99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich wichtige Produktionen aus der nun hundertjährigen Hörspielgeschichte vorstellen und übergreifende Zusammenhänge klären.

Wer sich weiter in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage Quellenangaben, detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

Das «eigentliche» Hörspiel – und sein Gegenteil

Horoskop in düsterer Zeit

Es mag interessieren, Näheres über das Hörspiel zu erfahren, das als das «eigentliche» bezeichnet wurde, auch wenn es heute nicht mehr aktuell, ja geradezu veraltet zu sein scheint. Dabei geht es um das literarische Worthörspiel, das in den fünfziger Jahren in der Schweiz wie im gesamten deutschen Sprachraum als der für die Gattung repräsentative Typus angesehen wurde. In der Schweiz entwickelte es sich aus denselben Wurzeln wie etwas später das deutsche Nachkriegshörspiel.

Auf die lange Zeit kanonische Aufsatzsammlung «Das Horoskop des Hörspiels» (1930/32) von Richard Kolb (1891-1945) wies Paul Lang unmittelbar nach deren Erscheinen hin. Aus dieser Aufsatz-Sammlung stammt die Devise, das Thema des Hörspiels solle «nicht der Mensch in Bewegung, sondern die Bewegung im Menschen» sein.1 Direkte Einflüsse auf die schweizerische Produktion blieben aber zunächst aus. Lang selbst widmete sein preisgekröntes Pionier-Hörspiel «Nordheld Andrée» (1931) der gescheiterten Ballon-Expedition eines dänischen Polarforschers der Jahrhundertwende. Das mit dem zweiten Preis im Hörspielwettbewerb 1931 ausgezeichnete Stück «Anna II»  von Rudolf Bolo Mäglin rekurrierte auf das Katastrophen-Szenario von «A Comedy of Danger», das erste europäische Hörspiel, das von der BBC London 1924 in Szene gesetzt wurde. Dieses spielte in völliger Dunkelheit in einem Bergwerksschacht, da man meinte, die fehlende Sichtbarkeit motivieren zu müssen. Eine Luftfahrt-Notfall und der damit verbundene Aktivismus war das Thema von Martin Rosts «Stille um L 303» (1934). Arthur Welti debutierte 1932 mit dem historischen Hörbild «Richard Wagner in Zürich» (1933). Auch sein epochales Werk «Napoleon von Oberstrass» (1938) war eine historische Parabel, die das politische Zeitgeschehen gleichnishaft darstellte. Ernst Bringolf, sein Kollege im Berner Studio, nahm sich 1937 in seinem Erstling «Ein Mensch allein» vor, alle dramaturgischen Effekte der Zeit zu erproben, die er bald danach schon als «Regiekünsteleien» disqualifizierte. Seine Inszenierung des «Lukullus»-Hörspiels (1940), mit dem er Brechts Konzept der Verfremdung ins Schweizer Hörspielprogramm einführte, wurde kaum zur Kenntnis genommen, und seine entsprechenden Hinweise auf das epische Hörspiel drangen nicht ans Ohr seiner Kollegen, geschweige denn ins öffentliche Bewusstsein.

Auf Ernst Bringolf gehen auch die ersten theoretischen Impulse zur Verinnerlichung im Worthörspiel zurück, deren praktische Entsprechung – trotz aller dramaturgischen Effekte – im inneren Monolog bzw. Dialog seines Erstlings angelegt war. Was aus dem Bedürfnis nach Abwendung von den Experimenten der Pionierzeit entstanden war, wuchs während der Kriegsjahre unmerklich, in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre mit rasch wachsender Zustimmung der Programmverantwortlichen von Radio Beromünster zu einer Doktrin heran, von der die alternativen Entwürfe Bringolfs wie auch Dürrenmatts erster Hörspielversuch überrollt wurden. Die von Bringolf favorisierte und propagierte Dramaturgie des literarischen Worthörspiels setzte sich nach Kriegsende in den Studios von Radio Beromünster rascher als in Deutschland durch, wo die institutionellen Strukturen erst wieder aufgebaut werden mussten, und sie hielt sich bis anfangs der sechziger Jahre, ohne dass nennenswerte Alternativen formuliert wurden. Im Unterschied zum Gegenentwurf des Neuen Hörspiels in der BRD wurde sie in der Schweiz nie grundsätzlich in Frage gestellt.

Hans Bänninger, Regisseur der ersten Stunde und Vizedirektor von Radio Zürich, bezeichnete 1949 das Wort als den wichtigsten «Träger aller radioechten Dramatik».2 In dieselbe Richtung wies zwei Jahre später Jakob Job, der Zürcher Radiodirektor, mit seiner Auffassung, das Wort müsse im Hörspiel «noch viel eindringlicher, viel wahrer und echter sein, viel überzeugender als das des Bühnendichters».3 Er hielt es für «ein Zentralproblem des Hörspielschaffens» und monierte, die «Einsicht, dass gerade im Hörspiel dem Wort das überragende Primat zufällt», sei «noch lange nicht genügend tief und klar erfasst.» Die Grundsätze der damals geltenden Dramaturgie liessen sich am besten ex negativo aus den Karteien rekonstruieren, in denen sich Hunderte von ausführlichen, mit Akribie erstellten Gutachten über eingegangene Hörspielmanuskripte erhalten haben. Sie sagen mindestens so viel über die normativen Vorstellungen ihrer Verfasser wie über die Qualität der beurteilten Werke aus.

In der Apologie des Worthörspiels der Innerlichkeit zeigt sich, wie tief trotz aller Abgrenzungsbemühungen das Denken von Schweizer Programmschaffenden in dem Geist verwurzelt ist, der im selben Zeitraum auch in der Bundesrepublik die Hörspielproduktion prägte. Es scheint deshalb sinnvoll, die wichtigsten theoretischen Grundlagen kurz zu umreissen mit Fokus auf Richard Kolbs «Horoskop des Hörspiels» und Heinz Schwitzkes darauf basierender Monographie «Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte». Richard Kolb (1891-1945), von dem das oben zitierte, jahrzehntelang gültige «Axiom» des «eigentlichen» Hörspiels stammt, war ein Nationalsozialist der ersten Stunde, und es ist kein Zufall, dass er dem Schweizer Publikum von Paul Lang, einem führenden Frontisten, vorgestellt wurde. Kolb trat schon 1921 der NSDAP bei, war Mitglied der SA und der SS und wurde 1933 von Goebbels als Intendant der «Bayerischen Rundfunk G.m.b.H.» inthronisiert, ein halbes Jahr später allerdings, nach getaner Arbeit, schon wieder suspendiert. Wolfgang Hagen beschreibt seine Bedeutung für die Entwicklung des Hörspiels bis 1968 mit eindringlichen Worten:

«Richard Kolb ist nicht irgendwer, was seine Rolle in der Entstehung, Organisation und Führung des faschistischen Rundfunks in Deutschland betrifft. Nur geht seine Bedeutung sehr viel weiter. Sein „Horoskop des Hörspiels“ hat nicht nur das innerlichkeits-fixierte Hörspielideal des Weimarer Rundfunks begründet, zugleich bereitete seine Arbeit die tiefen Mystizismen des Nazi-Rundfunks und seiner Hörspiele vor, um am Ende, nahezu bruchlos, jahrzehntelang den radiophonen Ästhetizismen des deutschen Nachkriegshörspiel-Booms den Begriff zu liefern.»4

«Tiefe Mystizismen», das esoterische Bekenntnis aus der Feder eines glühenden Nationalsozialisten, dies mag zunächst überraschen. Hagens Beweisführung ist zu komplex für diesen Kontext. Vermutlich liegt er richtig mit der Diagnose, Kolb liefere «eine Kompositionsvorschrift für die radiophone Begleitmusik des kommenden Terrors mit den Mitteln platter Metaphysik.»5 Die nationalsozialistische Weltanschauung hatte tatsächlich pseudoreligiösen Charakter.6 «Herrlichkeit» und «Ewigkeit» passen gut zur hybriden Vorstellung des tausendjährigen «Reichs». Der «Führer» selbst stellte sich gerne als legitimen Vertreter des Allmächtigen dar und steigerte seine Hetztiraden gelegentlich bis zur Anlehnung an Gebetsformeln des Vaterunsers, um mit einem Amen zu schliessen. Höchst erstaunlich ist nur die nahtlose Fortführung der Ideologie in der illusionistischen Dramaturgie des Nachkriegshörspiels – sowie deren nachhaltiger Erfolg.

Auch Heinz Schwitzke (1908-91) trat 1932 der NSDAP bei und wurde noch im selben Jahr zum Leiter der literarischen Abteilung beim Deutschlandsender ernannt, der er sechs Jahre vorstand. Schwitzke geht davon aus, dass die kontrovers geführte Diskussion um das frühe Hörspiel zwischen den Polen der Literatur und des Theaters ausgetragen wurde. Während die Repräsentanten des letzteren auf Breitenwirkung hin tendierten, waren die Vertreter der literarischen Richtung – nach seiner Auffassung – um Form und «Niveau» im Hörspiel bemüht. Erst nach dem Krieg erfolgte die «Entscheidung zugunsten des Hörspiels als literarischer Gattung».7 Nach seiner Zeit als Soldat der Wehrmacht und dreijähriger sowjetischer Gefangenschaft wurde Schwitzke 1951 Leiter der Hörspielabteilung des NWDR (später NDR). Sein Grundlagenwerk «Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte» (1963), dessen Innerlichkeitskult ganz auf Kolbs Theorie basierte, wurde zu einer «Art Bibel aller Hörspiel-Regisseure»8 und prägte die Theorie und Dramaturgie des deutschen Nachkriegshörspiels bis Ende der sechziger Jahre massgeblich. Alles «grob Realistische» schloss Schwitzke mit Kolb als «dem Wesen des Funks» widersprechend aus9, und er verdeutlichte mit Nachdruck: «Realismus und Kollektivismus töten das Hörspiel als literarische Form, noch ehe es geboren ist.»

Von einer Liste von sieben Typen, die unter anderem das «experimentelle Geräuschhörspiel» sowie das «Pionier-Hörspiel» umfasst, dem etwa Langs «Nordheld Andrée» zuzuordnen ist, lässt Schwitzke nur das «eigentliche Hörspiel» als vollwertigen Vertreter der Gattung gelten.10 Von diesem Ideal abweichende Typen, etwa das «realistische Problemhörspiel», das «unterhaltende Hörspiel», das «satirische und politische Hörspiel», ja sogar das Feature, werden gleichwohl ausführlich behandelt, doch strebt das Buch in seiner Zielsetzung, den Typus des «eigentlichen Hörspiels», unter anderem durch Kontrastierung, zu bestimmen, eine deutliche Verengung des Hörspielbegriffs an. Gegenstand dieses «eigentlichen», des literarischen Worthörspiels soll nach der berühmten Bestimmung von Kolb «nicht der Mensch in Bewegung, sondern die Bewegung im Menschen» sein. Dem entsprechen als «Bühne des Hörspiels» die «empfangsbereite und reaktionsfähige Phantasie, Herz und Gefühl des Hörers»: «Die Akteure sind mitten im Zuhörer. Oder man kann mit gleichem Recht formulieren: der Zuhörer befindet sich mitten unter den imaginären Akteuren. Die “Bühne“ fällt mit dem “Zuschauerraum“, mit der Stelle, an der innerlich geschaut und erlebt wird, zusammen.»11 Dass damit beiläufig altgediente Kategorien des Theaters als Metaphern bemüht werden, schien niemanden zu stören. Das Produkt eines solchen «imaginativen Hören[s]» bildet «eine eigene innerliche Wirklichkeit und eine neue innerliche “Perspektive“». Als «Meister, der davon zuerst etwas ahnte», nennt Schwitzke Eduard Reinacher, als Vollender der Form Günter Eich, bezeichnenderweise beides Lyriker.12 Kunst und Technik gehen nach dieser Auffassung nur zum Schein eine Synthese ein, wie sie Hans Flesch und sicher auch Friedrich Walter Bischoff vorgeschwebt hatte: «Wie im Hörspiel alles Wort ist, so ist eben auch alles Technik», schreibt Schwitzke. Doch schliesst er nahtlos an, wie diese Relation zu werten sei: «Es handelt sich um die Inthronisierung des gesprochenen Worts mit allen Hilfsmitteln elektroakustischer Eindimensionalität.»13

Im Geleitwort einer Sonderpublikation über das Schweizer Radio aus dem Jahr 1945 feierte der Herausgeber das Radio als Medium zur Verbreitung des Wortes, dem er religiöse Wirkungskraft zutraute: «Das Wort zeichnet den Menschen aus zum Menschen. Es ist nicht ohne ihn. Im Wort ist er Gottes ausgezeichnetes Geschöpf. Und in ihm ist er verflucht. Das Wort ist sinnliches Zeichen der Freiheit, und im Wort begegnet uns Gnade.»14 Dies passt hervorragend zum Sendungsbewusstsein des Radios in der Nachkriegsära. Der Schweizer Dramatiker und Theaterwissenschaftler Oskar Eberle vertrat 1952 in einem vielbeachteten Vortrag zum Thema «Schauspiele und Hörspiele der Urvölker»15 die Ansicht, das Hörspiel könne auf akustisch-mimische sakrale Darbietungen zurückgeführt werden und sei also «keine Erfindung des Radios, sondern des Gottesglaubens der Urmenschheit». In seinem umfangreichen, ethnologisch fundierten Werk über das «Urtheater» kam er zum Schluss, dass «die älteste Form des religiösen Theaters […] nicht das Schauspiel, sondern das Hörspiel» sei, in welchem der als unsichtbar vorgestellte Gott «nicht verkörpert, sondern verlautbart wird.»16 Nach Eberles Auffassung ahmte zwar die «akustische Maske» in erster Linie Geräusche und Klänge der Natur nach und bediente sich erst in zweiter Linie der menschlichen Sprache17, doch konnte sein Ansatz immerhin die Apologeten des literarischen Worthörspiels in ihrer Tendenz bestärken, dieses mit einer quasi-religiösen Aura zu versehen. «Jedes Wort ist ein Wort der Beschwörung. Welcher Geist ruft – ein solcher erscheint.» Dass 1958 Kurt Weibel, Redaktor der Radio-Zeitung, dieses Novalis-Fragment zitierte, um das «Wunder sprachlicher Schöpferkraft»18 in Wortsendungen und insbesondere im Hörspiel zu feiern, scheint nur folgerichtig.

Georg Thürer stellte 1961 etwas nüchterner fest, dass das Schweizervolk «eher auf das Schauen als auf das Hören eingestellt sei», und riet deshalb dem Schriftsteller, «im Hörspiel an innerer Anschauung wettzumachen, was dieser Kunstform eben an äusserer Anschauung abgeht.»19 Der Deutung von Eberles Ausführungen wies er eine neue Richtung: Das «Magische des Nichtgesehenen, Nurgehörten», das «Unkörperliche» führt nicht nur zur Vergeistigung, sondern kann auch geisterhafte, gespenstige Wirkungen zeitigen. Er mag dabei an die sehr erfolgreiche Serie von «unheimlichen und unerklärlichen Geschichten» gedacht haben, die damals seit einigen Jahren unter dem Titel «Verzell du das em Fährima» ausgestrahlt wurden. Allerdings traute Thürer dem «magischen Hörspiel» keinen grossen Erfolg beim Schweizer Publikum zu, das er für eher nüchtern und rational hielt.

«Beim Hörspiel befindet sich der Zuhörer direkt unter den Akteuren», erläuterte Albert Rösler 1961 in genauer Entsprechung zu Schwitzkes Formulierung, und er bedient sich derselben metaphorischen Terminologie, indem er die Theorie der «inneren Bühne» mit den Worten umschrieb: «Die Schauspieler sind mitten im Zuhörer. Die Bühne des Hörspiels fällt also mit dem Zuschauerraum zusammen, mit der Stelle, wo erlebt und “geschaut“ wird, nämlich da, wo die Phantasie des Hörers durch die Bilder heraufbeschwörende Kraft des Wortes zur innersten Teilnahme veranlasst wird.»20 Solche Verinnerlichung ist eng verknüpft mit der Forderung nach Identifikation. Nur wer sich mit den Hauptfiguren identifiziert, kann sich der Illusion hingeben, am Spiel teilzuhaben, mitten auf der «inneren Bühne» zu stehen. Der Wegfall der Rampe schien alle Distanz zwischen dem Rezipienten und dem Spielgeschehen von vornherein aufzuheben. Die teilweise wörtlichen Entsprechungen zeigen, wie abhängig die schweizerische Dramaturgie trotz gegenteiliger Beteuerungen von ausländischen Tendenzen war. Röslers Bestimmung des Worthörspiels – schon anfangs der fünfziger Jahre keineswegs die einzig mögliche, wie etwa die Analyse des Hörspielschaffens von Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch zeigt – kam den Bedürfnissen der Programmverantwortlichen von Radio Beromünster in idealer Weise entgegen, deren oberstes Ziel seit der Radiokrise 1945 in der möglichst weit gehenden Identifikation der Hörerinnen und Hörer mit dem Programm bestand.

«Nichts wird vom Hörer mehr geschätzt als die Möglichkeit, sich mit Geschehnissen und Schicksalen selber identifizieren zu können», heisst es in einem Jahresbericht im Hinblick auf die erfolgreiche Fortsetzung der berndeutschen Hörspielreihe «Familie Läderach». Und weiter: «Das wurde hier mit sorgfältiger Anpassung an die Lebensumstände des helvetischen Alltags versucht – offenbar erneut mit beträchtlicher Breitenwirkung.»21 Kurt Guggenheim, der Autor, gestand, dass er den Hörern nur vermittle, «was mancher von ihnen schon erlebt hat oder hätte erleben können.»22 Die Identifikation gipfelte hier, wie Guggenheim berichtete, in der Illusion mancher Zuhörenden, dass die Familie Läderach tatsächlich existiere. Solche Effekte entsprachen auch insofern der von höchster Stelle verordneten Aktualisierung der Programme, als sie am leichtesten durch Stoffe zu erzielen waren, die der Alltagswirklichkeit der Gegenwart zu entsprechen schienen. Im Falle Guggenheims und wohl der meisten massgeblichen Exponenten des Radios war dies aber ein rückwärtsgewandtes Gegenwartsverständnis, das nach wie vor auf den Prinzipien der Geistigen Landesverteidigung basierte und seine Hauptaufgabe in der Abwehr von fremden Einflüssen aller Art sah. Diese während der fünfziger Jahre dominierende Haltung, die Guggenheim 1961 in seiner Rede «Heimat oder Domizil? Die Stellung des deutschschweizerischen Schriftstellers in der Gegenwart» auf den Punkt brachte, traf in den sechziger Jahren zunehmend auf öffentlichen Widerspruch und führte zu einem Konflikt zwischen Literaturwissenschaftlern, Schriftstellern und Kritikern, der sich 1966 im Zürcher Literaturstreit entlud.23 Wie das Beispiel von Guggenheims Mundarthörspielreihe zeigt, hatte die gesellschaftspolitisch bedeutsame Norm der Identifikation und Verinnerlichung nicht nur für das hochdeutsche Worthörspiel mit literarischem Anspruch, sondern auch für das Dialekthörspiel, insbesondere für die zahlreichen, äusserst populären Serien, Gültigkeit und bestimmte somit den überwiegenden Teil des Hörspielschaffens der Nachkriegsperiode bis 1965.

Das Hörspielwerk von Walter Oberer als Paradigma

Als Paradigma für das literarische Hörspiel im Beromünster-Programm der fünf­ziger und sechziger Jahre soll das Hörspielwerk von Walter Oberer (1911-2001) im Überblick dargestellt werden. Da von den etwa vierzig entsprechenden Werken, die er nach eigenen Angaben geschrieben hat24, nur gut ein Drittel von schweize­rischen Studios inszeniert wurde, können diese als Bindeglied zum literari­schen Hörspiel­schaffen im deutschsprachigen Ausland gesehen werden. In einer Erhebung von Ger­hard Prager wird Oberer als einer der drei Autoren genannt, von denen die insgesamt dreissig in der BRD gesendeten Schweizer Hörspiele der Jahre 1955/56 stammen.25 Folgende Werke von Oberer wurden von Radio Bero­münster/DRS produ­ziert und gesendet: «Die Brücke. Hörspiel in drei Teilen und drei Zwischen­spielen» (1952); «Phan­tastische Fahrt. Hörnovelle» (1953); «Zwischen Ginster und Thymian» (1954); «Karl Kunz sucht Julia. Ein bürgerliches Mosaik» (1954); «Meret und Andreas» (1956); «Der Feind des Prä­sidenten» (1956); «Zwischenfall in San Mondo» (1957); «Tornado» (1957); «Der Mondfuchs» (1958); «Das Geständ­nis der Sabine Kruschka» (1963); «Die drei Tage des Herrn Speck. Ein unzeitge­mässes Intermezzo» (1965); «Verlass’ dei­nen Garten nicht. Ein tra­gisches Capriccio» (1967; verfügbar auf play SRF). Nach seiner Pensio­nierung als langjähriger Direktor des Berner Stadtthea­ters hat Oberer sich dem Hörspiel von Neuem zugewandt und dem Hessischen Rundfunk ein Manuskript eingereicht, das vom Dramaturgen mit den freund­schaftlichen Worten retourniert wurde: «Lieber Walter, Dein Hörspiel ist sehr gut, aber Deine Zeit ist vorbei.»26 Sein Spätwerk «Traviata 90» (1990), das trotzdem Aufnahme bei Radio DRS fand, kann als Verkör­perung des Un­zeitge­mässen be­trachtet werden, das als Kategorie für Oberers Hörspiele seit jeher bestim­mend war. Acht Monate nach der Ursendung wurde die Bühnenversion am Städtebundtheater Biel-Solothurn uraufgeführt.

Illustration zu Walter Oberers Hörspiel "Zwischenfall in San Mondo" (1957)

Walter Oberer: Zwischenfall in San Mondo (1957)

«Ein Mann und zwei Frauen. Die immer wiederkehrende Geschichte, wie sie auch in diesem Sommer, an jedem Tag, an jedem Kurort, geschehen wird. Diesmal ist es San Mondo. Was aber das Spiel von Walter Oberer auszeichnet, ist die sichere Gestaltung des Drohenden das bis zum Schluss über den Gestalten schwebt. Und der Schluss? Er wird den Hörer nachdenklich zurücklassen und eben darin liegen Sinn und Wert des Stücks.»

(Illustration: Solange Moser; Quelle: SRZ 20/57, 23.5.1957, S.15)

Das erste von Radio Beromünster produzierte Hörspiel von Walter Oberer, «Die Brücke», weist im Hinblick auf seinen ideellen Gehalt voraus auf die nachfol­genden Werke des Autors. In Bezug auf Stoff und Form unter­scheidet es sich noch deutlich von diesen. Hingegen springt eine bedeutsame struk­turelle Ähn­lich­keit mit Dürrenmatts erfolglosem Erstling «Der Doppelgänger» und auch mit Max Frischs «Biedermann»-Hörspiel ins Auge. Wie diese beiden Werke entwickelt sich Oberers Hörspiel auf zwei Ebenen: Die eigent­liche Handlung, die als «Stück» (S.13) bezeichnet und in der Art eines klassischen Dramas in drei «Akte» (S.27) unterteilt ist, wird getragen von einer ersten Ebene, auf welcher der Verfasser, der amerika­nische «Dichter» Oliver Glyne, und sein Freund Littelton, ein Journalist aus New York, im Studio über Entstehung und Gehalt des Stückes diskutieren und schliesslich wegen der Unvereinbarkeit ihrer Ansichten über den Zu­stand der Welt in Streit geraten. Zu ihnen stösst im abschliessen­den Ge­spräch­ überraschend der Radiohörer Harald Breaken. In allen drei Gesprä­chen der ersten Ebene meldet sich ferner der flügellahme «Engel 1952» zu Wort, der von Glyne als «eine Art allgemeines Gewissen» (S.1) bezeichnet wird. Der epische Charakter des Spiels, der in der Wechselwir­kung zwischen repräsen­tativer Spielebene und präsen­tativer Kommentarebene angelegt ist, wird vom Dichter Glyne betont, indem er sich für die Unter­brechungen ent­schuldigt und auf das Verständnis der Zuhörenden hofft, wenn er «in der Hitze der Diskussion Dinge vorausnehme, die der dramati­schen Spannung zuliebe am Schluss gesagt sein müssten.» (S.1)

Oberers Hörspiel unterscheidet sich von der Anlage von Dürrenmatts und Frischs Erstlingen im Hinblick auf die inhaltliche Trennung der beiden Ebenen. Wäh­rend der Zuhörer bei Dürrenmatt Zeuge der Entstehung eines Parabelspiels ist und in Frischs Hörspiel vom Ver­fasser mit Biedermann, dem Urheber der Brand­katastrophe von Seldwyla, post festum «persönlich» be­kannt­gemacht und mit ins Spiel hineingezogen wird, präsen­tiert Oberers Dich­ter eine längst ver­gangene Epi­sode, die sich im Sommer 1940 im besetz­ten Frankreich zugetragen hat. Diese dient als historisches Exem­pel, des­sen Faktizität durch Einfügung einer Zwi­schenebene noch unterstri­chen wird: Den Abschluss der ersten beiden Gespräche bilden quasi-dokumentari­sche Meldungen von Londoner und Pariser Nachrich­tenagenturen über die erste Plenarversamm­lung der UNO und über die Vierer­konferenz der Sieger­mächte im Jahr 1946, die sozusagen den mittleren Pfei­ler der symbolischen Brücke zwischen dem Kriegs­geschehen und der gegen­wärtigen Situation von 1952 bil­den. Die unvermittelte Einschie­bung solcher Text­fragmente nimmt die Form der Montage vor­weg, die durch das Neue Hörspiel spä­ter zum Prinzip erhoben wird. Oberers Fallbeispiel aus dem Krieg erhebt also weit weniger Anspruch auf Allge­meingültigkeit als die Para­beln von Frisch und Dürrenmatt. Es dient, nebst den erwähnten Pressemel­dungen, als Anlass und Gegenstand des Studiogesprächs zwischen Autor und Kritiker, wo­durch diese erste Ebene an Bedeutung gewinnt. Im Unterschied zu Dürren­matt ist das Stück bereits ge­schrieben und wird im Moment vorge­führt und kommen­tiert. Die Personen der Spielebene agieren völlig unab­hängig, ohne dass die Dis­kutie­renden Einfluss auf ihr Verhalten hätten oder gar die Ebene wechseln könnten. Neu ist in Oberers Hörspiel, dass «der Hörer» nicht bloss ange­sprochen wird, sondern, vertreten durch die Figur Breakens, ausführ­lich zu Wort kommt. Sein Hauptan­liegen äussert sich in den Worten:

«Wissen Sie, ich möchte fragen, warum Sie uns keine Lösung, etwas Positives geben. In diesen Zeiten muss man doch einen Halt haben. Einfache Leute wie ich es bin brauchen einen Halt.» (S.40)

Die Antwort des Dichters fällt nicht minder programmatisch aus. Sie scheint sich eng an eine Passage aus Max Frischs «Tagebuch 1945-1949» anzulehnen, die ihrerseits auf eine Äusserung Ibsens zurückgreift27:

«Den “Halt“ wie Sie es nennen, müssen wir uns wohl selbst geben. Und meine Aufgabe war es nur die Fragen so zu stellen, dass wir keine Ruhe mehr haben, bis wir selbst eine Antwort gefunden.» (ib.)

Drückt sich in der direkten Anrede «des Hörers», in dessen Auftreten als Figur und in den angebotenen Interpretationshilfen deutlich der «Wille zur Kommu­nikation mit dem Hörer» und «zur Übermittlung einer fassbaren Botschaft» aus, den Burghard Dedner im Anschluss an Schwitzke als «eines der auf­fälligsten Merkmale der deutschen Hörspiel­dichtung in den fünfziger Jahren» erkennt28, so werden andererseits die Zuhörenden durch die zitierte Reaktion Glynes am Ende auf sich selbst verwiesen und ihrer Unsicherheit überlas­sen. Würffel sieht im Bestreben, den Hörer «in eine Ent­scheidungs­situation zu versetzen», ihn zum Richter zu machen, wie es im offenen Schluss von Eichs Hörspiel «Die gekaufte Prüfung» von 1949/50 präformiert ist, einen Grund­zug der Eichschen Hörspiel­dichtung.29 Durch den Dichter in Oberers Hör­spiel «Die Brücke» wird die Ab­sicht, die Zuhörenden zu verunsi­chern, sogar expli­zit formuliert. Ein Gegengewicht dazu bildet das ausführ­liche Schluss­wort des Engels, das Antwort auf die beunru­higenden Fragen gibt. In eini­gen seiner späteren Hörspiele hat Oberer den Schluss offener gestaltet. «Der Feind des Präsidenten» endet mit dem Vorsatz des Präsi­denten, seine Rede an den Weltkongress aufgrund seiner Traumerlebnisse umzuschreiben, und in «Tornado», dessen Rahmen im Prozess gegen die Hauptfigur besteht, zieht sich das Gericht am Schluss zur Beratung zurück – wie in der Urfassung von Brechts «Lukullus» .

Im Typoskript des nächsten von einem Schweizer Studio produzierten Hör­spiels «Phantastische Fahrt» fällt auf, dass die einzige Stelle, in der die Zuhörenden angesprochen werden, ge­strichen ist.30 Der wesentlich einfa­chere Aufbau lässt erkennen, dass sich Oberers hörspieldramaturgische Vor­stel­lungen inzwischen geklärt haben. Die Bezeich­nung «Funknovelle» im Untertitel deutet auf eine starke epische Kompo­nente hin, doch ist diese wie in allen folgenden Hörspie­len des Autors weitgehend ins Spiel inte­griert, indem die Hauptfigur sowohl als handelnde Person wie auch als Erzähler auftritt. Nur der Rückblick auf deren Leben im Nachspiel durch die Stimmen eines Erzählers, eines Pfarrers und eines Radioreporters wirkt der Illusion einer traumartigen Realität, die sich während der Zugsfahrt aufgebaut hat, entgegen. In diesem unerwarteten Bruch zeigen sich noch Nachwirkungen der früheren Konzeption eines Spiels auf zwei Ebenen, die als episch im Sinne von Brechts Dramaturgie bezeichnet werden kann. Im Hauptteil der «Phantasti­schen Fahrt», der auf den Bau der folgenden Hörspiele von Oberer vorausweist, ist an die Stelle der stark gebro­chenen, montage­artigen Struktur der weniger auf­fällige Wechsel zwischen dramatischen und epischen Passagen getreten. Als starke Klammer zwischen diesen heterogenen Teilen wirkt vor allem die Identi­tät der sowohl präsentie­renden wie reprä­sen­tierenden Haupt­figur. Dieser Kunstgriff bedeutet zugleich einen Schritt in Richtung auf einen neuen Umgang mit der Zeit: Bildete die Spielhandlung in «Die Brücke» noch ein gleichförmiges Kontinuum, so wer­den nun die dra­matischen Passagen durch Erzähl­teile ergänzt, in denen die­selbe Handlung aus der Retro­spektive beleuchtet wird. Darin zeigen sich Ansätze zur Auf­lösung der Chrono­logie, in der Schwitzke ein konsti­tutives Merkmal des literarischen Worthör­spiels sieht, die allerdings bei anderen Autoren viel weiter geht.31 Dies gilt auch für den Typus des «objektiv epischen Hör­spiels», der etwa durch die spätere Arbeit «Verlass‘ deinen Garten nicht» repräsentiert wird.

Oberer: «Verlass‘ deinen Garten nicht»

Der Abschwächung der direkten Kommuni­kation mit den Zuhörenden, die mit der auf­ge­zeigten Entwicklung verbunden ist, ent­spricht also die Zurück­nahme verfrem­dender Ele­mente. «Phantastische Fahrt» wird von Armin P. Frank nicht als «Hör­spiel der subjektiven Epik» bestimmt, obwohl dies in Anbe­tracht der Identi­tät von Erzähler und Hauptfigur zu rechtfertigen wäre, sondern gilt ihm als «Spiel der poetischen Realität», in dem durch Ver­fremdung «eine anfänglich als im empi­rischen Sinne real dar­gestellte Situa­tion unter Beibehaltung ihres Wirk­lich­keitswer­tes auf eine symbolische oder allegorische Ebene verschoben wird.»32 Diese Konzeption des gleitenden Übergangs in eine phantastische Rea­lität weist die Richtung, in der sich Oberers Hörspiele wie viele andere literarische Worthörspiele der fünfziger Jahre bewegen: Sie bieten dem Hörer die Illusion eines in seinem Innern sich vollziehenden Geschehens, an dem er umittelbar teilhat, mit dessen Protagonisten er sich identifi­zieren kann.

Das Reich der Phanta­sie, das Oberer als alleinige Quelle seiner Hörspiele be­zeichnet33, ist das Ziel des Prozesses, der in vielfacher Form für all seine Radioarbeiten bestimmend ist. Den Ausgangspunkt aber stellen die Zeitumstände der Gegen­wart dar, die allerdings nur soweit konkretisiert werden, dass sie ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht verlieren. In «Die Brücke» sind es Deutsche, Franzosen und Amerikaner, die durch ihr unter­schiedliches Verhältnis zum Kriegsgeschehen die Spannweite der Proble­matik markieren. Vom Radiohörer Breaken wird im Personenverzeichnis gesagt, er sei «ein einfacher Mann, der ebensogut in Amerika wie in Europa wohnen kann.» «Meret und Andreas» spielt in «irgendeine[r] der vielen Städte Europas», «Tornado» auf einer Farm und im Gerichtssaal eines Städtchens irgendwo in den USA und «Verlass‘ deinen Garten nicht» in einer fiktiven Ortschaft sowie auf einem Schloss in Südfrankreich. Die Schweiz hingegen kommt in Oberers Hörspielen nicht vor. Den wahren Ort des Geschehens aller seiner Werke bezeichnet der Ortsname «San Mondo»: Das Hörspiel erscheint von hier aus gesehen als modernes Welttheater. Auch im Namen Albert Tramonds verbirgt sich die intendierte Universalität des Spiels. Am Anfang erlebt man ihn als erfolgreichen Ingenieur, der an der Entwicklung eines Über­schall­flugzeuges arbeitet, während eines Interviews mit einem Zeitungs­reporter. Über die Köpfen der beiden hinweg brausen Düsenjäger als akustisches Zeichen des Fort­schritts, das auch in späteren Hörspielen wieder­kehrt. «Die Distan­zen ausgewischt. Herr­lich. Wir haben die Zeit ins Wan­ken gebracht. Herrlich?» bemerkt Tramond, und darin klingt Wagners Opti­mismus in Goethes «Faust» an: «Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht». Im Düsenjäger konkretisiert sich wohl Fausts sarkastische Replik: «O ja, bis an die Sterne weit!»

Im Oktober 1959 wurde im Mittelwellenprogramm von Radio Beromünster eine fünfteilige Sendereihe mit dem Titel «Angst. Ein Problem unserer Zeit» aus­gestrahlt, deren einzelne Folgen auf Umfragen in Berlin (Th.Koch), Paris (H.O.Staub), New York (H.Gaut­schy), London (Th.Haller) und Zürich (J.P.Ger­wig) basierten. Felice Vitali nennt in seinem Artikel in der Radiozeitung Ursachen dieser Daseinsangst, welche die Fünfzigerjahre als Zeitgefühl zu bestimmen scheint: «Wasserstoffbomben, Langstreckenra­keten, Weltraum­schiffe – die Welt ist für den Laien zu einem Vulkan der Angst geworden. Unsere politische Sicher­heit hängt am dünnen Faden des Respektes, den der Kreml vor amerikani­schen Vergeltungsschlägen hat.»34 In Oberers Hörspie­len ist die Angst eine thematische Konstante, die als Unwohlsein oder innere Unruhe den Ausgangs­punkt einer Art phantastischer Reise bil­den kann und den Reisenden unterwegs in intensivierter Form einholt. Tramonds diffuse Daseinsangst wird zunächst vom Bericht eines Militärat­tachés ge­nährt, der überzeugt ist, «dass die Frage des Kriegsaus­bruches in den nächsten drei Monaten entschieden wird». (S.20) Zum Alptraum entwickelt sich die Begegnung mit einer Figur, die im Personen­verzeichnis als «eine allgemein bekannte Zeiterscheinung» charakterisiert ist. In ihr vereini­gen sich wirtschaftliche Macht und totalitäre Politik zu der zerstöreri­schen Dynamik, die Europa und die Welt in zwei Kriege gestürzt hat. In einer Montage von Telefonstimmen in «Der Feind des Präsi­denten» wer­den die Frage nach der Angst, die Kunde vom «Ab­wurf einer Atombombe bei Bikini auf das Atoll Namu» und die Vorstellung einer Sintflut nebeneinan­der ge­stellt. (S.19) Die Frage: «[…] wann wird es sein? Wann?» beantwortet der Dich­ter Antonio mit der aktuellen Jahreszahl: «Eintausendneun­hundert­sechsund­fünf­zig», die er zweimal wiederholt. In einer Ansprache an seine Minister sagt der Präsident: «Ihre Tüchtigkeit ist erschreckend. Sie haben mein Reich zu einer wirtschaftlichen Blüte gebracht, die die Sonne zu ver­fin­stern droht. Die Wissenschaft hebt die Erde aus den Angeln und ver­schiebt die Fixsterne.» (S.40) Die existentielle Dimension dieses Zeitge­fühls äus­sert sich in der Angst einer Figur, auf einer dünnen Eisschicht einzu­brechen (S.17), oder in der Bemerkung einer anderen Figur in «Meret und Andreas»: «Die Zeit ist bodenlos, Meret… […] Und so ist jeder da­für besorgt, sich für seinen eigenen Teil etwas zu bauen, das zwar künst­lich, aber doch wie ein Boden aussieht.» (S.49) Solche Bilder erinnern sehr an Eichs «Träume», insbeson­dere an den fünften Traum, der darstellt, wie die Welt und die Men­schen von Termiten ausgehöhlt werden. Wie Eich geht auch Oberer von konkre­ten, aktuel­len Ängsten aus, um diese zu erwei­tern zur «Angst die das Leben meint»35 und damit ein Modell anzubie­ten, «in dem jedes individuelle Schick­sal mit dem Schicksal aller verschmelzen konnte.»36

Die Zweifel des Aviatik-Ingenieurs Tramond am Sinn seiner technischen Errungenschaf­ten machen sich physisch in einem Unwohlsein bemerkbar, das ihn zu einer Rast am Bahnhof veranlasst, wo ein älterer Eisenbahner an ihm vorbei­geht.

«Und da “begann“ etwas in mir. Etwas begann… Es war, als befände ich mich in einem leeren Zimmer und von der Decke bröselte der Gips. Ich hörte schärfer hin: Das Bröseln war ein Uhrenticken. Die Zeit bröselte herab, unaufhörlich. Ich hörte alle Uhren der Welt ticken. Da wusste ich, dass es Zeit für mich war. – Ich stand auf und folgte dem alten Mann.» (S.3 f)

Indem er den letzten Wagen eines zufällig anhaltenden Zuges besteigt, verlässt er den Boden der empirischen Realität und tritt eine Reise an, während der Wirkliches und Phantastisches ineinanderfliessen, ohne dass er von der veränderten Situation Notiz zu nehmen scheint. Den Zuhörenden wird der Übergang in eine poetische Realität aufgrund der Gesprä­che be­wusst, die Tramond auf seinem Weg nach vorne zur Lokomotive mit einzel­nen Fahrgästen führt. Traumartig wirkt schon die erste Begegnung mit dem Bremser, der das Ziel von Tra­monds Reise auf der Fahrkarte in dessen Augen abliest. Der Brief, den er bei einem Stell­dichein mit seiner Geliebten auf eine weisse Abend­wolke geschrieben hat, ist, wie er von einer Passagierin erfährt, beim Lokomotiv­führer angekommen. Wieviel Zeit seit Beginn der Fahrt verstri­chen ist, kann ihm der Schaffner nicht sagen: «Vier Stunden oder vier Tage. Der Fahrplan ist nur für Menschen, die die Zeit nicht verstehen.» (S.16) Die Begegnungen nehmen, wie oben gezeigt, mitunter alptraumartige Züge an. Als Tramond beim Halt an der «grossen Kreuzung» den vordersten Wagen verlässt und zur Spitze des Zuges eilt, scheint ihm dies wie Schritte «auf den Ufersteinen des Acheron» zu tönen (S.37). Der Lokführer sieht sich als Personifikation der Zeit: «Alles ist auf der Flucht. […] Und so hat keiner Zeit für den andern. Dann denke ich, dass ich die Zeit bin. Ihre Zeit bin. Dass ich ihnen die Zeit nehmen kann.» (S.40) Tramond bleibt schliesslich am Bahndamm zurück als einer, den die Zeit überholt und da hin geworfen hat, wo er jetzt ist. (S.42) Beim Rückmarsch auf dem Geleise wird er von einem Zug überfahren.

Tramond, dessen Weg, wie sein Name andeutet, durch die Welt und über sie hinaus führt, scheitert also äusserlich gesehen. Ob seine Fahrt ins Inne­re, das diese Welt meint, als Flucht aus seiner Zeit oder als Ver­such zur Selbst­verwirklichung gewertet werden soll, bleibt in der Schwebe. Das lässt auch der Konfirmations­spruch offen, der ihm in höchster Not in den Sinn kommt: «Und Gott strafte die Verlorenen nicht, die in der Wüste nach ihm riefen. Nach sieben Tagen sandte er einen Engel aus. Der brachte ihnen Lab­sal. Das stärkte sie, machte sie sehend und sie fanden wieder das Feuer ihres Herdes, das sie verlassen.» (S.43)

Die Zentralmotive der Brücke, der Reise, des Prozesses in Oberers Hörspielen haben immer auch eine reli­giöse Bedeutung. Besonders greifbar wird dies am Ende von «Tornado», wo der Angeklagte Bren­nan Gott anruft und ihn fragt: «Hast Du mich das Un­heil anrichten lassen, damit ich Dich suche? […] Sind das die Wege, die zu Dir führen?» (S.44) Der Engel, der in der «Brücke» als allegorische Figur eine wichtige Rolle spielt, taucht in den meisten Hörspielen in ent­scheidenden Situation auf, sei es als Gedankenmotiv, sei es versteckt in einer der Figuren. Der Held im späten Hörspiel «Verlass‘ deinen Garten nicht» verspürt am Schluss eine Unruhe, «in deren innerstem Kern ein klei­ner Kompass befestigt ist, der anzeigt, in welcher Richtung man zu gehen hat.» (S.43) Dieser Richtung fol­gend, tritt er auf die Strasse: «Mit einem würgenden Glücksgefühl im Hals. Keiner Sprache mächtig. Als verschlössen tausend Engel seinen Mund. Als höbe ihn eine Musik, die er noch nie gehört, empor.» In diesem Moment wird er vom Vorderrad eines Lieferwagens erfasst und getötet.

Nicht immer scheitert der Held. Im Spiel «Der Feind des Präsidenten» ver­bindet ihm der Dichter Antonio die Augen mit einer schwarzen Binde. Auf der Reise durch sein Land lernt der Präsident nicht nur das Denken der Menschen von Grund auf kennen, sondern er regrediert mit der ganzen Schöp­fung «bis dorthin, wo alles anfängt.» (S.20) Die Ode des Dichters, der ihn als Mentor begleitet, verweist die hybride Menschheit auf «den Rat der warnenden Götter». (S.23) Der höchste Punkt des Reiches heisst «El dechmah», was «Gehe in dich!» bedeutet. (S.28) Als der Staatsmann am Schluss erwacht und erkennt, dass er alles geträumt hat, beschliesst er, das Erlebte in die politische Praxis umzusetzen. Den Anstoss dazu gibt ihm sein Gärtner, der seine schönste Rose «Madame L’Espoir» getauft hat. (S.46) Dieses Hörspiel, in dem der Übergang zwischen empirischer und phan­tasti­scher Realität nicht mehr fliessend gestaltet, sondern durch das Erwachen fassbar gemacht wird, entstand zu einer Zeit, da in der Bundesrepublik «Eichs besondere Form des Traumspiels zahlreiche Epigonen auf­rief und die Hörspielstudios zeitweilig in akusti­sche Traumlabors verwan­del­te»37. In diesem Fall zeigt sich am deutlichsten eine Schwäche, die letztlich allen Oberer-Hörspielen eignet, die aber meist durch den Tod des Helden verdeckt wird. Die Figur des Dichters Antonio, der als Führer durch die erschreckende Innenwelt der Hauptfigur auftritt, er­weist sich als Projektion des Hörspielautors. Auch dieser versteht sich als Zeigen­der, der die Zuhörenden emotional erschüttern und zu höherem Sein erwecken will. Vor­aussetzung dafür ist die Identifikation mit dem Helden.38 Die Traumreise ins Innere konfrontiert wohl den Helden wie die Zuhörenden mit aktuellen Problemen des Kollektivs, aber sie erspart ihnen, wie Würffel kritisch ein­wendet39, die Analyse von deren historisch-politischen Ursachen. Die Um­setzung der Lösung, die der Gärtner dem Präsidenten anbietet, bleibt das Hörspiel bezeichnenderweise schuldig. Sie besteht im Rückzug in den epikureischen Garten als einer Art äusserer Innenwelt, in Kontemplation und – im Unterschied zur Lehre des Epikur – in die Gewissheit des Glaubens. Das war schon die Lösung des Hörers Breaken, des einfachen Mannes im Hörspiel «Die Brücke», und dazu treibt es auch Jean Timide nach seinem Abenteuer zurück, für dessen Verhalten der Titel «Verlass‘ dei­nen Garten nicht» programmatische Bedeutung hat. In der «In­dividualisierung gesellschaft­licher Problematik»40 zeigt sich die zentrale Schwachstelle, die Oberers Radiowerk mit einem grossen Teil der literari­schen Worthörspiele der fünfziger Jahre verbindet.

Walter Oberer (1911-2001)

«Mich hat es eigentlich immer am heftigsten zu den Dingen hingezogen, die nicht augenfällig in der Mitte einer gerade brennenden Aktualität liegen und doch, vielleicht gerade durch ihre Besonderheit, einen Bezug zu ihr haben», schreibt Oberer in einem Kommentar zum Hörspiel «Verlass‘ deinen Garten nicht».41 Das vorhergehende Werk «Die drei Tage des Herrn Speck» nennt sich im Untertitel «Ein unzeitgemässes Intermezzo» und gestaltet die Begegnung eines Mannes und einer Frau, die «in der vibrierenden Ahnung gros­ser Glücksmöglichkeiten» verharren, «ohne sie auszunützen. Die Möglich­keit, dass der Nachgeschmack des Genusses bitter sein könnte, wird dem Ver­zicht untergeordnet.»42 Das entspricht der Askese des Jean Timide, dem Rück­zug in den eigenen Garten und dem Verzicht auf die Erfüllung der gros­sen Sehnsucht aus Furcht, vor den Anforderungen des Unbekannten nicht be­stehen zu können. Zu grosser Tragik gereicht es Oberers Helden deshalb nicht: Timides Unfall ist ein «tragisches Capric­cio», da er ja im schön­sten Augen­blick als lieben­der Geliebter stirbt. Und auch das «komische Intermezzo» führt nicht zu einem wahrhaft glück­lichen Ende, sondern zur Entsagung, in der der Autor «eine wahr­haft komische Lebens­einstellung in einer realisti­schen Zeit» sieht. In «Die Brücke» schon charakterisiert sich Glyne mit den Worten: «Ich bin alt­modisch. Dichter sind immer etwas altmodisch, wenigstens heut­zutage.» (S.41) Eine konser­vative Grundhaltung zeigt sich deutlich auch im Überblick über Oberers Hörspiel­schaffen. Franz Fassbind stellt eine «seltene und auffal­lende Konsistenz, beziehungsweise Dichtig­keit der Motive und Bilder» fest, die bis ins scheinbar belanglose Detail geht, und schliesst seine Beobachtun­gen mit den treffenden Worten: «Man denkt an die farbigen Glas­scheiben eines Kalei­doskops, die sich bei jeder Drehung zu neuen Mustern fügen: Die Elemente wandeln sich; die Ge­samtzusammensetzung der dichte­rischen Welt bleibt fest­gelegt.»43 Diese Konstanz er­streckt sich, wie gezeigt wurde, darüber hin­aus auf die Figu­renkonstella­tion und auf die Grundpro­blematik aller Hörspiele Oberers. Fass­bind bezeichnet «Die drei Tage des Herrn Speck» als «spröder, aber auch einfacher, härter, aber auch durch­sichtiger als seine früheren Werke.» Inwiefern sich diese Tendenz in sei­nem letzten Werk «Traviata 90» fortsetzt und wie sich dieses zum Schaffen der fünfziger und sechziger Jahre verhält, wird im Folgenden zu zeigen sein.

»Traviata 90» lässt schon im Titel erkennen, dass das Hörspiel in der Gegenwart des Jahres 1990 spielt. Die Formulierung erinnert an den «Engel 1952». Albert und seine Frau Mathilde besuchen im ersten Teil einen Ort am Gardasee, mit dem die Erinnerung an eine entscheidende Wende in ihrem Leben verbunden ist: Mit ihrem Auftritt in Verdis «Traviata» hat Mathilde vor mehr als vier­zig Jahren ihren Zenit als Künstlerin über­schritten. Der zweite Teil beginnt mit Alberts Suche nach einem Satz, an den er sich nicht mehr erinnern kann und der sich am Ende des Hörspiels als Schlüssel erweisen wird. Damit greift Oberer ein wichtiges Motiv auf, das er in «Phan­tastische Fahrt» in fast glei­cher Weise verwendet hat. Im dritten Teil stirbt Mathilde an einer Lungen­entzündung, die sie sich auf ihrem Spaziergang am Gardasee zugezogen hat. Aus ihren letzten Worten geht her­vor, dass Albert ihr Vermögen verspekuliert hat. Ihr Traum von einer Villa am Meer mit dem symbolträchtigen Namen «Desi­rée» hat sich nicht verwirk­licht, da ihr Mann sich den gesellschaftlichen Verpflich­tungen, die mit dem entsprechenden Lebensstil verbunden wären, ver­weigert hat. Ihre alten Tage mussten die beiden stattdessen in einer kümmer­lichen Dreizim­merwoh­nung verbringen. Den Schluss bildet die Totenrede, in der Albert zu seiner Frau spricht. Den letzten Satz bildet das Zitat, das ihm nun wieder in den Sinn gekommen ist: «Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahr­heit des Lebens zugrunde gehen.» Diesem Satz, der seiner Frau recht gibt, wird Albert nie zustimmen können, da er seiner Natur wider­spricht. In die­sem Inhaltsabriss lässt sich das Grund­muster von Oberers frü­heren Hör­spie­len wiedererkennen: Aufschwung und uner­füllte Sehnsucht (nach einer Villa am Meer in ihrem Fall, nach einem gemein­samen Leben ab­seits des Kunstbetriebs in seinem Fall), Verzicht und stand­haftes Aushar­ren neben­einander, das Albert als «Tragödie» bezeichnet; Spannungsver­hältnis zwi­schen Kunst und Leben.

For­mal unterscheidet sich «Traviata 90» stark von allen bisherigen Hör­spielen Oberers. Die vormals oft übertrieben poetische Diktion, die sich an der lyrisch-magischen Sprache deutscher Vor­bilder der fünfziger Jahre orientierte und gelegentlich ins Kitschige ab­glitt, ist in den spröden Dialogen der alten Leute nicht mehr anzutreffen. Die unterschied­lichen Rollen des verschlossenen, sich kühl rational gebenden Mannes und der extrovertierten, verhalten emotional sprechenden Frau werden sprachlich differenziert. Eine strikte Beschränkung auf zwei Personen würde man in früheren Arbeiten des Autors ver­geblich suchen. Realistische Ambiance, etwa in der Aussenszene am Gardasee, fehlt völlig. Geräusch und Musik werden nur sehr sparsam und funk­tional ein­gesetzt. Neu in Oberers Werk ist vor allem der Bau, der aus drei Dialogtei­len und einem Monologteil besteht und auf epische Elemente verzich­tet. In der Art, wie längst Vergangenes schrittweise aufgedeckt wird, gleicht «Traviata 90» dem klassi­schen analytischen Drama. Die Toten­rede hat so gesehen die Funktion eines Epilogs, der sich allerdings nicht direkt ans Publikum, sondern an die verstummte Gesprächspartnerin richtet. Der Prozess in «Tornado» kommt im Hinblick auf die Enthüllung vergangenen Geschehens diesem Dialogspiel am nächsten. Die vier Teile, zwischen denen Zeit über­sprungen wird, sind hart aneinander­gefügt, was im Gegensatz zum gleitenden Übergang in «Phantastische Fahrt» steht und eher mit der gebrochenen Struktur der «Brücke» korrespon­diert. Innerlich werden die Teile zusammengehalten durch die Erinnerung an die entscheidenden Stationen des vergangenen Lebens, auf die sich alles aus­richtet, wie aus dem pointierten Schluss deutlich wird. Mit dem Zwiespalt zwischen Kunst und Leben greift Oberer sein altes Thema wieder auf, aber im Unterschied zu den aus reiner Phantasie entwickelten Spie­len früherer Zeiten ist diesem Werk anzumerken, dass hier der ehe­malige Theater- und Opern­intendant eigene Erfah­rungen verarbeitet. Ob­wohl unter der Verhärtung und Verkrustung Leben spürbar ist, bestimmt eine Atmosphäre der Resignation den Dialog, in der sich eine gewisse Verwandt­schaft mit Eichs Spätwerk offenbart. Die von Fassbind festgestellte Ent­wicklung hat sich also fortgesetzt. Insge­samt erweist sich «Traviata 90» als ein er­staunlich modern wirkendes Hörspiel, das seine thematische Verwurzelung im literarischen Worthörspiel der fünfzi­ger Jahre nicht verleug­nen kann, aber in seinem Bau und Stil unserer «realisti­schen Zeit» entge­gen­kommt.

«Alles ist möglich. Alles ist erlaubt.»

1968 stellte Helmut Heissenbüttel (1921-96), nach Hagens Urteil «einer der klügsten und gelehrtesten Radioredakteure, Hörspielmacher und Radio-Schriftsteller der Nachkriegszeit»44, dem Hörspiel erneut das Horoskop.45 Den Auftrag dazu hatte er von den Veranstaltern der «Internationalen Hörspieltagung» erhalten, die in Frankfurt stattfand, und sein Publikum waren vorwiegend Hörspielleiter, Dramaturgen und Regisseure aus der BRD und 13 weiteren Ländern. Als Ausgangspunkt seiner Analyse dienten ihm Kolbs «Horoskop des Hörspiels» von 1930/32 sowie Schwitzkes Standardwerk, das 1963 erschienen war und Kolbs Thesen vollumfänglich bestätigte.

Heissenbüttel widersprach Kolbs Theorie erstmals entschieden und umfassend, ohne aber deren nationalsozialistische Fundierung aufzudecken. Zunächst zeigt er auf, dass das literarische Worthörspiel der Innerlichkeit an ein längst überlebtes magisch-lyrisches Literaturverständnis der Romantik anknüpft, und erinnert die Zuhörenden an aktuellere Entwicklungen, etwa in Werken von Brecht, Genet, Ionesco, Beckett, Tardieu, Artaud und Handke. Kolbs Rückgriff auf ein romantisch-symbolistisches Poesieverständnis bescheinigt er eine dezidiert «restaurative Tendenz».46 Den eng gefassten, am Theater orientierten Spielbegriff des «eigentlichen» Hörspiels bricht er auf und eröffnet damit ein weites Feld künftiger Entwicklung:

«Spiel ist nicht mehr nur das Rollenspiel innerhalb einer Rollen- und Handlungskonstellation, Spiel bedeutet mehr und mehr eine freie Verfahrensweise mit sprachlichen Komponenten, mit Rollenrudimenten, mit Bewegungsabläufen, mit choreographischen, mit musikalischen Momenten usw. Als äusserster Punkt ist heute etwa das Musiktheater Giörgy Ligetys oder Mauricio Kagels zu sehen.»47

Zwischen Sprache und Musik liegt nicht mehr eine klare Grenzlinie, sondern eine durchlässige Zone möglicher Wechselwirkungen. Für den «Übergang vom Rollenspiel zum Sprachspiel» nennt Heissenbüttel als Ahnherren Karl Kraus und Kurt Schwitters, als vorbildhafte Bewegungen den italienischen und russischen Futurismus, den Dadaismus und den Surrealismus. Auch das der Nachrichtensparte benachbarte Feature als originalere Funkform kommt in Sicht. Das derart neu bestimmte Hörspiel betreibt seine «Grenzerkundung und Grenzerweiterung»48 in Richtung auf zwei Extrempunkte:

«Man könnte sagen[,] Hörsensation hat zwei Grenzpole: die pure Nachricht auf der einen und die musikalische Sublimation des Sprachlichen auf der anderen Seite. Zwischen diesen beiden Polen entfaltet sich in kontinuierlichem Übergang das Feld der variablen und freikombinatorischen Möglichkeiten.»49

Das Ergebnis ist Freiheit zu Experimenten jeder Art. Heissenbüttels programmatische Rede endet mit der euphorischen Devise: «Alles ist möglich. Alles ist erlaubt. Das gilt auch für das Hörspiel.»50 Sie wird in der Folge so fleissig zitiert werden wie zuvor Kolbs Grundsatz von der «Bewegung im Menschen». Heissenbüttels Remake des Hörspiel-Horoskops wird zur grundlegenden Programmschrift der Bewegung, die sich fortan unter dem Label des «Neuen Hörspiels» formiert. Dessen Teilgebiete werden alle in seiner Rede genannt und mehr oder weniger ausführlich besprochen. Es sind dies, in der Reihenfolge ihres historischen Auftretens:

Ein eindeutiges Gegenteil des «eigentlichen» Hörspiels wie im Titel suggeriert gibt es nicht. Die genannten Teilgebiete des Neuen Hörspiel geben auseinanderstrebende Richtungen an, in die sich alternative Strömungen seit Ende der sechziger Jahre bewegen. Sie sind alle auch in der Produktion der Abteilung «Dramatik und Feature» von Radio DRS repräsentiert, doch treten entsprechende Ansätze jeweils erst mit einigen Jahren Verzögerung auf und dominieren zu keinem Zeitpunkt das Programm. Dessen Schwerpunkt liegt bis heute beim traditionellen – aber längst nicht mehr romantisch-poetischen – Worthörspiel, teils in rein dramatischer Form, meist in einer dramatisch-epischen Mischform, aber auch in selteneren Ausprägungen wie dem subjektiv epischen Hörspiel, dem Hörspiel des inneren Monologs, dem Panoramaspiel oder dem Hörspiel der phantastischen Realität. Diese Genres wie auch die oben aufgeführten Richtungen des Neuen Hörspiels sind typologische Kennmarken, die in der Praxis selten in reiner Form auftreten. Heissenbüttel erkannte 1968 schon, dass sich «das Gesamtfeld der Möglichkeiten […] in eine Vielfalt von Spielkombinationen auflösen und unterteilen» lässt.51 Seit Ende der achtziger Jahre ist eine zunehmende Tendenz zur kreativen Integration zu beobachten.

Ende UKW: «Radio» von Blablabor

Der Artikel soll mit einem deutlichen, aktuellen Gegengewicht zum allzu lange dominierenden literarischen Worthörspiel enden. Zu allen oben aufgeführten Tendenzen des Neuen Hörspiels liessen sich Beispiele aufführen, die teils schon in anderen Blog-Beiträgen vorgestellt wurden, so als Beispiele für das Sprachspiel die von spoken word beeinflussten Arbeiten «Parlez-vous french?» (2005) und «Nach New York» (2007) von Beat Sterchi. Als Vertreter der O-Ton-Richtung wäre das indoor recording «Übung in Glück» (2016) von Claude Pierre Salmony und Basil Kneubühler zu nennen. Für die Sparte Hörspiel als Musik liegt etwa in «Holydays from Suicide» (2020) von  Birgit Kempker und Anatol Atonal ein Versuch aus neuster Zeit vor. Das Montage-Hörspiel kommt nur selten in so reiner Form vor wie in Peter Bichsels einzigem Hörspiel «Inhaltsangabe der Langeweile» (1972). Ein hybrides Beispiel, das alle zuvor genannten Richtungen vereint, soll im Folgenden vorgestellt werden.

Eine klare Alternative zur «klassischen» Hörspielproduktion, die fast ausschliesslich als output von institutionellen Medien-Unternehmen auftritt, stellen Hörwerke der «freien Szene» wie etwa der Produktionsgemeinschaft Blablabor dar, die seit dem Jahr 2000 aktiv ist. Reto Friedmann und Annette Schmucki, die beiden Gründungsmitglieder des Teams, schufen 2017 völlig autonom das Hörstück «Radio», das zur Verbreitung im Programm von Radio SRF bestimmt war, begleitet von Claude Pierre Salmony als experimentell erfahrenem Vertreter der Institution. Vom illusionistischen Worthörspiel hebt sich «Radio» primär durch den Verzicht auf einen Handlungsfaden ab. Durch Konzentration auf eine Person und deren Sprach-Handeln mit pointiertem Ende entsteht das nötige Mass an Kohärenz, worin sich die Produktion von einem reinen Montage-Hörspiel wie Peter Bichsels «Inhaltsangabe der Langeweile» unterscheidet. Montage stellt die dramaturgische Basis dar, die disparate sprachliche Teile nicht logisch-chronologisch, sondern mosaikartig anordnet. Durch deren Zentrierung auf ein Kernthema entsteht – alternativ zum plot der herkömmlichen Spielform – eine durchschaubare Struktur, was für die Akzeptanz seitens der Zuhörenden von grundlegender Bedeutung ist.

Robert, ein älterer Mann, Jahrgang 1948, ist mit seiner Sammlung antiker Kofferradios in einem Raum, den er während des Spiels nicht verlässt. Er monologisiert als Ich-Erzähler in einer huis-clos-Situation: «Meine Radios und ich». Anwesend ist auch ein Gitarrist, der nur durch die Klänge seines Instruments in Erscheinung tritt und im letzten Drittel den Raum verlässt, weil er hungrig ist. Robert beschreibt zunächst liebevoll einige seiner Transistor-Veteranen mit Markennamen und genauen Modellbezeichnungen, schildert deren äussere Erscheinung, Beschädigungen, funktionelle Besonderheiten. Originalton-Elemente kommen in dem Hörstück nicht vor, aber in der minutiösen sprachlichen Darstellung der Gegenstände, um die es geht, zeigt sich ein zitierender Bezug zur objektiven Realität, «in der Originaltonart», wie Gertrud Wilker dies nannte. Derselbe Impetus äussert sich in einer Titel-Sammlung von Hörspielen der Vergangenheit, die historisch belegt sind und mit Quelle und weiteren Sendedaten verzeichnet werden, alle mit Bezug zum zentralen Thema «Radio».

Obwohl nur Empfangsgeräte, aber keine Sendeapparatur beschrieben werden, ist schon nach kurzer Zeit klar, dass Roberts Monolog Programm ist: «Hier spricht Radio „Radio“, das einzige Radio, das nur Radio sein will.» Ob es tatsächlich gesendet wird oder doch nur ein nach aussen gerichteter innerer Monolog ist, bleibt im realisierten Hörspiel in der Schwebe: ein reizvolles Paradox, worin sich dieses Werk von anderen selbstreferentiellen Produktionen unterscheidet. Im ursprünglichen Konzept war die Situation eindeutig: «Der alte Mann macht eine Radiosendung. […] Er ist allein in seinem Raum. Seine Radiostation. Selbstgebaut. In die Jahre gekommen. Von hier aus sendet er in die Welt. Mit alternder Technik. Etwas verwahrlost.» (Beiblatt zu «Radio») Der Rezipient als Produzent: So hatte sich Brecht das nicht vorgestellt. Die Hörspielmacher dachten eher an den Protagonisten aus Ionescos «Rhinocéros». Die Situation ist nicht nur charakteristisch für eine radio-unabhängige Produktion, sie entspricht einer medialen Variante von Camus’ Konzept des Absurden: der «Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt.» Hier ist es der Einsame, der sendet und nicht einmal weiss, ob er damit ein Publikum erreicht, das schweigt.

So grundlegend die Montagestruktur ist, so wesentlich sind der sprachspielerische und der musikalische Charakter der Teile. Dem Blablabor-Team geht es um Kommunikation mit Hörerinnen und Hörern, l’art pour l’art ist seine Sache nicht. Das Programm des einsamen Alten besteht aus syntaktisch klaren Appellen, die an Friedrich Walter Bischoffs Ansage erinnern: «Hallo, hier Welle Erdball! Wer dort?» Vollständige Sätze kommen vor, bleiben aber in der Minderzahl, gehen über in Fragmente, Wortfelder, «Agglomerationen» in der Art von spoken word und Konkreter Poesie:

«Hier spricht Radio „Radio“, mmm, zero reset. Tada, tata, tadadada. Radieschen, radikal, radial, Reuse, Rettich […] Horizont, Horn, Hornisse, Hof, Umkreis, Unkraut, Umlaut, Unken, Kran, Kranich, Speiche, spreizen, Spross [danach: Radieschen, radikal, radial, Reuse Rettich gesungen zu elektronischen Klängen] Das nächste Lied handelt von Radieschen und Unken: Radieschen, radikal, radial, Reuse, Rettich […]»

«Tada, tata, tadadada»: der Übergang zum Spiel mit Lauten ist in diesem Beispiel schon angelegt. Gesang kann auf Semantik auch ganz verzichten, etwa im Lied «takeb lasal»:

«takeb lasal, latek bala, saled kabal, lase taka, bales ata – gabel sala, takeb lasal, latek bala, salek gabal, lase saga – bales ata, gabe sala, latek bala, salek gabal, lase saka. […]»

«Hörspiel als Musik» war immer schon eine diffizile Angelegenheit, allzu oft ein Konglomerat von sprachlichen und musikalischen Komponenten. Identität, echte Synthese wird seit jeher im Gesang verwirklicht. Blablabor hat darüber hinaus ein mehrstufiges Verfahren entwickelt, nach dem Wort-Material in musikalische Klänge überführt werden kann. Hier die Anleitung dazu:

«Für die Erarbeitung der Lieder bestimmt Blablabor acht bis zehn radiospezifische Wörter wie Antenne, Empfang, Sendung, Rauschen, Frequenzband, Batterie, Kabel, Regler. Diese werden etymologisch, klanglich, rhythmisch und assoziativ analysiert. Daraus ergibt sich ein kleiner Kosmos von Bildern, Geschichten, Strukturen, die als Fenster in die Welt über die Radiotechnik hinausweisen. Die Bearbeitung des Wortmaterials orientiert sich an konkreter Poesie, lässt jedoch auch Ausschweifungen zu. Daraus entstehen Texte für Lieder am Radio.

Diese Sprachspiele, Gedichte und Listen wurden von Jaap Achterberg gesprochen und von Blablabor aufgenommen. Die Klanglichkeit des gesprochenen Textmaterials wurde wiederum vom Gitarristen Stephan Wittwer auf sein Instrument übersetzt und in einem nächsten Schritt von Jaap Achterberg in die Sprache zurückgesungen.»52

Der Begriff «Radio» fasst das Thema noch zu wenig präzis. Es geht um frequenzmoduliertes UKW-Radio, dessen Ablösung durch DAB 2017 noch Zukunft war. Seit dem 1. Januar 2025, ziemlich genau seit dem 100-Jahr-Jubiläum von Radio und Hörspiel also, ist das alte UKW-Radio in der Schweiz passé – und damit auch dessen Rauschen. Darum geht es  im Wesentlichen: um «rauschigen Empfang», um die Frage: «Aber wenn das Radio nicht mehr rauscht? Ohne UKW-Frequenz, nur noch DAB, digital radio broadcasting – ohne Rauschen – clean. Wenn ich bei DAB die Luft anhalte, und es rauscht nicht, ist das Radio?» Ist Rauschen mehr als ein qualitatives Defizit? Kann man UKW folgenlos ersetzen? Daran schliesst sich die zunächst seltsam anmutende Frage: «Wie tönt UKW-Rauschen in DAB-Qualität?» Es gibt heute tatsächlich Web-Seiten, von denen man verschiedene Arten von «atmosphärischem» Radio-Rauschen – man unterscheidet sie nach «Farben» – downloaden kann. Ein Hobby für nostalgische Spinner?

Der Kreis schliesst sich. Wir kehren zurück zu den Anfängen. Für Paul Altheer, den ersten Sprecher und Sendeleiter des Zürcher Radios, war Rauschen, damals auf Mittelwelle, noch ein technisches Problem, das er gelegentlich kommentierte, etwa mit der scherzhaften Bemerkung: «Wir haben jetzt eben atmosphärische Störungen mit Konzerteinlagen gebroadcastet.» In seinem Radio-Hörspiel «Der Fünflampenapparat» (1926) kommt Rauschen in vielfacher Abwandlung vor als Störgeräusch bei der Sendersuche: als Pfeifen, Knattern, Krachen oder eben schlichtes Rauschen. Hans Flesch, der künstlerische Leiter des Frankfurter Senders und Hörspielmacher, sah darin etwas Anderes. Thema seines Hörspiels «Zauberei auf dem Sender» (1924), des ersten im deutschen Sprachraum, ist die systematische Störung des Programms. Nach Auffassung der damaligen Rundfunktechnik war dieses aber per se eine Störung, erzeugt durch geordnete Störungen im «Äther» mittels Radiowellen.53 Fleschs Zauberer stört also die normale Störung qua Programm. Wolfang Hagen spricht von «fortgesetzten Verdoppelungen und Rückbezüglichkeiten von Programmstörungen», im Techniker-Jargon «Rückkoppelungen» genannt. Das ist experimentelle Radiokunst, wie Flesch sie sich vorstellte und aus den technischen Bedingungen des Mediums herleitete. Was daraus folgt, beschreibt Hagen in seinem Essay «Der Neue Mensch und die Störung».

Der Wechsel zum rauschfreien DAB ist die letzte Stufe der Digitalisierung, die für die elektronischen Medien schon vor Jahrzehnten mit der Einführung von CD und MP3 einsetzte. Mit dem Wechsel zu DAB droht heute das gesamte Radioprogramm schrittweise ins Internet zu «migrieren». Aber noch ist das Kapitel «Radio» nicht geschlossen. Auch das gedruckte Buch wurde schon mehrmals totgesagt und ist so lebendig wie eh und je, und die Schallplatte erlebt heute trotz aller smarten Ersatzmedien ein zaghaftes revival in Nischen. Das herkömmliche, lineare Radioprogramm ist, wenn man es genau bedenkt, sicher mehr als nur Beschränkung, die durch die äusseren Bedingungen des Mediums auferlegt wird. Was also ist überhaupt Programm? Und können wir tatsächlich darauf verzichten? Ist digitales radio on demand als Ersatz die unausweichliche Zukunft? Robert antwortet, seiner Situation entsprechend, lakonisch: «Wir werden älter, meine Radios und ich.» Zum Schluss singt er seinen persönlichen Hit: «Addío Radío. Es wird nie mehr so sein, wie es einmal war: Radio, addio Radio, addio Radio addio, Radio addio, Radio addio […] addio Radio, addio.» Konkret-poetisch graphisch sieht dies so aus:

radio
addìo radio
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Anhang: Reto Friedmann / Annette Schmucki: «Radio» von Blablabor (2017)

Protokolliert nach Gehör; unverständliche Stellen sind wie Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Friedmann / Schmucki:
«Radio»

(00:00:08)  (Husten) «Hallo – hallo. Ob mich jemand hört? [unverständliches leises Gemurmel]

(00:01:12) Abgeknickte Antenne. Wackel am Lautstärkeregler. Meine letzte Gauloise, der blaue Faden. Philips D2604 4 Inch Woofer. 2 ¼ Inch Tweeter. 4xR20,  Earphone-Buchse. Hier Thomson RT326 Dreiband-Radio. FM Alarm Clock Radio, Wecker defekt, Radio funktioniert. Vergilbte Tapete, Ton in Ton. Abgewetzte Furnierlochplatten, eingedrücktes Gitterchen links. Vertrocknete Schaumgummikrümel überall.

Aufwuchten mit dem Schraubenzieher. Wo ist der Schraubenzieher? Sie hören die Radiosendung mit dem Schraubenzieher und der Schraubzwinge.

Beule am Lautsprecher. Antenne abgeknickt. Lautstärkenregler abgebrochen. Batteriefachdeckel fehlt. Empfang einwandfrei. Frequenzanzeige provisorisch repariert. Wackel am Volume– und Function-Schalter, Tuning-Schalter verloren gegangen. Sprunghaftes Frequenzband. Rauschiger Empfang. Frequenzwahl mit Schraubenzieher. Radiowecker funktioniert nicht. Batterien sind ausgelaufen. Geprüft durch Telesco, Wetzikon, Dezember 1980.

(00:03:48) Meine Damen und Herren, ich begrüsse Sie herzlich zu „Radio“. Was in Sachen Radio bisher geschah: „Radio“, von Ferdinand Kriwet, WDR, Radio France, Sveriges Radio 1983, 36 Minuten. „Radio als elektronisches Babel“, gemeinsame Zeit, strukturiertes Weltgeschehen, Polyphonie des durch die gemeinsame Zeit strukturierenden Weltgeschehens. „Radio“, von Felix Zbinden, DRS 1995, erster Teil von 46 Minuten, Frequenzen jenseits menschenverseuchter Grenzen, Gedanke auf einen ungeheuren, ans Faschistoide grenzenden Menschenhass. „Radioräume“, von Bernhard Leitner, WDR 2008, 42 Minuten: federn, tasten, wölben, füllen, runden, wehen, fleissen, wälzen, beben, weiten, springen. Klang bildet Skulpturen und architektonische Räume. „Radio. Ich bin das Radio“, WDR 2015. „Kluges Radio“, SWR 2015. „Killerradio“, ORF 2003. „Radio Inferno“, Hörspiel in 34 Gesängen, BR 1993. „Demokratie, dein Mund heisst Radio“, SWF 1985. „An alle. Zur Geschichte der Radiokultur“, SWF 1985. „Ferdi, der Floh vom Radio“, WDR 1998. „Lecken Sie Ihr Radio“, Fluxus, SWR 2007. „Als Hollywood ins Radio kam“, HR 2015. „Durch die Nacht. Radio von Null bis Sechs“, DRS 2000. „Drehen Sie das Radio ab“, ORF 1993.

(00:06:16) „Radio“. Ein Hörspiel von Blablabor. Annette Schmucki und Reto Friedmann, Autorenproduktion in Zusammenarbeit mit Radio SRF. „Radio“, schlicht und einfach nur „Radio“. „Radio“ sendet über Radio und will nichts anderes sein als Radio. Nochmals Radio sein – vor dem Ende der UKW-Technik. The last radio. Der neue Song von Anton und Notna. Sendeende. Anton sende Ende Notna [unverständlich, mehrfach wiederholt] Uwe sende Ende an Beda. Beda sende Ende an Ake. Ake sende Ende an UKW. UKW sende Ende an DAB. Uwe sende Ende an Beda. Beda sende Ende an Ake. Ake sende Ende an UKW. UKW sende Ende an DAB.  [danach dieselben Wörter in Variation gesungen zu elektronischen Klängen] DAB. (Lachen)

(00:08:52) Klebriges, Rostiges. Uralte, vergessene Batterien im Batteriefach. Gräulicher Staub über… das Schlangennest, Kabelsalat. Guten Abend, meine Damen und Herren. Ja, guten Abend. Hier Radio Grundig Concert Boy 240. Elektro Grogg in Baden, 23 Franken, ausgesprochen guter Klang, warm. Mein blauer Faden geschnitten ins Band. Die Luft ist zum Schneiden. Music air […] Hier Schwerm Dynamik 2030. Flohmarkt an der Elbe, Dresden nach der Wende. Elbe und Wende, das reimt sich. Aber wem soll ich das erzählen? […] Vierteljahrhundert. Die Kippen sammeln nur Aschenbecher. Der Auspuff einer […] Trabis am Dresdner Postplatz.

(00:10:35) Hallo, hier Radio Roadstar TRA-202, die ultimative Radiosendung über das furnierte Pult meiner Eltern, das wär praktisch wegen der ausziehbaren Ablagefläche, das hätte damals viel gekostet. Auf der ausziehbaren Ablagefläche Philips Portable Receiver 600, wave range selector indication. Mediator Radiorecorder Chromium. Weiter geht’s mit dem Lied „takeb lasal“: takeb lasal, latek bala, saled kabal, lase taka, bales ata – gabel sala, takeb lasal, latek bala, salek gabal, lase saga – bales ata, gabe sala, latek bala, salek gabal, lase saka. […]

Philips Portable Receiver 600 aus der Radio-Sammlung von Blablabor
(Foto: © Blablabor)

(00:12:25) Hier spricht Radio „Radio“, mmm, zero reset. Tada, tata, tadadada. Radieschen, radikal, radial, Reuse, Rettich […] Horizont, Horn, Hornisse, Hof, Umkreis, Unkraut, Umlaut, Unken, Kran, Kranich, Speiche, spreizen, Spross [danach: Radieschen, radikal, radial, Reuse Rettich gesungen zu elektronischen Klängen] Das nächste Lied handelt von Radieschen und Unken: Radieschen, radikal, radial, Reuse, Rettich […]

(00:15:59) Radio „Radio“ (Summen)

Hier spricht Radio “Radio“. Gut, hört niemand zu. […] Radio, die grössten Hits vom Radio, die Frequenz auf Ihrer Frequenz, sozusagen ein Frequenzen.

[…]

(00:18:18) Hier spricht Radio „Radio“, das einzige Radio, das nur Radio sein will.

[…]

(00:24:55) Aber wenn das Radio nicht mehr rauscht? Ohne UKW-Frequenz, nur noch DAB, digital radio broadcasting – ohne Rauschen – clean. Wenn ich bei DAB die Luft anhalte, und es rauscht nicht, ist das Radio?

[…]

Welcome to digital radio!

[…]

(00:28:10) Wie tönt UKW-Rauschen in DAB-Qualität? Wir werden älter, meine Radios und ich.

[…]

(00:39:04) Und nun mein persönlicher Hit: Addío Radío. Es wird nie mehr so sein, wie es einmal war. – Radio, addio Radio, addio Radio addio, Radio addio, Radio addio […] addio Radio, addio

Ende

  1. Schwitzke, Heinz, Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1963, S.187 ↩︎
  2. Bänninger, Hans, Bühnenstück und Hörspiel. Betrachtungen, Fragen und Antworten, Elgg (Volksverlag) 1951, S.18 ↩︎
  3. Job, Jakob, Radio und Literatur. Sonderdruck aus Jahrbuch »Die Schweiz», Bern (Burl) 1951, S.5 ↩︎
  4. Hagen, Wolfgang, Die Stimme als körperlose Wesenheit. Medienepistemologische Skizzen zur europäischen Radioentwicklung, 2002, S.10 f ↩︎
  5. ib., S.15 ↩︎
  6. vgl. z.B. Müller, H., Der pseudoreligiöse Charakter der nationalsozialistischen Weltanschauung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 12, 1961, S.337-51 ↩︎
  7. Schwitzke, 1963, S.152 ↩︎
  8. Hagen, 2002, S.14 ↩︎
  9. zit. Schwitzke, 1963, S.128 ↩︎
  10. ib., S.74 ff ↩︎
  11. ib., S.41 ↩︎
  12. ib., S.77 ↩︎
  13. ib., S.229 ↩︎
  14. Schenck, Ernst von, Geleitwort, in: Schenck, Ernst von (Redaktion), Schweizer Annalen, Nr.5/6, Sonder-Heft Radio, Aarau (AZ-Presse) 1945, S.257 ↩︎
  15. Eberle, Oskar, Schauspiele und Hörspiele der Urvölker. Vortrag anlässlich der 25. Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur, auszugsweise abgedruckt in: Eberle, Oskar, Das Hörspiel ist keine Erfindung des Radios in: SRZ 50/52, S.5 und S.25 ↩︎
  16. ib., S.487; nach Armin P.Franks Überzeugung handeltes sich bei solchen und ähnlichen Spekulationen um einen «methodische[n] und sachliche[n] Irrweg. […] Dem Hörspiel hat die Technik Pate gestanden; es ist sinnlos, vor dieser Wirklichkeit in mythische
    Fernen auszuweichen.» (Frank, Armin P., Das Hörspiel. Vergleichende Beschreibung und Analyse einer neuen Kunstform, durchgeführt an amerikanischen, deutschen, englischen und französischen Texten, Heidelberg (Winter) 1963, S.13) ↩︎
  17. vgl. Eberle, Oskar, Cenalora. Leben, Glaube, Tanz und Theater der Urvölker, Olten/Freiburg i.Br. (Walter) 1954, S.488 ↩︎
  18. K.W., Schöne Welt des Wortes, in: r+f 42/58, S.3 ↩︎
  19. Thürer, Georg, Das Hörspiel im Beromünsterprogramm: I. Hörspiel und Theater in der Schweiz, in: r+f 18/62, I., S.5 ↩︎
  20. Rösler, Albert, u.a., Wie ein Hörspiel entsteht, Manuskript einer Veranstaltung des Städtischen Podiums 1961 (Manuskriptarchiv RDRS, Studio Zürich), S.1 ↩︎
  21. 36.Jahresbericht der RGBE, 1961, S.23 ↩︎
  22. Guggenheim, Kurt, Existiert die Familie Laederach wirklich? in: SRZ 30/51, S.10 ↩︎
  23. vgl. Pezold, Klaus u.a., Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20.Jahrhundert, Berlin (Volk und Wissen) 1991, S.167 ff ↩︎
  24. Oberer, Walter, in: Treffpunkt, Fernsehen DRS, 18.2.88 ↩︎
  25. vgl. Schwitzke, 1963, S.399; Prager führt ferner Frisch und Dürrenmatt an; Schwitzke nennt darüber hinaus Lotar und Franke-Ruta. ↩︎
  26. Oberer,a.a.O. ↩︎
  27. «Als Stückschreiber hielte ich meine Aufgabe für durchaus erfüllt, wenn es einem Stück jemals gelänge, eine Frage dermassen zu stellen, dass die Zuschauer von dieser Stunde an ohne eine Antwortnicht mehr leben können – ohne Ihre Antwort, ihre eigene, die sie nur mit dem Leben selber geben können.» (Frisch, Max, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, 6 Bände, hrsg. von H.Mayer unter Mitwirkung von W. Schmitz, FfM. (Suhrkamp) 1976, Bd.II, S.467) ↩︎
  28. Dedner, Burghard, Das Hörspiel der fünfziger Jahre und die Entwicklung des Sprechspiels seit 1965, In: M. Durzak (Hrsg.), Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen, Stuttgart (Reclam) 1971, S.133; vgl. Schwitzke, 1963, S.368 ↩︎
  29. vgl. Schwitzke, 1963, S.241 ff ↩︎
  30. gestrichen: «Verehrte Zuhörer, – Hier ist der Schweizerische Landessender Beromünster, Studio Zürich. Wir übermitteln Ihnen nun einen Ausschnitt aus der Abdankungsfeier zu Ehren Albert Tramonds. Wir schalten um!» (S.44) ↩︎
  31. vgl. Schwitzke, 1963, S.241 ff ↩︎
  32. Frank, 1963, S.186 ↩︎
  33. Oberer, a.a.O. ↩︎
  34. Vitali, Felice, Angst. Ein Problem unserer Zeit, in: r+f 40/59, S.13 ↩︎
  35. Eich, Günter, Gesammelte Werke, hrsg. von S.Müller-Hanpft, H.Ohde, H.F.Schafroth und H.Schwitzke, FfM. (Suhrkamp) 1973, Bd.2, S.289 ↩︎
  36. Würffel, Stefan Bodo, Das deutsche Hörspiel, Stuttgart (Metzler) 1978, S.84 ↩︎
  37. Klose, Werner, Didaktik des Hörspiels, Stuttgart (Reclam) 1977, S.39 ↩︎
  38. vgl. Dedner, 1971, S.128 f ↩︎
  39. vgl. Würffel, 1978, S.84 ↩︎
  40. ib., S.91 ↩︎
  41. Oberer, Walter, Verlass deinen Garten nicht, in: r+f 42/67, S.71 ↩︎
  42. Oberer, Walter, »Die drei Tage des Herrn Speck», In: r+f 7/65, S.5 ↩︎
  43. zd., Unzeitgemässes Intermezzo. Zu einem Hörspiel von Walter Oberer, In: NZZ (Abendausgabe), 2.4.65 ↩︎
  44. Hagen, 2002, S.11 ↩︎
  45. Heissenbüttel, Helmut, Horoskop des Hörspiels, in: Internationale Hörspieltagung vom 21. bis 27. März 1968, veranstaltet von der Deutschen Akademie der darstellenden Künste in Verbindung mit dem Hessischen Rundfunk. Frankfurt/Main 1968, S. 19 ff.; zit nach: Schöning, Klaus (Hrsg.), Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche, FfM. (Suhrkamp) 1970, S.18ff ↩︎
  46. Heissenbüttel, 1970, S.31 ↩︎
  47. ib., S.27 ↩︎
  48. ib., S.30 ↩︎
  49. ib., S.35 ↩︎
  50. ib., S.36 ↩︎
  51. ib. ↩︎
  52. Radio. Ein Hörspiel von Blablabor / Beiblatt ↩︎
  53. Hagen, Wolfgang, Der Neue Mensch und die Störung. Hans Fleschs vergessene Arbeit für den frühen Rundfunk, 2003, S.276 ↩︎
  54. Homepage Blablabor: Kollektive Textarbeit Blablabor / texte (auswahl) radio ↩︎

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