99 Jahre Hörspiel in der Schweiz

Foto: Unternehmensarchiv SRF, Radiostudio Zürich

In diesem Blog möchte ich in kurzen Essays wichtige Hörspiel-Produktionen vorstellen. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der prägnanten Art des Blogging.

Ich lasse mich dabei von subjektiven Interessen leiten – und von den Fragen meiner Leserinnen und Leser, falls solche gestellt werden.

Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet auf meiner Homepage Quellenangaben, detaillierte Informationen, Links und Verzeichnisse, die weiterhelfen. Hier der Pfad dorthin:

Das Deutschschweizer Hörspiel 1925 – 1990

Mysterienspiel – nicht nur für Gläubige

Das religiöse Hörspiel gehört von der ersten Stunde an zum eisernen Bestand des Radioprogramms. Neben einer Anzahl trivialer Lachkomödien waren von der Zürcher Radiostation im Sendejahr 1925 nur drei dramatische Produktionen ernsten Gehalts zu hören. Das Urner Tellspiel bildete den weltlichen Auftakt, gefolgt von zwei geistlichen Dramen: Von einem Osterspiel aus dem 15. Jahrhundert wurden offenbar nur einzelne Szenen gegeben. Das «Grosse Welttheater» von Calderon, bei dessen Aufführung auf dem Einsiedler Klosterplatz auch einzelne Mitglieder der «Freien Bühne» mitwirkten, wurde an zwei Abenden in voller Länge live im Radiostudio an der Uraniastrasse inszeniert. Zum gleichen Typus des religiösen Festspiels, das auf der Bühne Mitte der zwanziger Jahre eine Renaissance erlebte, zählen auch das vor Ostern 1926 gesendete «Spiel vom verlorenen Sohn» (1537) des Luzerners Hans Salat und das in der Vorweihnachtszeit gesendete Basler Totentanzspiel «Fünferlei Betrachtnisse, die den Menschen zur Busse reizen» aus der Reformationszeit von Johannes Kolross, beide in der Bearbeitung von Cäsar von Arx, der im zweiten Fall auch Regie führte. Das «Weihnachtsspiel» dieses Jahres hatte der Bündner Anstaltsarzt Johann Benedikt Jörger nach alten Motiven für die Aufführung durch seine Patienten arrangiert. In diesem Fall entdeckte man, dass die epische Rolle des Spielansagers dem Medium Radio besonders angemessen sei, «da so der Kontakt mit der unsichtbaren Zuhörerschaft in glücklicher Weise gewahrt bleibt»1, was auch schon auf die Rolle der Herolde im Urner Tellspiel zutraf.

Einen Meilenstein im Traditionsstrang der geistlichen Radiodramatik markiert Robert Jakob Langs «Neues Weihnachtsspiel» (RGZ, 1929), das, geschrieben auf Veranlassung des Schweizerischen Schriftstellervereins (SSV), eines der ersten schweizerischen Originalhörspiele war, das erste, dessen Text überliefert ist. «Es spielt unter geringen, harten Leuten, unter Landstreichern und Wegknechten», berichtet die Programmzeitschrift. «Aber die Weihnachtszeit bringt den Geist der Liebe über sie, sie erkennen ahnend das göttliche Wunder des Lebens und werden zu helfenden, dienenden Menschen.»2 Langs Erstling wurde zweimal, 1937 und 1956, unter der Regie von Arthur Welti mit Musik von Hans Steingrube neu einstudiert und an Weihnachten gesendet.

Von da aus zieht sich eine nicht abreissende Kette von religiösen Hörspielen, vornehmlich Weihnachtsspielen, bis beinahe zur Gegenwart. 1932 erteilten die Programmleiter der deutschschweizerischen Sendegruppe an drei Autoren einen Auftrag «zur Erlangung von Weihnachtsspielen».3 Die Inszenierungen wurden auf die drei Studios verteilt: Zürich produzierte das «Weihnachtsspiel» der Baslerin Ida Frohnmeyer, Basel «Eine kleine Weihnachtslegende» des einheimischen Hermann Schneider und Bern den Beitrag des Zürchers Traugott Vogel. Ida Frohnmeyer war die erste Frau unter den Schweizer Verfassern von Sendespielen und Originalhörspielen. Wie schon Lang dramatisiert sie nicht einfach eine Nacherzählung der Weihnachtsgeschichte, sondern versucht sich in einer damals durchaus noch nicht üblichen epischen Konzeption, die in der Programmzeitschrift so vorgestellt wird:

«Das Weihnachtsspiel ist in erster Linie nicht dramatisch, sondern erzählend aufgebaut. Es fehlt deshalb auch an einer eigentlichen Handlung. Das ganze Spiel ist ein Gespräch zwischen dem Grossvater, der Mutter, dem Buben und dem Vater. Als weihevolle Untermalung hört man dazwischen das Glockengeläute der Dorfkirche, die zur Weihnachtsfeier einlädt. Im übrigen sind die akustischen Mittel aufs Minimum beschränkt. Abgesehen von den schweren Schritten des Bauern, den man hin und hergehen hört, ist jedes überflüssige, die Weihe der Handlung störende Geräusch vermieden worden.»4

«Geist der Liebe», «das göttliche Wunder des Lebens», «Weihe der Handlung», «weihevolle Untermalung»: Wir haben es mit einer Gruppe von Hörspielen zu tun, die sich an eine relativ grosse, geschlossene Glaubensgemeinde richtet. In der fernsehlosen Zeit bis Mitte der fünfziger Jahre bedeutete dies einen konstanten Bedarf, der zu regelmässig wiederkehrenden, jährlichen Terminen gedeckt werden musste. Trotz formaler Variation geht es dabei in den meisten Fällen um eine quellengetreue radiophone Umsetzung der Weihnachtsgeschichte des Neuen Testaments, oft im spezifischen Dialekt einer Region. Es muss genügen, hier ein paar Repräsentanten dieser Gattung zu erwähnen: Für seinen Beitrag «Ein neues Christi-Geburt-Spiel» (1938) erhielt Hermann Schneider den ersten Preis im dritten Hörspielwettbewerb 1937/38, in welchem die Wiedergeburt Jesu zusammenfällt mit dem ersten Fliegerangriff eines ausbrechenden Krieges. Die in barocker Art der Not der Welt entgegengesetzte Glaubensgewissheit erweist das Spiel letztlich als ein religiöses und wiegt die zeitkritischen Ansätze auf. «Ds Fräulein vom Hilfsdienst. Es stills Wiehnachtsspiel vo hüt» (1939) von Karl Uetz, hatte, kurz nach Kriegsausbruch, die Aufgabe, in düsterer Zeit auch den vielen Zuhörenden Trost zu spenden, die militärischen Aktivdienst leisten mussten. Weihnachtshörspiele in verschiedenen Dialekten sollten in der Festtagszeit am Jahresende die Vielfalt in der nationalen Einheit betonen, so das «Schwyzer Wienachtsspyl» (1943, Neueinstudierung 1956) von Oskar Eberle, «Es Zuger Chrippe-Spyl» (1948) von Fridolin Stocker, «Ein Graubündner Weihnachtsspiel» (1951) von Hanni Ertini und «D’Zäller Wiehnacht» (1960) von Paul Burkhard unter der Regie des Autors, aufgeführt durch Jugendliche von Zell im Tösstal. Auch in der Zeit der Abteilung «Dramatik» wurden originale Weihnachtshörspiele produziert, so zum Beispiel «E ganz e bsondere Wiehnechtsobig» (1979) von Maria Simmen. «Das Stück möchte alltägliche Menschen nach ihrer Humanität und Christlichkeit befragen und zum Nachdenken über die Bedeutung von Weihnachten heute anregen», kommentiert das Programmbulletin.5

Das entspricht dem Grundgedanken einer Gruppe von Produktionen, die das christliche Fest der Liebe zum Anlass nehmen, um gegenwartskritische Töne anzuschlagen, so etwa die satirische Hörszene «Weihnachtsspielzeug» (1935) von Arthur Welti: Darin treten in der Form des Kasperspiels unter anderen die «hauchdeutsche Edeltraut von Riefenuhl, eine Aufziehpuppe mit ausländischer Theaterausbildung und Tonfilmambitionen, sowie der Teufel namens Jakob Krüppeltod auf, der den Krieg personifiziert. In Peter Wyrschs Erstling „Christus unter uns“ (1035) wird Jesus in der Gegenwart in eine Welt hinein geboren, die ihn verhöhnt und zum psychiatrischen Fall macht. Mit Franz Fassbinds Hörspiel-Erstling «Weihnachten 1938» befasste sich die schweizerische Militärzensur, die dem Autor auferlegte, die Namen der Knaben Adolf, Joseph und Hermann zu ändern, die sich beim Kriegsspiel so sehr ereifern, dass der Christbaum in Flammen aufgeht. Manfred Schwarz stellte, bevor er «In den Tagen des Herodes. Hörspiel um das Weihnachtsgeschehen» (1965) schrieb, umfangreiche historische Recherchen an. Daraus ergab sich ein durchaus modernes, nüchternes Konzept: «Ich machte aus Maria und Joseph kein „Heiliges Paar“. Ich habe darauf verzichtet, nicht Sagbares sagen zu wollen.»6 Wie der Titel andeutet, wird so aus der Dramatisierung der Weihnachtsgeschichte eine Art religionshistorisches Dokumentarspiel, das ein breiteres Publikum anzusprechen vermag. An den formalen Experimenten des Neuen Hörspiels orientierte sich Walter Vogt in seinem parodistischen Montage-Hörspiel «Weihnachten mit „Herz „» (1972). Auch Willy Buser montiert in seiner O-Ton-Collage «Um d’Wiehnacht ume» (1973) Antworten verschiedener Personen in unterschiedlichen Lebenssituationen auf Fragen zum Thema «Weihnachten», strebt damit aber keine explizit religiöse Botschaft an. Ein traditionelles Worthörspiel ist Hugo Loetschers kleinbürgerliche Satire «D’Bschärig» (1977), die das Weihnachtsfest aus den unterschiedlichen Perspektiven von drei Generationen darstellt. Für Eltern und Kinder bedeutet es nur noch die Logistik des Warenaustauschs und damit verbundenen Stress. Hans Peter Treichler macht in «Tisch vier bis sibe: Personalwiehnachte» (1987) die Hauptfigur, die Serviertochter Denise, zu einer Art «Weihnachtsengel» von allerdings sehr profaner Ausprägung und bleibt damit auf dem Boden der sozialen Realität unter den besonderen, geschäftlichen Bedingungen der Festtagszeit. In diesen letzteren Produktionen ist das Thema «Weihnacht» vollständig und endgültig säkularisiert.

Osterspiele gab es im Radioprogramm ebenfalls, doch waren sie wesentlich seltener als Weihnachtsspiele. Die «Auferstehung» eines verstockten Berglers hat Arnold H. Schwengelers «Osternacht» (1952) zum Thema. Drei Jahre nach seiner Studie über die «Tage des Herodes» erhielt Manfred Schwarz den Auftrag für ein Oster-Hörspiel. Sein noch konsequenter historisch-politisches Werk «Wer schrie: kreuzige ihn!?» versah er mit dem vielsagenden Untertitel «Ein Hearing zum Karfreitags- und Ostergeschehen» (1968). Den informativen Kommentar des Autors zu dieser Produktion füge ich diesem Artikel in einem Anhang bei, da es sich eigentlich nicht um ein religiöses Hörspiel und schon gar nicht um ein Mysterienspiel handelt – vielmehr um einen diametralen Gegenentwurf. Silja Walter hingegen baute ihren Erstlingserfolg, der hier ausführlich besprochen wird, zu einer Mysterienspiel-Trilogie aus. Der zweite Teil hatte den Titel «Ich bin nicht mehr tot» (1974) und war dem Ostergeschehen gewidmet. Der dritte Teil «Der brennende Zeitvertreib» (1976) ist ein Pfingstspiel.

Das religiöse Hörspiel baut auf der langen Tradition des geistlichen Spiels auf, die bis ins frühe Mittelalter zurückreicht. Der Prozess der Säkularisierung, der, von ein paar Vorformen abgesehen, in den sechziger Jahren einsetzt, wurde in ein paar Varianten aufgezeigt. Im letzten Jahrzehnt des Jahrtausends scheint im Radioprogramm der Strom allmählich zu versiegen. Im «Repertoire» der gesendeten Hörspiele auf play SRF findet man bis heute noch Kinderhörspiele, aber kaum mehr neue Produktionen für Erwachsene mit entsprechender Thematik. Gelegentlich wird ein «Klassiker» wiederholt, so 2018 «In den Tagen des Herodes».

Silja Walter: «Die Scheol tanzt»

Als schweizerisches Beispiel für das «Hörspiel der objektivierten Innerlichkeit» soll hier Silja Walters (1919-2011) religiöses Erstlingshörspiel «Die Scheol tanzt» (1972) vorgestellt werden. Regie führte in dieser Zürcher Produktion Robert Bichler. Schon Ende der vierziger Jahre waren Gedichte der Autorin im Programm von Radio Beromünster vorgestellt worden.7 Wie bei anderen Schriftstellern ist es auch im Falle von Silja Walter erstaunlich, dass man erst 1972 auf die Idee kam, der seit langem aktiven Autorin den Auftrag zu einem religiösen Hörspiel zu geben, zumal für diese thematische Gattung im Programm seit Anbeginn ein regelmässiger Bedarf besteht. In ihren drei Hörspielen behandelt sie denn auch biblische Stoffe, die sie längst schon in Form eines Oratoriums und mehrerer Erzählungen gestaltet hatte.8 Zusammen mit dem Osterspiel «Ich bin nicht mehr tot» (1974) und dem Pfingstspiel «Der brennende Zeitvertreib» (1976), beides Auftragsarbeiten, bildet «Die Scheol tanzt» eine Mysterienspiel-Trilogie, die zumindest in der Geschichte des Deutschschweizer Hörspiels einzigartig ist. Parallel zu ihrer Hörspiel-Trilogie schuf Silja Walter, die seit 1948 als Benediktinerin im Kloster Fahr bei Zürich lebte, in den siebziger Jahren auch eine ganze Reihe von religiösen Bühnenstücken.

Das erste ihrer Mysterien-Hörspiele handelt von der Scheol, dem Ort, wo nach der Vorstellung der alttestamentlichen Juden die verstorbenen Gerechten weilen. In christlicher Sicht ist dies die Vorhölle, in die Jesus nach seinem Tod am Kreuz hinabstieg, um die dort Gefangenen in seine Auferstehung hineinzunehmen und sie zu neuem Leben zu erwecken. Zum Weihnachtsspiel wird «Die Scheol tanzt», indem die Autorin diese Erweckung auf den Zeitpunkt von Christi Geburt vorverlegt und «die Linie der Heilsgeschichte von dem Ereignis der Menschwerdung Gottes nach rückwärts und nach vorwärts hin» ausdehnt.9 In der Scheol sieht man die Schattenwesen vor dem Paradiestor hocken: «sie starren bloss vor sich hin. Sie können nicht durch das Engelsfeuer», das ihnen den Zugang versperrt. (S.12)10 Während Adam in dumpfer Resignation verweilt, ringt der Erzvater Jakob mit dem feurigen Scheol-Engel, dem Zornengel, «um die Gemeinschaft mit dem Gott der Verheissung»11. Der Prophet Jonas, stets auf Ruhe und Ordnung bedacht, weist ihn zurecht: «Wozu mit dem Engel kämpfen / du bist ja tot? / Du bist kein Mensch mehr! / In der Scheol gibt es keine Menschen mehr.» (S.26) Das Bindeglied zur Weihnachtsgeschichte verkörpert der Wirt, der Joseph und Maria nicht eingelassen, sondern ihnen einen Platz in seinem Schober angewiesen hat und kurz darauf vom Schlag getroffen wurde. Er versucht sein Handeln mit guten Gründen zu rechtfertigen, wird aber spürbar vom schlechten Gewissen und von Reue geplagt.

Adam, der überzeugt ist, Gott hasse die Menschen (S.27), ist die Figur Evas entgegengesetzt. Ihr innigster Wunsch ist es, wieder ein Mensch zu sein, was dem Kerngedanken des Hörspiels entspricht. Ihre zunehmende Sehnsucht wird zur Ahnung, dass ein Kind geboren werde, das «der Schlange den Kopf zertreten» (S.29) und damit ihren Sündenfall rückgängig machen werde. Daraus wird in der Mitte des Spiels ihre Gewissheit, dass Gott – sie spricht hier die Sprache des Hohelieds (2/8,9) – «über die duftenden Berge / gelaufen» komme «wie eine Gazelle».(S.34) Dem stummen Engel und ihrem griesgrämigen Mann hält sie den Satz entgegen: «Gott liebt den Menschen.» Von ihrem Glauben wird zuerst der Wirt angesteckt, den es in den Stall zu der Frau mit dem Kind treibt. Er bemerkt als erster, dass die Scheol angefangen hat sich zu drehen. Bald drehen sich auch schon die Tanzweiber vom Roten Meer mit der Prophetin Mirjam an der Spitze wie beim Exodus aus Ägypten, und der protestierende Jonas wird von König David beruhigt, der darauf seinerseits zu tanzen beginnt: Er «lacht hell, sein Tanz vor der Bundeslade bringt erneut sämtliche Gerechte in Hallel-Stimmung. Man hört nur sein Lachen und seinen Rhythmus», heisst es in einer Regieanweisung. (S.45) Die Scheol erscheint als tanzender «Wirbelstern» über dem Schober von Bethlehem (S.55) und zerplatzt in einem Blitz. Ein Engel verkündet die Geburt Jesu. Jonas setzt sich unter eine Rizinusstaude in Erwartung des Jüngsten Gerichts, das «über die Lasterhöhle Welt» hereinbrechen werde. (S.59) Eva dagegen frohlockt über die Geburt des Kindes, «das die Schlange zertritt.» (S.62) Am Schluss steht die frohe Botschaft vom Ende der Scheol:

«Man ist hineingerissen in die Gottesgeburt.
(Voll Schauer:)
Jetzt ist es Schluss mit dem Tod.
Schluss mit dem Tod!!
Gott hat uns hineingenommen, nimmt jeden herein,
weiter und weiter.
Will Mensch werden, und Mensch werden.
In jedem Menschen will er Mensch werden.
Man muss ihn bloss einlassen…
Er muss Gott bloss einlassen
dann wird er… wieder Mensch … der Mensch …» (S.63)

Silja Walter (1919-2011) bei der Arbeit am Computer
Bildquelle: © Kloster Fahr / Foto: Liliana Géraud

Zu einem aussergewöhnlichen Radiokunstwerk wird Silja Walters Weihnachtsspiel durch seine typenspezifische Struktur, durch seine sprachlich-stilistischen Qualitäten und durch die Integration von Wort, Musik und Geräusch. Die drei Aspekte sollen im Folgenden in dieser Reihenfolge behandelt werden.

»Die Scheol tanzt» kommt in struktureller Hinsicht Günter Eichs Hörspiel «Die Mädchen aus Viterbo» nahe. Wie in diesem Beispiel durchdringen sich zwei aufeinander bezogene Ebenen, deren eine als «psychische Projektion» betrachtet werden kann. Alles, was in und mit der Scheol geschieht, ist nämlich die Vision des Hirten Jussuf, der mit seinem Kameraden Josaphat in der Christnacht auf dem Feld vor Bethlehem Schafe hütet. Die beiden unterhalten sich über den Wirt, der das fremde Paar nicht eingelassen hat. Danach wendet sich das Gespräch der Scheol zu, wo dem Wirt seinerseits der Einlass ins Paradies verwehrt sein wird, wie Jussuf, der zweite Hirt, mit Befriedigung feststellt. Er legt sich ans Feuer, um sich das auszudenken: «Wenn man sich hinlegt und sich das ausdenkt, / dann sieht man es.» (S.12) Am Ende der zweiten Szene heisst es in einer Regieanweisung:

«(jetzt denkt er
sich alles weiter
aus, man hört, was
er sich ausdenkt.)» (S.16)

Das hat seine Entsprechung im typenverwandten «Hörspiel der phantastischen Realität», wo aber explizite Hinweise auf eine Objektivierung innerer Wirklichkeit in der Regel fehlen. Der Satz: «Man muss sich das vorstellen» in Jürg Amanns Kurzhörspiel «Der Sprung ins Wasser» (1982) ist eine Redensart, die nur in übertragener, hintergründiger Bedeutung ausdrückt, was die beiden Hirten in Silja Walters Spiel wiederholt offen benennen.

Zunächst reden die beiden weiter über die Zustände in der Scheol und nennen die Namen all der Schatten, die dort auf Einlass warten. Danach hört man in szenischer Darstellung, was sich der zweite Hirt «über die Scheol alles ausdenkt» (S.16). Als der Wirt Adam und Eva mit Joseph und Maria verwechselt, muss Jussuf über diesen Irrtum lachen. Bald darauf schaltet er sich wieder ein, um den Wirt zu schelten, weil dieser nicht aufhören will, Fragen über seinen Aufenthaltsort zu stellen. In der Regieanweisung heisst es: «Der zweite Hirt hat das in die Nacht hinausgeschrien, er hat eben alles lebendig erlebt, am Wachefeuer auf dem Feld.» (S.19) Dem Propheten Jonas gibt er gewissermassen seinen Einsatz, indem er ihm den ersten Satz vorspricht:

«[…] Der kritisiert natürlich alles
in der Scheol.
Propheten kritisieren alles.
Er kritisiert auch den Erzvater Jakob.
Er sagt: Wozu mit dem Engel kämpfen
du bist ja tot…?
(Er bläst wieder etwas für sich und denkt sich weiter alles aus.)
Jonas:
Wozu mit dem Engel kämpfen
Du bist ja tot?
Du bist kein Mensch mehr.
In der Scheol gibt es keine Menschen mehr.
Wirt: Wer sagt das?
Wer sagt: keine Menschen mehr?
Jonas: Man führt ein Schattendasein.» (S.25 f)

Kurz danach unterbricht der zweite Hirt wieder das Gespräch, um Josaphat zu berichten, was er gesehen und gehört hat. Darin zeigt sich zum einen, dass seine Vision nur für ihn sinnlich wahrnehmbar ist, zum andern aber auch, dass sie sich zunehmend verselbständigt und ihn über das Gesehene staunen macht. Gelegentlich scheint ihm dies so «wunderwunderschön» (S.47), dass er sich kaum zu fassen weiss.

«Zweiter Hirt: Weisst du was?
Erster Hirt: Was?
Zweiter Hirt: Die in der Scheol sind bloss noch Schatten.
Man ist kein Mensch mehr.
Sie wollen aber keine Schatten sein.
Eva sagt: Auf keinen Fall,
ich will, ich will ein Mensch sein!» (S.26 f)

Worauf Eva nach obigem Muster mit diesem Satz das Wort an ihren Mann richtet. Gelegentlich mischt sich Jussuf auch nur mit einer kurzen Bemerkung in den Dialog seiner Figuren ein und begibt sich damit selbst auf die Ebene seiner Vision. Umgekehrt muss er über die Vorstellung, dass der grosse König David einst ein Schafhirte in Bethlehem gewesen sei, «so lachen dass ihm die Gedanken zerplatzen» (S.40) und die Szene abbricht. In der letzten Szene sehen beide Hirten einen grünen Stern über dem Schober, in dem Joseph und Maria Obdach gefunden haben, und Jussuf kommt auf die Idee, dieser müsse die tanzende Scheol sein. Darauf sieht Josaphat, dass der Stern tanzt und wirbelt, und auch die Schafe «glotzen». Josaphat, der zuvor nur Fragen gestellt und den Berichten seines Kameraden gelauscht hat, schildert nun in grosser Aufregung, wie ein ganzes Dutzend Wirbelsterne in den einen grossen hineingerissen werden, der auf den Schober herunterfällt. Jussuf stellt verblüfft fest, dass er von seinen Figuren umgeben ist und versucht dem Wirt klarzumachen: «Du bist aber nicht wirklich da, / Wirt, glaub nur das nicht. / Du bist bloss ausgedacht!» (S.57 f)

Nach der Verkündung der Weihnachtsbotschaft durch einen Engel stellt Josaphat fest, dass Jussuf wie tot am Boden liegt. Doch dieser spricht im Folgenden mit Eva, die ihm klarmacht, dass Gott tote wie lebende Menschen hineinreisse in seine Geburt. Darauf erwacht er «aus seiner Betäubung» (S.62) und gibt, da Josaphat sich entfernt hat, die Botschaft weiter an das jüngste seiner Tiere. In der gedruckten Fassung ist eine Variante des Schlusses weggelassen, die Silja Walter im Manuskript skizziert hat, die aber auch in der Produktion von 1972 konsequenterweise nicht realisiert wurde. Die Autorin stellte es in dieser Fassung der Regie frei, den ersten Hirten zurückkommen und über das Neugeborenen berichten zu lassen: «[…] ein gewöhnliches Kind zum Ansehen, Engel seien keine mehr da […]» (S.58), doch scheint dies bloss als Notlösung gedacht zu sein: «Um das Ganze wieder in die Vordergründigkeit heraufzuholen.»

Eich zeigt durch die Objektivierung der inneren Realität in seinen Hörspielen die Identität von einander fernstehenden Menschen in ganz verschiedenen, konträren Lebenssituationen. Wenn der jüdische Grossvater am Ende seine Verfolger freudig begrüsst wie die italienischen Mädchen ihre Retter, so stellt sich angesichts dieses Zusammenfallens von Glück und Unglück die Grundfrage nach dem Sinn menschlicher Existenz.12 Es ist sicher kein Zufall, dass Silja Walter das Strukturprinzip der «objektivierten Innerlichkeit» für ihr Hörspiel gewählt hat, das auf religiöser Ebene dieselbe existentielle Frage behandelt. Aber Eich hält die Bereiche der empirischen Realität und des Traums auseinander, in «Die Mädchen aus Viterbo» von Anfang an, in «Die Andere und ich», indem das Leben der Camilla am Schluss als Halluzination erkennbar wird. In dieser Konzeption wirkt die Objektivierung aufgrund der realistischen Darstellung der Traumebene bloss stark irritierend auf den Zuhörer. Im Unterschied dazu nähern sich reale und visionäre Ebene in Silja Walters Hörspiel einander immer mehr an, was sich vor allem in den Beobachtungen und Reaktionen des ersten Hirten und im Verzicht auf die vordergründige Schlussvariante zeigt. Damit wird die Wirklichkeit des anfänglich bloss Ausgedachten behauptet, was eine bedeutsame Veränderung des Grundmusters dieses Hörspieltypus darstellt.

Der Grund, aus dem solches Dichten hervorgeht, ist das klösterliche «Silentium», das nach Silja Walters Empfinden «sozusagen den ganzen Menschen innerlich» stilllegt13, das aber im Gegenzug innere Stimmen und Bilder hervorruft, die der besonderen, inneren «Bühne» des literarischen Worthörspiels ganz und gar entsprechen. Im religiösen Hörspiel kommt das Hörspiel der fünfziger Jahre, das in seiner Blütezeit von einer nahezu sakralen Aura umgeben war, zu sich selbst. Hier wird der Mensch im eigentlichsten Sinn von Schwitzkes Formulierung «als homo religiosus ernst genommen»14. Dagegen ist, wenn man den traditionellen theologischen Standpunkt teilen will, nichts einzuwenden. Günter Eich hat sich im letzten seiner «klassischen» Hörspiele allerdings für die Gegenposition entschieden, indem er seinen Märtyrer Festianus auf das Paradies der Gerechten verzichten und aus Solidarität mit den leidenden Verdammten die Hölle vorziehen liess. Dieses Grundproblem kommt bei Silja Walter nicht in Sicht.

Das Schliessen der Lippen und der Augen gehört beides zur Grundbedeutung des Begriffes Mystik. Silja Walters Spiel geht über das spiritualistische Einswerden mit Gott hinaus. «Du liebst mich, / du bist der Geliebte des Menschen», ruft Eva aus. (S.38) Ihr Hohelied der Liebe zwischen Gott und Mensch zeugt von Einflüssen einer religiösen Erotik, wie sie in mystischen Strömungen des späten Mittelalters wirksam waren. Dem entsprechen auch die Figuren Mirjams und der Tanzweiber sowie die des tanzenden Königs David, die alle als weltlich-sinnliche Gestalten gezeichnet sind. Im Zentralmotiv des Tanzes verbirgt sich ein ekstatisch-orgiastisches Moment, dem sich Jonas, die Verkörperung des Orthodoxen, mit seiner ganzen Kraft, aber vergeblich entgegenstemmt. In seiner Widerlegung und in der Spielverderber-Rolle Adams scheint sich mehr als ein Körnchen Kritik an den «Herren der Schöpfung» zu verbergen. Diesen negativen männlichen Figuren stehen aber nebst David die Figuren des Wirts und der beiden Hirten gegenüber. Der reuige Sünder sehnt sich wie Eva danach, als Mensch wieder an den Freuden des Lebens teilzuhaben. Und die einfachen Hirten, «Laien» wie er, haben als Urheber der Scheol-Vision gar ebenso viel Gewicht wie die Hauptfigur Eva. Sie stehen trotz ihrer produktiven Phantasie mit beiden Beinen auf dem Boden des Diesseits und repräsentieren damit eine der mystischen Tendenz entgegengesetzte Kraft, die für das «Hörspiel der objektivierten Innerlichkeit» nicht minder typisch ist.

Wie auch die anderen Mysterienspiele von Silja Walter bewegt sich «Die Scheol tanzt» trotz unkonventioneller Ansätze durchaus noch im Rahmen der traditionellen Theologie. Enrico Caminati zeigt anhand des Osterspiels «Ich bin nicht mehr tot» (1974), wie die Autorin der von Kurt Marti aufgezeigten «Inflation christlich-ideologischer Parolen […], welche den Bezug zum Weltprozess, zur Wirklichkeit verloren haben»15, entgegenzuwirken versucht. Auch die Figuren ihres ersten Hörspiels werden durch ihre je eigene Sprache zu lebendigen Charakteren, die sich von der biblischen Überlieferung unabhängig entwickeln. In der Gestalt Evas wird dies nur am deutlichsten offenbar. Ihre Sprache erreicht dichterische Ausdruckskraft, wenn sie in ihrem einseitigen «Dialog» mit dem Engel Gott preist:

«Er kommt über die duftenden Berge gelaufen
zum Menschen,
wie eine Gazelle
im Frühling über die Balsamberge,
wenn alles voll ist vom Duft der Reben
und die wilden Tauben rufen
in den Ritzen,
im Gestein.» (S.34)

In der Anlehnung an die Bildlichkeit des Hoheliedes wird darin zugleich die Verwurzelung in der überlieferten Sprache der Schrift hörbar. Im Ton eines Busspredigers dagegen der gestrenge Jonas:

«Ruhe!!!
Fürchtet den Zorn des Herrn,
er wird uns alle zermalmen!
Man gehe in sich!
Man setze sich in Asche!
Man weine!» (S.45)

In krassem Gegensatz zur elaborierten Sprache der alttestamentlichen Figuren stehen die Dialoge der einfachen Leute, der Hirten und des Wirts, deren naives Frage- und Antwortspiel eine radiogene «Didaktik» in durchaus positivem Sinn entfaltet. In Fragmenten sprechend, bringen sie schrittweise durch Aneinander-Vorbeireden und allmähliches Füllen der Lücken einen Gedanken auf den Punkt:

«Erster Hirt: Der Wirt hat sie nicht eingelassen.
Zweiter Hirt: Wer?
Erster Hirt: Der Wirt!
Zweiter Hirt: Hat wen nicht eingelassen?
Erster Hirt: Alles besetzt, sagt er.
Zweiter Hirt: Der hat doch Platz!
Erster Hirt: Die Frau erwartet etwas.
Zweiter Hirt: Was?
Erster Hirt: Ein Kind.
Zweiter Hirt: Hat sie nicht eingelassen?
Erster Hirt: Hat gesagt, der Schober ist noch frei.
Zweiter Hirt: Ein Schwein so einer!
Erster Hirt: Da sind sie in den Schober
Zweiter Hirt: Wer?
Erster Hirt: Der Mann und die Frau
Zweiter Hirt: Wenn der stirbt…
Erster Hirt: Wer?
Zweiter Hirt: Der Wirt!
Erster Hirt: Immerhin hat er gesagt…
Zweiter Hirt: Was immerhin?
Erster Hirt: Er hat immerhin gesagt, ihr könnt in den Schober!
Zweiter Hirt: Was dann, wenn der aber stirbt?
Erster Hirt: Kommt er in die Scheol
Zweiter Hirt: Wo ist die Scheol?
Erster Hirt: Weiss nicht. Blas doch etwas!» (S.7 ff)

Die lebendige Umgangssprache der beiden Figuren, die so zwischen der biblischen Botschaft und den Zuhörenden vermitteln, trägt Wesentliches bei zum qualitativ hohen Rang dieses Hörspiels. Dank dieser wirkungsvollen Methode, die Zuhörenden zu führen, gelingt es, ihnen philosophisch-theologisch schwierige Gegenstände nahezubringen. Daneben enthält der Text allerdings auch Relikte des von Marti kritisierten «inflationären» Jargons sowie symbolische und allegorische Elemente, die das Verständnis unnötig erschweren. Die Anspielungen auf den Exodus (S.43) etwa oder das «Mädchen mit zwölf Sternen im Haar, / und die Sonne um sich» (S.53) setzen einiges an Bibelfestigkeit voraus. Sicher gilt für Silja Walters Mysterienspiele im Hinblick auf ihre inhaltliche Hermetik, was oft von Hörspielproduktionen im Grenzbereich zwischen Sprache und Musik gesagt wurde: dass sie sich nur dem aktiv Hinhörenden und auch diesem wohl nur nach mehrmaligem Hören vollständig erschliessen. Fraglich ist, ob man erwarten soll, dass ein solches Spiel «den Massenmenschen im Zeitalter der Technik […] ansprechen» kann.16

«Die Scheol tanzt» dürfte eines der ersten Schweizer Hörspiele aus neuerer Zeit sein, das mit einem permanenten, wenn auch zumeist sehr diskreten Geräusch- bzw. Musikhintergrund versehen ist. Die Dramaturgie des literarischen Worthörspiels hatte diese Praxis als störend und veraltet abgelehnt und war schon früh dazu übergegangen, «eine Geräuschkulisse kurz nach Beginn der Handlung auszublenden, nur an entscheidenden Stellen und am Szenenende wieder einzublenden, und sich im Übrigen auf die miterlebende Erinnerung des Hörers zu verlassen.»17 Diese Auffassung wurde auch während der «Abteilungsperiode» und auch von Regisseuren einer jüngeren Generation vertreten.18 Für Schwitzke gibt es im Hörspiel «keine Musik ohne eine Handlungsfunktion und kein Geräusch ohne eine Sinnfunktion für den thematischen Zusammenhang.»19 Bei der Mehrzahl aller Fälle habe die Musik die Funktion kurzer «klingender Interpunktionszeichen». Gegen die Degradierung der Musik zu solchen «Spielartikeln» wehrten sich seit Ende der sechziger Jahre Komponisten als Vertreter einer Richtung des Neuen Hörspiels. In Silja Walters Hörspiel werden Geräusch und Musik zwar auch auf traditionelle Weise funktional verwendet, aber nicht nur. In erster Linie dienen sie der unmerklichen Separierung der Spielräume bzw. Realitätsebenen. Die Gespräche der Hirten sind alle mit leisem Rauschen des Windes unterlegt, das 1972 wohl auf dieselbe Weise erzeugt wurde wie schon anno 1931 für die Live-Sendung von Paul Langs «Nordheld Andrée». Man verwendete dazu ein Aeoliphon, eine Windgeräusch-Maschine, wie sie im Theater seit alters her gebrächlich ist und im Studio Zürich noch Ende der achtziger Jahre zu sehen war, bestehend aus einem breiten Band aus Taft oder Seide, das durch die Reibung an einer mit Bürsten besetzten, von Hand bewegten Trommel ein sausendes Geräusch verursacht. Windgeräusche in Originaltonaufnahme machen sich bloss als Störung bemerkbar. Ausser dem Sausen des Windes ist ganz selten während der Gespräche der Hirten auch ein blökendes Schaf zu hören.

Verwendung einer Windmaschine beim finnischen Radio (Helsinki, 1949)
Quelle: Wikipedia / Yle Archives – Yle Elävä arkisto

Für die musikalische Gestaltung war George Gruntz verantwortlich, der nicht zu den Routiniers unter den Schweizer Hörspielkomponisten gehörte. Experimentelle Erfahrungen mit dem Medium Radio hatte er etwa ein Jahr zuvor schon gemacht, als er die Psychomusik-Improvisationen für eine Produktion von Paul Pörtner leitete. Gruntz verwendete als Grundton für alle Dialoge, die in der Scheol geführt werden, feine Glasharfenklänge, die sich in Charakteristik und Intensität nur unmerklich vom Geräusch des Windes unterscheiden. Die Übergänge fallen dadurch kaum auf und werden durch Überlappung der beiden Hintergründe teils zusätzlich verwischt. Diese dauernde Untermalung durch Geräusch und musikalischen Klang entspricht der Intention der Autorin, die sich auch explizit im Text äussert: Eva sagt vom Engel, er stehe «bloss da und brennt / und saust so» (S.35), und in einer Bemerkung zum Ende einer Szene heisst es, man höre «nur das Sausen des brennenden Engels wie Musik.» (S.31) Der zweite Hirt vernimmt vor dem Zerplatzen der Scheol ein durchdringendes Summen. (S.59) Durch diese Verknüpfung mit dem Text erhält der akustische Hintergrund einen symbolischen Sinn wie das singende Wasser in Silja Walters Osterhörspiel, das als das Fliessen des ewigen Lebens zu deuten ist.20 Das entspricht auch genau dem Kerngedanken des Weihnachtshörspiels. Interessant ist, dass die Botschaft hier fein differenziert wird und je nach Perspektive entweder als Geräusch oder als musikalischer Klang wahrgenommen wird. Durch dauernde Überlagerung der beiden akustischen Hintergründe wird in der Schlussszene auf unauffällige Art auch das Ineinanderfliessen der beiden Realitätsebenen wahrnehmbar gemacht. Musik und Geräusch sind in dieser Verwendung nicht mehr bloss Funktionen der Handlung, sondern integrierende Bestandteile eines Ganzen. Darin zeigt sich ansatzweise die Auffassung von Komponisten, die als Hörspielmacher aktiv wurden, doch gehen diese in der Regel vom Bereich der Musik aus, während in Silja Walters Hörspiel doch das Wort den Primat hat.

«Die Scheol tanzt» wurde in monophoner Technik aufgezeichnet, was 1972 noch der Regel entsprach. Die Eindimensionalität dieses traditionellen Verfahrens stellt aber in diesem Fall keinen Mangel dar, sondern entspricht der Aussageabsicht des Werkes genau, da dem Hörer so beide Realitätsbereiche, die der Hirten auf dem Feld und die der Scheol, nicht als getrennt erscheinen, sondern akustisch an einem Ort zusammenfallen. Im Unterschied zu einem «Hörspiel des inneren Monologs» wie «Salsomaggiore» (1984), das mittels des Kontrastes zwischen Monophonie und Kunstkopfstereophonie die Dreidimensionalität des Raumes in der dramaturgischen Absicht betont, die subjektive Perspektive des wahrnehmenden Ich hörbar zu machen, geht es ja in einem «Hörspiel der objektivierten Innerlichkeit» darum, den subjektiven und den objektiven bzw. objektivierten Bereich als gleichwertig erscheinen zu lassen. Silja Walters Mysterienspiel stösst insofern bis an die Grenze dieses Typus vor, als beide Bereiche hier einander bis zur Auflösung der Grenze angenähert werden. Bliebe diese nicht trotzdem noch erahnbar, so müsste man wohl bereits von einem «Hörspiel der poetischen oder phantastischen Realität» sprechen, wo die «Autoren» diese Grenze überschreiten und sich in den Bereich ihrer Objektivierung begeben, etwa im Falle von Dürrenmatts Hörspiel «Der Doppelgänger». Diesem Typus gehören die beiden anderen Hörspiele von Silja Walters Trilogie an. «Ich bin nicht mehr tot» (1974) geht auch insofern einen Schritt weiter als das Weihnachtshörspiel, als sich hier ein Automobilist des 20. Jahrhunderts in das biblische Spiel verirrt. «Der brennende Zeitvertreib» (1976) handelt von einem geistesgestörten Menschen unserer Zeit, der mittels einer imaginären Maschine die Zeit überwindet und zum Leidensgefährten des gekreuzigten Christus wird.

Eingefleischte Atheisten und jene, die nur den Gott der Philosophen gelten lassen, werden sich durch Silja Walters Mysterienspiele nicht zum Christentum bekehren lassen, aber die Ästheten unter ihnen werden in ihrem Hörspiel «Die Scheol tanzt» trotzdem ein Radiokunstwerk erster Güte erkennen. In der Reihe religiöser Hörspiele, die bis auf die ersten radiodramatischen Produktionen zurückgeht, ist es sicher die formal eigenständigste Leistung und inhaltlich jenseits dogmatischer Tendenz und fundamentalistischer Frömmelei. In einzelnen Figuren äussert sich wie gezeigt sogar Kritik an patriarchalischer Verhärtung, andere transzendieren etablierte klerikale Rollenbilder und Strukturen in freier Weise. «Die Scheol tanzt» ist keine der üblichen Nacherzählungen der Weihnachtsgeschichte, sondern kühne Zusammenschau alt- und neutestamentarischer Motive, eine dichterische Vision und Neu-Interpretation, die den Anhängern des griesgrämigen Jonas keineswegs gefallen kann.

* * *

Anhang:
Manfred Schwarz: «Wer schrie: kreuzige ihn!? Ein Hearing zum Karfreitags- und Ostergeschehen»

Sein Konzept der religionsgeschichtlichen und politischen Aufarbeitung des biblischen Heilsgeschehens perfektionierte Manfred Schwarz in seinem Oster-Hörspiel «Wer schrie: kreuzige ihn!?» (1968), diesmal im Auftrag der Abteilung «Dramatik» von Radio DRS. Es wurde wenig später vom Bayerischen Rundfunk und von Radio de la Suisse Romande übernommen und im Lauf der Jahre von Radio DRS wiederholt ausgestrahlt.

Die folgenden Ausschnitte dokumentieren die Präsentation des Hörspiels im Programm-Bulletin der Hörspielabteilung:

«Der bereits bekannte Autor hat in unserem Auftrag ein neues Hörspiel geschrieben. Er bedient sich der Form des Hearings und stellt einem Frager aus der heutigen Zeit die historischen Figuren des Ostergeschehens gegenüber. Es ergibt sich eine religionsgeschichtliche und machtpolitische Auseinandersetzung von überraschender Aktualität und Härte.»21

Manfred Schwarz war 1965–87 Redaktor und Sprecher der Tagesschau des Schweizer Fernsehens DRS. Dass er als Insider des Mediums auf die Form des Hearings kam, ist sicher kein Zufall, sind doch journalistische Recherchetechniken der politischen «Anhörung» nah verwandt. Den Entstehungsprozess seines Hörspiels kommentiert er folgendermassen:

«Wer schrie? Welcher Art waren die Schreier? Warum schrien sie? Und schliesslich die Hauptsache: wer war er, den sie ans Kreuz schrien?
Am Stoff verzweifeln ist zu irgendeinem Zeitpunkt des Arbeitsprozesses ein normaler Vorgang für jeden, der schreibt. Ungemütlicher wird es, wenn die Verzweiflung bereits beim Zusammensuchen der nötigen Unterlagen für ein halbwegs historisches Stück einsetzt. Je mehr einer zum Beispiel über das Passionsgeschehen an Passah 32 liest, desto deutlicher wird ihm die geschichtliche Nicht-Erfassbarkeit des Nazareners. Die einzige Geschichtlichkeit Jesu ist sein Tod. Die Figuren rund um Jesus in diesen Tagen sind von den Evangelisten gezeichnet und zweifellos tendenziös verzeichnet: absichtlich verharmlost der römische Prokurator Pilatus, verteufelt der Hohepriester Kaiphas, vermiest Judas, der Verräter. Es ist deshalb kein Wunder, wenn die Figuren rund um die Passion Christi immer wieder zu neuen Deutungen verlocken. Ein Beispiel: Judas. Vom kleinen schmutzigen Verräter bis zum eigentlichen Helden und Märtyrer des Ostergeschehens wurde schon alles in die Rolle des Judas hineingelesen. Ich nahm deshalb Judas für den, der er heute ist: den Vielgedeuteten. Ich bemühte mich auch, der Versuchung auszuweichen, Pilatus oder Kaiphas in die Zwangsjacke des Vorurteils zu stecken. Die Verzweiflung über das Fehlen eindeutiger Fakten liess mich in der eigentlichen Arbeit schliesslich das tun, was ich mir als Vorarbeit gedacht hatte ursprünglich: ich stellte Fragen. Ich organisierte eine Art Hearing. Das Hörspiel ist somit nichts anderes als die Summe der Verzweiflung am nichtfassbaren Stoff.

Zwangsläufig stellte sich bald einmal die Gegenfrage: Warum fragen wir im 20. Jahrhundert noch immer nach dem, was um Passah 32 in Jerusalem angeblich geschah, wo wir doch rational zum Ostergeschehen kein ehrliches Verhältnis mehr finden? Vor diesem Jesus von Nazareth und nach ihm starben ja auch andere für irgendeine Überzeugung. Nach diesen fragen wir nicht. Warum fragen wir noch immer nach ihm? Die Antwort darauf ist möglicherweise eben nicht bloss eine Glaubensangelegenheit, sondern eine Sache der persönlichen Entscheidung. Darüber hinaus bleibt die Frage nach den Schreiern immer aktuell.»22

 «Dieses Hearing zum Ostergeschehen erschien vor zwei Jahren in unserem Programm und fand damals, wie auch bei einer Übernahme durch den Bayerischen Rundfunk, ein ganz ungewöhnliches Interesse.»23

 «“Wer schrie: Kreuzige ihn!?“, das als Auftrag für die Abteilung Dramatik und Feature entstand, wurde im vielfältigen Hörspielschaffen von Manfred Schwarz zu einem grossen Erfolg. Übernahmen von verschiedenen ausländischen Sendern und von Radio de la Suisse Romande lösten bei der Wiedergabe überall grosses Echo aus.»24

  1. -e-, Ein Weihnachtsspiel. Zum Hörspiel der »Freien Bühne« am 24.Dezember, in RP 51/26, S.855 ↩︎
  2. Anonym, «Hörspiele zu Weihnachten», in: SRZ, 51, 56, S.13 ↩︎
  3. Anonym, «Hörspiele an Weihnachten», in: SIRZ 49/32, S.1554 ↩︎
  4. id., «Das Weihnachtsspiel von Ida Frohnmeyer», in: SIRZ 52/32, S.1659 ↩︎
  5. Pgr 3/79, S.18 ↩︎
  6. Manfred Schwarz, in: r+f 51/65 ↩︎
  7. vgl. SIRZ 11/49, S.11 ↩︎
  8. Walter, Silja, Es singt die Heil’ge Mitternacht, Weihnachtsoratorium, Zürich (Arche) 1956; Die hereinbrechende Auferstehung. Ostererzählung, ib., 1960; Beors Bileams Weihnacht. Erzählung, ib., 1961; Sie warten auf die Stadt. Pfingsterzählung, ib., 1963 ↩︎
  9. Ringseisen, P., Nachwort, in: Walter, Silja, Die Scheol tanzt. Weihnachtshörspiel, Zürich (Arche) 1973, S.65 ↩︎
  10. Die Seitenangaben zum Hörspieltext beziehen sich auf die Buchausgabe. ↩︎
  11. Ringseisen, P., Die Scheol tanzt. Hörspiel von Silja Walter, in: tvrz 51/72, S.64 ↩︎
  12. vgl. Frank, Armin P., Das Hörspiel. Vergleichende Beschreibung und Analyse einer neuen Kunstform, durchgeführt an amerikanischen, deutschen, englischen und französischen Texten, Heidelberg (Winter) 1963, S.165 ↩︎
  13. zit. nach: Caminati, E., «Wenn man auferweckt ist, ist die Zeit weg». Silja Walters Osterspiel «Ich bin nicht mehr tot», in: NZZ, 13.9.74 ↩︎
  14. Schwitzke, Heinz, Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1963, S.203 ↩︎
  15. Marti, Kurt, zit. nach: Caminati, 1974 ↩︎
  16. Caminati, 1974; Caminati wendet dies kritisch gegen das Osterspiel «Ich bin nicht mehr tot» ein. ↩︎
  17. Frank, 1963, S.135 ↩︎
  18. z.B. in der Realisierung von Lukas Hartmanns Hörspiel «Auf dem Scherbenberg» (1986) durch Charles Benoit ↩︎
  19. Schwitzke, 1963, S.228 ↩︎
  20. vgl. Caminati, 1974 ↩︎
  21. Pgr 1/68; Produktionszettel ↩︎
  22. Manfred Schwarz, in: r+f 14/68 ↩︎
  23. Pgr 1/70, S.14 ↩︎
  24. Pgr 1/83, S.15 ↩︎

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