässt sich duzen – hat erlassen, dass stets jedermann, auch altbekannte Mitarbeiter, an der Pforte ein Authentifizierungsverfahren durchlaufen muss, ob mit Batch oder durch umständliche Tastatur-Eingabe. Wolfgang erscheint als ein älterer Herr, kurz vor der Pensionierung, der mit der neuen digitalen Personalkontrolle etwas Mühe hat. Die ganze Szene ist improvisiert, aufgenommen am wirklichen Empfangsdesk von Radio Studio Basel. Und der Fortgang der Handlung bis zur ersten Spielszene im Studio ist gleichfalls Improvisation nach Stichworten des Autors.

Wir haben es, so stellt man bald fest, mit einem Hörspiel über das Hörspiel als Produkt des Mediums Radio zu tun. Ein Hörspiel mit dem zungenbrecherischen Titel «Abschiede Cyclotrimethylentrinitramin Bumm» soll produziert werden, dies die schlichte Handlung. Also auch ein Hörspiel im Hörspiel. Dazu die inneren WC-Monologe von Wolfgang als isolierte Kurzhörspiel-Zäsuren. Zwischen den Orten, vor allem dem Regieraum und dem Aufnahmeraum, ferner einer WC-Kabine und den Gängen des Studios und outdoor, wird fleissig gewechselt. Damit verändert sich auch immer wieder die Perspektive, die Collagen-Struktur verlangt den Zuhörenden volle Konzentration ab – ohne dass sie jedes Bit verstehen müssen und können. Ein zusätzliches Universum erschliesst sich in inneren Monologen aller Beteiligten, teilweise einzeln und parallel zur äusseren Handlung, teilweise dazwischen geschnitten, sogar in Serie. Hier wird hörbar, dass eigentlich niemand bei der Sache ist. Alle Mitglieder des Ensembles hängen ihren eigenen Gedanken und Projekten nach, während sie äusserlich an einer Hörspielszene arbeiten.

Das Hörspiel im Hörspiel wäre in der Gründerzeit des Radios als «Sendespiel» durchgegangen: eine Klamotte, die zur Not auch auf irgendeiner Laienbühne aufgeführt werden könnte. Ihr Scheitern spiegelt wohl den Status des «normalen» Worthörspiels: eines durchschnittlichen «normalen» Worthörspiels – Ausnahmen gibt es. Über den Sinn und Gehalt der Dialoge beschwert sich eine Darstellerin: «Ich weiss schon lange nicht mehr, was das hier alles soll! Was soll das hier alles? Kann mir das mal jemand hier erklären?» Darauf ein Kollege: «Nein, das kann niemand erklären. Das wissen wir nicht.» Man fühlt sich an Beckett erinnert.

In diese Situation brechen Abgesandte der hohen Direktion ein. Eine junge MMM (Multi-Media-Managerin) braucht dringend knappe, knackige, authentische Statements für das Online-Magazin zur Frage: Was fasziniert dich an diesem Hörspiel? (Einer der Spieler: «Ja, hm – vielleicht das Honorar…») Die entscheidende Wendung bringt die in munterem Werbeton zwitschernde PQM (Programm-Quality-Managerin), die Änderungen des Textes verlangt und dazu den Autor ins Studio bestellt hat. Vor allem «Bumm» darf keinesfalls im Titel vorkommen, da es negative Konnotationen transportiert, Sprengstoff geht heute gar nicht mehr. Ein Happy End ist obligatorisch, das Programm muss in düsteren Zeiten Positives ausstrahlen. Ausserdem muss das Hörspiel mit 53’20’’ Länge genau ins Programmraster passen. «Glück ist, wenn man will, was man muss», das ist die PQM-Devise.

Die durch den Autor gehorsamst geänderte Szene kommt mit gravierenden legasthenischen Fehlern aus dem Drucker. Die Sprecherinnen und Sprecher machen sich einen Spass daraus, den Text buchstabengetreu vorzutragen, was eine ergötzliche DADA-Performance ergibt. Schliesslich löst sich das ganze versammelte Ensemble aus verschiedenen Gründen auf, alles redet minutenlang wild durcheinander, man stürmt durch die Gänge auf die Strasse hinaus und verstreut sich in alle Richtungen. Der Regisseur wird auf dem Rückweg von der PQM abgefangen, die ihm mitteilt, dass die Produktion sistiert sei (auch dies in Entsprechung zu Fellinis «8½»).

Hans Flesch hat seine «Zauberei auf dem Sender», das erste Hörspiel im deutschen Sprachraum, am 24.10.1924 live (also wohl auch teilweise improvisierend) inszeniert. Die Handlung bestand darin, dass der Ablauf des Radioprogramms durch Einwirkung eines frustrierten Zauberers heillos aus den Fugen gerät. Diese Figur repräsentiert die innovativen Absichten des Autors, nicht jene des Sendeleiters, der wie Flesch mit „Herr Doktor“ angesprochen wird. Zum Auftakt mischt sich eine «Märchentante» ein, die endlich auch den Kindern geistige Nahrung über die Ätherwellen zusenden möchte. Das Chaos steigert sich, die Programm-Kakophonie endet mit Variationen des Donauwalzers in allen Tempi und Tonarten. – Fleschs «Zauberei» lässt sich als Kritik an einem bereits erstarrten Programmkonzept und spielerische Erprobung kreativerer Möglichkeiten verstehen. Schon in diesem frühen Stadium meinte man eben zu wissen, welche Bestandteile in welcher Abfolge zu einem ordentlichen Programm gehörten. Vor allem politische Äusserungen waren im Weimarer Rundfunk untersagt.

Man erkennt ohne Weiteres Parallelen zu Salmonys Hörspiel. Aber bei aller Gemeinsamkeit gilt es die Unterschiede zu betonen. Der Sendeleiter bei Flesch steht am Anfang seiner Laufbahn, in Salmonys Spiel geht es um den Schlusspunkt einer Karriere. Fleschs «Hörspiel» besteht im zunächst normalen Ablauf eines Live-Radioprogramms, während dem unerwartet zwei exotische Figuren von ausserhalb des Mediums auftreten (Zutritt damals noch ohne Batch möglich); das Hörspiel im Hörspiel demonstriert die Dekomposition des mehrheitlich musikalischen Programms. In «64’40″» entgleist das Hörspiel im Hörspiel – ein traditionelles Worthörspiel, wie es sich 1924 erst zu entwickeln begann – unter der Einwirkung von Exponenten des Mediums Radio; der Autor selbst initiiert die rein sprachliche Dekomposition, was indirekt zur sozialen Auflösung des Produktionsteams führt. Die Zauberei bei Flesch dient der Kritik erstarrter Strukturen, die Legastho-Dada-Einlagen im Basler Pendant  sind bloss eine ohnmächtige Reaktion auf den übergrossen Druck des Managements. Und inneren Monolog im Hörspiel kannte Flesch noch nicht. Damit kommt aber in Salmonys Hörspiel eine neue Dimension hinzu, die das äussere Geschehen kritisch beleuchtet. Magier und Märchentante sind nicht mehr nötig, um das Medium aus den Angeln zu heben.

Am Ende von Fleschs Zauberstück wird – mit äusserster Willensanstrengung des Sendeleiters – die alte Programmordnung restauriert. Arthur Welti musste in seinem «Napoleon von Oberstrass» (1938) einen deus ex machina zu Hilfe nehmen, um einen drohenden Krieg abzuwenden – der in der Realität wenige Monate später ausbrach. Danach kamen Zauberlösungen ausser Gebrauch. Dürrenmatts verworfener Erstling (1946) endet in der Aporie. Walter Oberer lässt die drängenden Existenzfragen des integrierten Hörers in «Die Brücke» (1952) unbeantwortet. In Max Frischs «Biedermann»-Hörspiel (1953) brennt Seldwyla bis auf die Grundmauern nieder. Und Jörg Schneiders düsteres Kasperlestück für Erwachsene (1974) endet mit der banalen Formel: «Schlussdibus! Fidibus! Exitus!» Salmonys Hörspiel übertrifft diese noch mit der Reduktion auf den einsilbigen Imperativ «cut!» Dies ist das letzte Wort.

Man atmet auf, wenn man realisiert, dass ja «64’40″» nur ein Exempel ist.–


Kommentare

Eine Antwort zu „«Der Sender ist verrückt geworden!»“

  1. Im selben Jahr 2016 wurde ein weiteres selbstreferenzielles Hörspiel produziert, das die Entstehung eines Hörspiels im Hörspiel aus anderer Perspektive satirisch beleuchtet: Michael Stauffers „Du musst gewinnen“. Regie führte Johannes Mayr.

    Dem professionellen Dramaturgen/Regisseur im Spiel fällt die Rolle des Einpeitschers, Intriganten und Verhinderers zu, der den Regie führenden «Dichter Stauffer» zur Verzweiflung treibt. Das ambitiöse Ziel des Radiomannes ist es von Anfang an, mit grossem Budget ein Hörspiel produzieren zu lassen, das Aussicht auf einen „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ haben und seine Karriere fördern soll. Preise und – damit verbunden – internationale Aufmerksamkeit sind die Währung, in der Hörspiele heute zunehmend gehandelt werden. Hörspielmacher Stauffer nimmt seine Arbeit im Studio mit Optimismus auf, wird aber unter der Einwirkung der vernichtenden Kritik immer kleiner. Das Budget wird ihm schliesslich gestrichen, ein letzter improvisierender Versuch mit einer Laien-Sprecherin scheitert. Derweil schafft der Professional überraschend den Karrieresprung in die Direktionsetage und verweist den demoralisierten Stauffer an seine Nachfolgerin.

    Der Feind des Hörspielmachers ist hier nicht das oberste Management wie bei Salmony, sondern sein unmittelbarer Auftraggeber und Mentor im Studio, der den naiven «Dichter» bis zur Selbstaufgabe schikaniert. Das Unternehmen scheitert vordergründig an den Ego-Ambitionen des Medienprofessionals. Dessen letztes Wort ist der Auftrag für einen smarten Pressetext: «Schreib irgendwas von Kino im Kopf… Stauffer, neues Hörspiel… einzigartig… Hörvergnügen… business as usual… und nimm etwas aus stock image fürs Internet… Internet ist ganz wichtig!» Dahinter verbirgt sich der tiefere Grund des Scheiterns.

    Dass Stauffer unter seinem bürgerlichen Namen in Hörspielen auftritt, kennt man auch aus anderen Produktionen. Sein mit dialektalen Brocken durchsetztes Thurgauer Schriftdeutsch bringt O-Ton-Realität ins Studio. Dass er sich hier «Dichter» nennt (wie im Titel seiner Homepage), ist ein gewollt provozierender Verweis auf seine Aussenseiter-Rolle, die er auch als Akteur in der realen Literaturszene anstrebt. Im Hörspiel ist dieses Selbst-Verständnis letztlich die Hauptursache seines Scheiterns. Ein Universalpoet romantischer Abstammung hat keinen Platz als Produzent in einem öffentlich-rechtlichen Medienunternehmen, das sich zunehmend der Logik des weltweiten Infotainment-Marktes unterwirft. Angelpunkt des Hörspiels ist denn auch – ähnlich wie bei Salmony – das Video-Interview eines Social-Media-Managers, der Stauffer zur Weissglut treibt. Die Hörerinnen und Hörer, die auch die Kommentare hinter den Kulissen belauschen, sind in der privilegierten Lage zu durchschauen, was dem Hörspielmacher bis zum kläglichen Ende entgeht: dass er in diesem Setting keine Chance hat.

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